Skip to main content
Erschienen in:
Buchtitelbild

Open Access 2024 | OriginalPaper | Buchkapitel

8. Schlussfolgerungen

verfasst von : Tamara Bosshardt

Erschienen in: Geld, Generation und Ungleichheit

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

Aktivieren Sie unsere intelligente Suche, um passende Fachinhalte oder Patente zu finden.

search-config
loading …

Zusammenfassung

Soziale Ungleichheiten in der Kindergeneration lassen sich zu einem grossen Teil auf soziale Ungleichheiten in der Elterngeneration zurückführen. Das Badewannenmodell der soziologischen Makro-Mikro-Makro-Erklärung führt diesen makrostrukturellen Zusammenhang auf das beobachtbare Handeln von Akteuren auf der Mikroebene zurück. Die vorliegende Arbeit widmet sich einem der Mechanismen, die zur Reproduktion der Ungleichheiten beitragen; sie analysiert aktuelle finanzielle Transfers zwischen Erwachsenen und ihren Eltern in der Schweiz.
Soziale Ungleichheiten in der Kindergeneration lassen sich zu einem grossen Teil auf soziale Ungleichheiten in der Elterngeneration zurückführen. Das Badewannenmodell der soziologischen Makro-Mikro-Makro-Erklärung (siehe Abbildung 1.​1 in Kapitel 1) führt diesen makrostrukturellen Zusammenhang auf das beobachtbare Handeln von Akteuren auf der Mikroebene zurück. Die vorliegende Arbeit widmet sich einem der Mechanismen, die zur Reproduktion der Ungleichheiten beitragen: Sie analysiert aktuelle finanzielle Transfers zwischen Erwachsenen und ihren Eltern in der Schweiz. Genauer geht sie den Fragen nach, welche Bevölkerungsgruppen mehr oder weniger Transfers leisten und erhalten, welche Faktoren Unterschiede im Transferverhalten erklären und wie sich finanzielle Transfers zwischen Generationen auf Ungleichheitsstrukturen in der Kindergeneration auswirken.
Die theoretische Perspektive kombiniert Überlegungen aus der Ungleichheits- und Familiensoziologie mit Theorien zur Erklärung von solidarischem Handeln und kumulativen Prozessen. Damit führt die theoretische Auseinandersetzung bisher unverbundene Theoriestränge zusammen. Gemeinsam legen sie den theoretischen Grundstein für den folgenden empirischen Dreischritt der soziologischen Erklärung finanzieller Transfers zwischen Familiengenerationen. Auch die empirischen Auswertungen gehen über die bisherigen Untersuchungen zu finanziellen Transfers in der Schweiz hinaus. Mit dem SwissGen Datensatz liegt eine umfassende Datengrundlage zur Erforschung von Generationenbeziehungen in der Schweiz vor. Erstens ermöglicht SwissGen die Analyse beider Transferrichtungen; von Eltern an Kinder und von Kindern an Eltern. Zweitens werden auch Generationenbeziehungen zwischen erwachsenen Kindern und im Ausland lebenden Eltern erfasst. Zuletzt bietet die repräsentative Stichprobe ausreichende Fallzahlen, um intersektionale Verschränkungen ungleichheitsrelevanter Merkmale empirisch in den Blick zu nehmen.

8.1 Situation: Ungleichheits- und Familienstrukturen

Die Analyse der Situation (siehe Abbildung 1.​1 in Kapitel 1) umfasst eine theoretische Auseinandersetzung mit Ungleichheits- und Familienstrukturen. Es wurde festgestellt, dass soziale Prozesse bestimmte Ungleichheitsdeterminanten mit ungleichen Verteilungsergebnissen in verschiedenen Ungleichheitsdimensionen verknüpfen. Welche Merkmale zu Determinanten sozialer Ungleichheiten werden ist historisch kontingent. In der gegenwärtigen Gesellschaft sind für ökonomische Ungleichheiten insbesondere die Zugehörigkeiten zu Nation und Schicht sowie die Dimensionen Geschlecht und Alter relevant. Während Unterschiede nach Nation und Schicht zwischen Familien bestehen, treffen in Familienbeziehungen Personen verschiedener Geschlechter und Altersgruppen aufeinander.
Innerhalb der Familiensysteme werden Leistungen erbracht, von denen die Familienmitglieder und andere gesellschaftliche Systeme profitieren. Dazu gehören die biologische und soziale Reproduktion, sowie die Sozialisation und die Statuszuweisung in der gesellschaftlichen Hierarchie. Die Leistungserbringung erfolgt über das Zusammenspiel verschiedener Solidaritätsdimensionen. Das Geben und Nehmen von Geld und materiellen Zuwendungen gehört neben dem Austausch von Zeit und Raum zur funktionalen Solidaritätsdimension. Das Ausmass an funktionaler Solidarität zwischen Generationen hängt jedoch auch von den Ausprägungen der anderen Dimensionen ab.
Über die Lebensspanne verändern sich die Lebensumstände und damit die Ressourcen und Bedürfnisse der Familiengenerationen. So stehen in verschiedenen Lebensphasen unterschiedliche Leistungen im Fokus der Solidaritätsgemeinschaft Familie. Das erste empirische Kapitel zielte darauf ab, die Kontexte von finanziellen Transfers zwischen Generationen – genauer – die Opportunitäten und Bedürfnisse sowie die Beziehungsstrukturen der befragten Erwachsenen und ihrer Eltern zu beschreiben. Darüber hinaus wurden die familialen und gesellschaftlichen Strukturen dargestellt, in welche die untersuchten aktuellen Transfers zwischen Familiengenerationen eingebettet sind.
Die Analyse der Ungleichheitsstrukturen zeigt, dass es sowohl den meisten befragten erwachsenen Kindern als auch deren Eltern finanziell gut oder sogar sehr gut geht. Allerdings zeigen sich in verschiedenen Bevölkerungsgruppen grosse Unterschiede. Am besten geht es hoch gebildeten Eltern und Kindern, die keine Migrationserfahrung gemacht haben. Väter haben ausserdem eine etwas bessere finanzielle Lage als Mütter. Für die Kindergeneration liegen neben der Einschätzung der Finanzlage auch Informationen zum Vermögen vor: Auch hier sind höher Gebildete und Personen ohne Migrationserfahrung privilegiert. Die zweite Migrationsgeneration nimmt bei Finanzlage und Vermögen jeweils eine mittlere Position ein. In der Kindergeneration schätzen Töchter ihre Finanzlage etwas besser ein als Söhne, sie geben gleichzeitig aber ein etwas tieferes Vermögen an. Im Gegensatz zur Elterngeneration scheint es in der Kindergeneration folglich weniger Ungleichheiten nach Geschlecht zu geben.
Da Beziehungen zu lebenden Eltern untersucht werden, beschränken sich die Auswertungen auf 18- bis 65-Jährige Befragte. In dieser Altersspanne lassen sich drei Phasen erkennen. Im jungen Erwachsenenalter – zwischen 18 und 35 Jahren – leben meist beide Eltern noch. Relevante Passagen sind der Abschluss der Ausbildung und der Auszug aus dem Elternhaus. Die Wohndistanzen nehmen zu, Kontakte und praktische Hilfe werden seltener. In der mittleren Phase zwischen 35 und 49 Jahren versterben die ersten Elternteile – meist zuerst die Väter. In dieser Phase gründet ein Grossteil der Befragten eine eigene Familie und konzentriert sich eher auf diese. Dies zeigt sich in reduzierten Kontakten, Hilfeleistungen und grösseren Wohndistanzen. Bei den über 50-Jährigen zeigt sich ein erneutes Zusammenrücken der Generationen. Es wird vermehrt von einem schlechteren Gesundheitszustand der Eltern berichtet und die Kontakte zwischen den Generationen werden wieder häufiger. Praktische Hilfe von Eltern an Kinder nimmt massiv ab, dafür unterstützen Kinder nun vermehrt ihre Eltern. Über 50-Jährige erleben ihrerseits den Auszug der eigenen Kinder und setzen sich mit der eigenen Pensionierung auseinander.

8.2 Selektion: Aktuelle Transfers zwischen Generationen

Der zweite Schritt der soziologischen Tiefenerklärung ist die Selektion auf der Mikroebene: Hier werden die konkreten Handlungen der Akteure modelliert. Dazu wurden allgemeinere theoretische Ausführungen zu solidarischem Handeln auf finanzielle Transfers zwischen Erwachsenen und ihren Eltern übertragen.
Als Solidargemeinschaft wird dabei die Familie verstanden, welche die kollektiven Ziele der biologischen und sozialen Reproduktion, sowie die Sozialisation und die Statuszuweisung in der gesellschaftlichen Hierarchie verfolgt. Um diese Ziele zu erreichen werden in Bereitstellung-, Verteilungs- und Unterstützungssituationen solidarische Transfers geleistet. Zudem wird die Loyalität der Solidargemeinschaft über die Beziehungspflege mittels kleinerer regelmässigerer Transfers aufrecht erhalten. Die Höhe der solidarischen Transfers kann sich nach individuellen Möglichkeiten, nach dem Gleichheitsprinzip oder nach individuellem Interesse am kollektiven Ziel richten. Die Solidargemeinschaft zwischen Erwachsenen und ihren Eltern steht in Konkurrenz mit anderen Solidargemeinschaften; im familiären Bereich insbesondere mit Partnerschaften oder der neu gegründeten Familie der erwachsenen Kinder. Andere Solidargemeinschaften können aber auch entlastend wirken, dies zeigt sich im Fall von schwächeren aber inklusiveren Solidargemeinschaften wie etwa Rentenversicherungen.
Das ONFC-Modell verortet die direkten und indirekten Einflussfaktoren auf verschiedenen Ebenen. Auf individueller Ebene spielen Opportunitäten und Bedürfnisse der erwachsenen Kinder und der Eltern eine Rolle. Finanzielle Transfers stellen einen Aspekt der funktionalen Solidarität dar; sie werden auch von den Ausprägungen der anderen Beziehungsdimensionen beeinflusst. Darüber hinaus sind Generationenbeziehungen in Familienstrukturen und in gesellschaftliche Kontexte eingebettet.
Im zweiten empirischen Kapitel standen finanzielle Transfers zwischen Erwachsenen und ihren Eltern im Zentrum. Die univariate Betrachtung zeigt, dass in rund der Hälfte der Generationenbeziehungen finanzielle Transfers zwischen Eltern und Kindern fliessen. Der materielle Austausch ist damit ein relevanter Aspekt der funktionalen Solidaritätsdimenison. Den grössten Anteil machen dabei kleinere Zuwendungen im Wert von bis zu 500 Franken aus. Transfers von höherem Wert fliessen häufiger von Eltern an Kinder als umgekehrt.
Die Transferhäufigkeit und -höhe hängt mit Ungleichheitsstrukturen in der Elterngeneration zusammen: Sie steigt mit der Bildung der Eltern. Finanzielle Transfers sind also in höheren Schichten wahrscheinlicher, die eine komfortablere finanzielle Lage haben. Grössere Transfers von Kindern gehen oft aber auch an tief gebildete Eltern, die einen grösseren Unterstützungsbedarf zu haben scheinen. Mütter geben etwas häufiger kleinere Zuwendungen; sie erhalten im Gegenzug häufiger kleinere Zuwendungen aber auch grössere Transfers. Hier zeigt sich einerseits die stärkere Familienorientierung von Frauen, andererseits ihr damit in Verbindung stehender grösserer Unterstützungsbedarf im Alter. Sozialstaatliche Rentensysteme zahlen sich insbesondere für Personen aus, die einer bezahlten Erwerbsarbeit nachgegangen sind. Frauen, die häufiger unbezahlte Familienarbeit leisten, sind im Alter deshalb eher auf private Solidarität angewiesen. Eltern, die in der Schweiz wohnen, geben häufiger und höhere Transfers an ihre Kinder. Umgekehrt geben Kinder grosse Transfers am häufigsten an Eltern, die im Ausland wohnen. Hier werden internationale Ungleichheiten sichtbar: Erwachsene Kinder, die in die Schweiz migriert sind, senden Rücküberweisungen an ihre Eltern, die in Ländern mit tieferem Wohlstandsniveau leben.
Anschliessend wurden Zusammenhänge zwischen finanziellen Transfers und den vorgeschlagenen Einflussfaktoren in multivariaten, multinomialen logistischen Regressionsmodellen geprüft. Dabei wurden sowohl Transfers von Eltern an erwachsene Kinder als auch von Kindern an ihre Eltern untersucht. Die Modelle unterscheiden keinen Transfererhalt von kleinerer Zuwendungen und grösseren Transfers. Die Zusammenhänge wurden in der gesamten Stichprobe sowie innerhalb von drei Altersgruppen analysiert.
Die multivariaten Modelle stützen die These, dass finanzielle Transfers zwischen Generationen als solidarische Beiträge zur Erreichung der kollektiven Ziele der Solidargemeinschaft Familie betrachtet werden können. So erhalten insbesondere junge Erwachsene finanzielle Transfers von ihren Eltern, die sich noch in einer Ausbildung befinden. Einerseits handelt es sich dabei um eine Unterstützungssituation, in welcher die elterliche Hilfeleistung rechtlich abgesichert ist. Andererseits dienen Investitionen in die Ausbildung der Kinder dem Ziel, einen höheren sozialen Status in der gesellschaftlichen Hierarchie zu erreichen. Auch Kinder reagieren mit finanziellen Transfers auf Unterstützungsbedarf der Eltern. So geben Befragte, die einen höheren Bildungsgrad als ihre Eltern erreicht haben, mehr finanzielle Transfers an die Eltern. Zudem fliessen grössere Transfers häufiger an Eltern mit schlechterem Gesundheitszustand. Am stärksten reagieren erwachsene Kinder aber auf den Unterstützungsbedarf von Eltern, die ausserhalb von Europa wohnen.
Im Sinne von reziproker Verteilungsgerechtigkeit erhalten erwachsene Kinder mehr von ihren Eltern, wenn sie diese mit praktischer Hilfe unterstützen. Dasselbe gilt auch in die umgekehrte Richtung. Wer ein Geschwister hat, erhält in der bivariaten Betrachtung häufiger Transfers. Möglicherweise hat das andere Kind etwas erhalten und die Eltern wollen keines ihrer beiden Kinder bevorzugen. Gleichzeitig führt der Wunsch nach einer fairen Verteilung zu geringeren Transferchancen von erwachsenen Kindern mit drei oder mehr Geschwistern. Bei Aufwärtstransfers zeigt sich in der bivariaten Betrachtung, dass Kinder mit mehr Geschwistern weniger an die Eltern geben. Dies weist auf eine Aufteilung von Unterstützungslasten hin.
Finanzielle Transfers stärken Generationenbeziehungen und geben Aufschluss über die Loyalität zur Solidargemeinschaft Familie. Dafür spricht, dass Geld-, Sachgeschenke und Zahlungen stark mit der Kontakthäufigkeit zwischen Eltern und Kindern zusammenhängen und finanzielle Transfers bei grösseren Wohndistanzen häufiger geleistet werden. Ebenfalls zeigt sich, dass Mütter und Töchter häufiger kleinere Geld-, Sachgeschenke und Zahlungen austauschen und Väter nach einer Trennung weniger Transfers leisten. Mütter erhalten nach einer Trennung häufiger grössere Transfers; getrennte Väter erhalten hingegen weniger von ihren Kindern.
Solange das zweite Elternteil noch lebt, fliessen weniger Transfers zwischen Eltern und Kindern. Dies weist auf die Konkurrenz zwischen der Solidargemeinschaft der elterlichen Partnerschaft und derjenigen der Generationenbeziehungen hin. Auch neu gegründete Familien stellen eine Konkurrenz zur Beziehung mit den Eltern dar: Befragte mit eigenen Kindern im Haushalt geben weniger häufig grosse Transfers an ihre Eltern.
Abwärtstransfers nehmen über die Altersspanne deutlich ab. Dies ist insbesondere auf den starken Rückgang von grösseren Geld-, Sachgeschenken und Zahlungen im jüngeren Erwachsenenalter zurückzuführen. Die erwachsenen Kinder gehen in diesem Alter von der Ausbildung in die Erwerbstätigkeit über und sind nicht mehr auf die elterliche Unterstützung angewiesen. Anschliessend zeigt sich wie auch bei den finanziellen Transfers von Kindern an Eltern, ein langsamer Rückgang der Transferhäufigkeiten über die Altersspanne. Im Gegensatz zu den Transfers von Eltern an Kinder kommen grössere Geld-, Sachgeschenke und Zahlungen von Kindern an Eltern im mittleren Erwachsenenalter der Kinder etwas häufiger vor. Im mittleren Erwachsenenalter stehen auch nicht mehr so stark die Bedürfnisse der Kinder, sondern eher die Opportunitäten der Eltern im Vordergrund. Bei Kindern über 50 Jahren zeigt sich der beziehungserhaltende Effekt von finanziellen Transfers durch den starken Zusammenhang mit der Kontakthäufigkeit.
Über die gesamte Altersspanne spielen die Bildungsschicht sowie die Migrationsgeschichte eine ausschlaggebende Rolle für finanzielle Generationensolidarität: In höheren Schichten gibt es mehr Materielles zu geben; Eltern, die im Ausland leben, haben dagegen höheren Unterstützungsbedarf.

8.3 Aggregation: Aktuelle Transfers und Ungleichheit

Der dritte Teil der soziologischen Erklärung besteht in der Aggregation der Handlungen, die auf der Mikroebene stattfinden. Hier stellt sich die Frage, wie finanzielle Transfers zwischen Eltern und Kindern zusammengeführt werden können. Nur in aggregierter Form lassen sich die Auswirkungen von Transfers auf die Ungleichheitsstrukturen in der Kindergeneration abschätzen.
Die Verteilung von Gütern innerhalb von Solidargemeinschaften kann bestehende soziale Ungleichheiten abbauen, sie reproduzieren oder verstärken. Abgebaut werden Ungleichheiten, wenn finanzielle Transfers von Personen in privilegierten sozialen Lagen an Personen fliessen, die in einer Ungleichverteilung benachteiligt sind. Die Reproduktion von Ungleichheiten ergibt sich aus ungleichen Transfers, die nicht benachteiligten Gruppen zu Gute kommen. Wenn es sich dabei um Prozesse kumulativer Vor-, bzw. Nachteile handelt, ist eine Verschärfung der Ungleichheiten in der Kindergeneration die Folge.
In Solidargemeinschaften fliessen Transfers typischerweise an diejenigen, die auf Unterstützung angewiesen sind. Sie reduzieren damit Ungleichheiten innerhalb von Solidargemeinschaften. Der Anspruch auf solidarische Transfers kann aber nur innerhalb einer Solidargemeinschaft geltend gemacht werden. Damit wird die Frage nach der Auswirkung von finanziellen Transfers auf Ungleichheitsstrukturen zu einer Frage der Grenzverläufe von Solidargemeinschaften. Finanzielle Transfers zwischen Erwachsenen und ihren Eltern finden im Rahmen der Solidargemeinschaft der Familie statt. Familienmitglieder unterscheiden sich nach Alter und Geschlecht. Zwischen Familien zeigen sich Schichtunterschiede und Differenzen in Bezug auf Migrationserfahrungen.
Die empirischen Auswertungen zeigen, dass finanzielle Transfers zwischen Generationen sehr ungleich verteilt sind. Jeweils knapp die Hälfte aller Erwachsenen leistet und erhält keine Geld-, Sachgeschenke oder Zahlungen. Unter den Transfers kommen kleinere Zuwendungen zwischen Erwachsenen und ihren Eltern am häufigsten vor. In Bezug auf die transferierten Summen spielen hingegen grössere Transfers die Hauptrolle. Die grössten Beitragsanteile fliessen an hochgebildete erwachsene Kinder ohne Migrationsgeschichte. Hochgebildete Kinder geben ihrerseits öfter mehr an ihre Eltern zurück als Befragte mit mittlerer oder tieferer Bildung. Eingewanderte geben hingegen oft mehr an die Eltern als in der Schweiz Geborene, obwohl sie weniger von ihren Eltern erhalten als Personen ohne Migrationserfahrung.
Über die Altersspanne zeigen sich unterschiedliche Transfermuster der verschiedenen Bevölkerungsgruppen. In allen Gruppen profitieren aber junge Erwachsene am stärksten von Geld-, Sachgeschenken oder Zahlungen. Die kumulierte Betrachtung der Transferbilanz zeigt deutlich auf, dass sich die Unterschiede zwischen den Bildungsschichten sowie zwischen Personen, die in der Schweiz bzw. im Ausland geboren wurden, über den Lebenslauf verstärken. Finanzielle Transfers zwischen Familiengenerationen reduzieren damit zwar Ungleichheiten innerhalb von Familien, tragen insgesamt aber zu einer Verschärfung der Ungleichheiten zwischen Familien bei.

8.4 Anknüpfungspunkte für die Forschung

Selbstverständlich tragen zu einem übergreifenden kollektiven Phänomen wie sozialer Ungleichheit unüberschaubar viele einzelne Handlungen und Prozesse bei. Aufgabe der Wissenschaft ist es jedoch nicht, vor der Komplexität der Welt zurück zu schrecken, sondern sich einen kleinen, überschaubaren Teil heraus zu greifen und diesen genauer zu beschreiben: Auf dass sich viele kleine Teile zu einem grösseren Bild zusammenfügen. In diesem Sinne leistet die vorliegende Arbeit einen kleinen Beitrag zur Erforschung der Reproduktion und Verschärfung von sozialen Ungleichheiten über Familiengenerationen. Die Analyse bleibt in verschiedenen Hinsichten beschränkt; diese Limitationen geben jedoch Auskunft über Anschlussmöglichkeiten für weitere Untersuchungen.
Erstens basieren die Auswertungen auf einem reichhaltigen Datensatz zu Generationenbeziehungen. SwissGen liefert mit der Abfrage von finanziellen Transfers zwischen Generationen wichtige Informationen zu einem sensiblen Thema. Da über Geld gerade in der wohlhabenden Schweiz lieber geschwiegen als gesprochen wird, ist die wissenschaftliche Aufarbeitung von Geldflüssen fundamental. Allerdings handelt es sich bei der Datengrundlage um Querschnittsdaten. Bei langfristig bestehenden Solidaritätsbeziehungen zwischen Familienmitgliedern, wäre eine Prüfung der gefundenen Zusammenhänge mit Längsschnittdaten wünschenswert. Die Analyse von Längsschnittdaten könnte insbesondere mehr Sicherheit im Hinblick auf die Aggregation der Transfers über den Lebenslauf und allfällige Pfadabhängigkeiten schaffen. Darüber hinaus können Alters-, Kohorten- und Periodeneffekte auf der empirischen Ebene nur durch Panelbefragungen auseinandergehalten werden.
Mit der Perspektive der erwachsenen Kinder trägt SwissGen zur Schliessung bisheriger Datenlücken bei. So können Generationenbeziehungen zwischen jüngeren Migrant*innen und deren im Ausland lebenden Eltern untersucht werden. Diese transnationalen Beziehungen sind in Befragungen, welche die Perspektive von in der Schweiz wohnhaften Eltern einnehmen, unsichtbar. Die vorliegenden Ergebnisse zeigen grosse Unterschiede nach Migrationsgruppen und weisen auf die hohe Relevanz von Rücküberweisungen ins Ausland hin. In diesem Feld besteht nach wie vor grosser Forschungsbedarf. Detailliertere Auswertungen nach Migrationsalter und Herkunftsländern scheinen lohnenswert.
Sowohl die theoretischen als auch die empirischen Ausführungen haben gezeigt, dass eine intersektionale Perspektive bei der Erforschung von sozialen Ungleichheiten wertvolle Erkenntnisse liefert. Unter den relevanten Ungleichheitsdimensionen erhielt in der vorliegenden Analyse das Alter eine besondere Berücksichtigung. Die Zusammenhänge zwischen finanziellen Transfers und Bildung, Geschlecht sowie Migrationsgeschichte wurden jeweils über die Altersspanne dargestellt. Damit wurde jedoch erst eine der Ungleichheitsachsen systematisch auf ihre Verbindung mit den anderen Dimensionen untersucht. Da sich zwischen Bildungsschichten und Migrationsgruppen grosse Unterschiede zeigen, drängt sich die Frage auf, wie diese beiden Dimensionen zusammenwirken.
Aktuelle Transfers zwischen Erwachsenen und ihren Eltern kommen über die gesamte untersuchte Altersspanne vor. Die Analysen haben gezeigt, dass der Grossteil der Geld-, Sachgeschenke und Zahlungen kleinere Zuwendungen sind. Allerdings sind für die Reproduktion bzw. Verstärkung von Ungleichheitsstrukturen in der Kindergeneration insbesondere seltenere aber höhere Transfers relevant. Um das Ausmass und die Auswirkungen von finanzieller Solidarität zwischen Generationen besser abzuschätzen, müssen Schenkungen und Erbschaften ebenfalls berücksichtigt werden. Sie spielen für die Reproduktion von Ungleichheiten durch kumulative Prozesse eine wichtige Rolle.
Zuletzt sei darauf hingewiesen, dass sich die SwissGen Daten nur auf Beziehungen zu biologischen Eltern beziehen. Die Daten zeigen zwar, dass ein Grossteil der Befragten mit beiden Elternteilen aufgewachsen ist. Allerdings gewinnen die soziale Elternschaft und Generationenbeziehungen abseits der heteronormativen Kernfamilie zunehmend an Relevanz. Wenn soziologische Familienforschung die Lebensrealitäten der gesamten Bevölkerung abbilden will, muss sie diesen Entwicklungen auch bei der Ausarbeitung von Forschungsdesigns Rechnung tragen.

8.5 Anknüpfungspunkte für die Politik

Die Frage nach familialer Solidarität und politische Fragen nach sozialer Gerechtigkeit und Sicherheit sind eng miteinander verknüpft (Martin 2004, S. 14–15). Nur wenn transparent ist, wer von bestimmten Strukturen profitiert, können informierte politische Entscheidungen getroffen werden. Welche sozialen Risiken werden durch staatliche Vorsorgeeinrichtungen abgefedert? An welchen Stellen verweist ein politisches System auf die Eigenverantwortung, wo auf den Markt und die Aufgaben der Familien? Unter welchen Bedingungen führen aktuelle Strukturen nicht zu mehr sozialer Gerechtigkeit und Sicherheit, sondern zu mehr Ungleichheit und Ungerechtigkeit? Wo besteht demnach Veränderungsbedarf?
In der Schweiz profitieren von wohlfahrtsstaatlich organisierter Solidarität insbesondere Personen im Rentenalter, die sowohl die Staatsbürgerschaft als auch eine kontinuierliche Erwerbsbiographie in einer gut bezahlten beruflichen Position aufweisen können. Der Sozialstaat ist damit keineswegs neutral (Dallinger 2000), sondern privilegiert Inländer*innen, Männer, Alte und Wohlhabende.
Wer nicht zu dieser Gruppe gehört, ist stärker auf familiale Solidarität angewiesen. Die Auswertungen zeigen, dass aktuelle finanzielle Solidarität Teil vieler Generationenbeziehungen ist. Mehr Gelder fliessen von Eltern an junge erwachsene Kinder, und alte Mütter erhalten häufiger Unterstützung von Söhnen. Dadurch reduzieren aktuelle finanzielle Transfers zwischen Erwachsenen und ihren Eltern Ungleichheiten innerhalb von Familien. Das Nachsehen haben aber all jene, die nicht familiär eingebunden sind (Martin 2004, S. 10). Eine Politik, die Solidarität zwischen Generationen als private Aufgabe der Familien versteht, entzieht sich ihrer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung. Menschen ohne familiäre Einbindung müssen politisch mitgedacht werden, um Exklusions und Isolationsprozesse zu verhindern.
Auch wenn eine familiäre Einbindung besteht, haben „arme Kinder [...] jedoch relativ selten reiche Eltern“(vgl. Szydlik 2021a, S. 104). Familien- und Generationenbeziehungen haben die gesellschaftliche Aufgabe der Reproduktion ihrer Mitglieder. Wenn sie dieser Aufgabe mit ungleichen Ressourcen nachgehen, resultieren ungleiche Verteilungsergebnisse. Tief gebildete Erwachsene und Befragte mit Migrationsgeschichte reagieren auf den Unterstützungsbedarf ihrer Eltern mit häufigeren und höheren finanziellen Transfers – trotz ihrer eigenen benachteiligten ökonomischen Lage. So führen die Versäumnisse des Wohlfahrtsstaates zu einer Verstärkung der Ungleichheiten in der Kindergeneration.
Zunehmende Ungleichheiten aufgrund von privaten Geldflüssen zwischen Familiengenerationen sind nicht nur volkswirtschaftlich nachteilig (Berg u. a. 2018; OECD 2015). Sie widersprechen darüber hinaus der meritokratischen Idee einer Gesellschaft, in welcher ungleiche Lebenschancen auf individuelle Leistungsunterschiede zurückzuführen sind. Die Aushöhlung der Leistungsgerechtigkeit führt zu einer Delegitimierung kapitalistischer Marktgesellschaften (Boltanski u. a. 2005; Neckel und Dröge 2002). Im besten Fall belebt dies die sozialwissenschaftliche Debatte um die erschwerten Bedingungen eines gelingenden Lebens in der kapitalistischen Moderne (Rosa 2009). Im schlimmsten Fall befördert die Entkoppelung von Leistung und Lebenschancen ein rechtspopulistisches Weltbild und gefährdet damit demokratische Strukturen (Dörre u. a. 2018).
Kissling (2008) sieht in privaten Vermögensübertragungen innerhalb von Familien die Gefahr einer erneuten „Feudalisierung der Schweiz“. Für mehr soziale Gerechtigkeit fordert er eine nationale Erbschaftssteuer auf hohe Vermögen, deren Ertrag unter anderem zur Förderung der Chancengleichheit junger Erwachsener eingesetzt werden soll. So sollen nicht nur diejenigen eine Starthilfe in die ökonomische Unabhängigkeit erhalten, die das Privileg haben, in eine wohlhabende Familie geboren zu sein. Damit verschiebt sich die Aufgabe der Unterstützung junger Erwachsener von Familien als exklusiven Solidargemeinschaften zur inklusiveren Solidargemeinschaft der gesamten Bevölkerung.
Auch bei der Unterstützung von Eltern in Bedarfssituationen können politische Massnahmen handbieten. Ein einfacher erster Schritt besteht in der Senkung von Transfergebühren ins Ausland (Kumar 2023), damit ein grösserer Teil der geleisteten finanziellen Transfers bei den Bedürftigen ankommt. Zweitens können erwachsene Kinder entlastet werden, wenn der Aufenthaltsstatus ihrer migrierten Eltern nicht davon abhängig gemacht wird, ob sie sozialstaatliche Hilfe in Anspruch genommen haben (Meier u. a. 2021). Drittens muss der schweizerische Sozialstaat derart ausgestaltet werden, dass die Übernahme von unbezahlter Sorgearbeit nicht mit finanziellen Nachteilen im Alter verbunden ist (Madörin 2010).
Die vorgeschlagenen Massnahmen entlasten Familien von finanzieller Solidarität zur Sicherung des Lebensunterhalts. Wenn diese Aufgabe innerhalb einer grösseren, inklusiveren Gemeinschaft geleistet wird, führt Solidarität nicht zur Exklusion und der Verstärkung von Ungleichheiten. Generationenbeziehungen zwischen Erwachsenen und ihren Eltern überbrücken Altersgrenzen und leisten damit auf vielen Ebenen einen wichtigen Beitrag zur Integration der Individuen in die Gesellschaft. Solange die finanziellen Mittel zwischen Familien aber ungleich verteilt sind, ist es ungerecht, finanzielle Solidarität zur Familiensache zu erklären.
Open Access Dieses Kapitel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Kapitel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.
Metadaten
Titel
Schlussfolgerungen
verfasst von
Tamara Bosshardt
Copyright-Jahr
2024
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-43924-8_8

Premium Partner