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2023 | Buch

Über Systemwettbewerb zu einer neuen Weltordnung?

Ein Werkstattbericht über die neue geopolitische Dynamik

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Über dieses Buch

Dieses Buch behandelt die gegenwärtig im Gange befindliche Zeitwende in der Weltgeschichte. Die liberale, multilaterale, regelbasierte und weitgehend westlich geprägt Weltordnung ist im Zuge eines aufkommenden neuen Großmächtewettbewerbs ernsthaft ins Wanken geraten.
Wirtschaftlich hat sich der Kapitalismus weltweit durchgesetzt, allerdings in unterschiedlichen Ausprägungen: Ein weitgehend hemmungsloser Kapitalismus in den USA, ein sozialpolitisch gebändigter Kapitalismus in Europa und eine Vielfalt unterschiedlicher Kapitalismen in Süd-Korea, Taiwan und Singapur als Beispiele. China verfolgt einen staatlich gelenkten autoritären Kapitalismus. Diese verschiedenen Formen stehen im Wettbewerb miteinander.
Politisch bestehen zwischen diesen Nationen grössere Unterschiede. Im zersplitterten Westen sind unterschiedliche liberal-demokratische Regierungsformen vorherrschend. Für China ist die marxistisch-leninistische Kaderpartei mit ihrem autoritären Führungsstil massgebend.
Die aktuelle und künftige globale Entwicklung wird durch einen wirtschaftlichen und politischen Systemwettbewerb zwischen China und dem fragmentierten «Westen» geprägt. Die COVID-19 Krise wirkt bei dieser Entwicklung wie ein Brandbeschleuniger und der Ukraine-Krieg verschärft und akzentuiert diese Problematik. Szenarien zeigen drei mögliche neue Weltordnungen.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter

Wirtschaftlicher und politischer Systemwettbewerb zwischen China und dem fragmentierten „Westen“

Frontmatter
1. USA und Europa: entfesselter und sozial gebändigter Kapitalismus
Zusammenfassung
Europa und die USA sind beides demokratische Staaten mit einem kapitalistischen Wirtschaftssystem. Die Ausprägung des Kapitalismus ist jedoch derart unterschiedlich, dass man von zwei unterschiedlichen Kapitalismustypen sprechen muss.
Die Hauptunterschiede zwischen Europa und den USA liegen in der Rolle des Staates und in der Organisation der Märkte. Der amerikanische Staat fokussiert auf die klassischen staatlichen Aufgaben wie Sicherheit und Rechtsordnung; der Wohlfahrtsstaat ist wenig ausgebaut („entfesselter Kapitalismus“). In Europa wird der Staat als Garant für das „Gemeinwohl“ betrachtet: Er ergänzt und korrigiert das kapitalistische Wirtschaftssystem so, dass alle Bevölkerungsgruppen gleichermaßen Zugang zu Bildung, Gesundheit, Infrastrukturen, Kultur usw. haben („sozial gebändigter Kapitalismus“).
Hans Werder, Beat Hotz-Hart
2. Südkorea, Taiwan, Singapur: organisierter und hierarchischer Kapitalismus
Zusammenfassung
Der Kapitalismus hat sich weltweit durchgesetzt, wenn auch in verschiedenen Ausprägungen. Konkrete Formen werden am Beispiel von Südkorea, Taiwan und Singapur untersucht. Staats- und Wirtschaftsordnung, Finanz- und Arbeitsmarkt sowie wichtige öffentliche Aufgaben werden dargestellt und Gemeinsamkeiten und Unterschiede der drei Länder aufgezeigt. Schwergewichtig geht es um die Analyse der Phase von den 1960er- bis in die 1990er-Jahre, der Gründung und Modernisierung verbunden mit der raschen Wirtschaftsentwicklung der drei Staaten. Es werden spezifische Eigenheiten eines „East-Asia Capitalism“ aufgezeigt. Die Entwicklung nach der Asienkrise 1997/1998 ist durch Reformen Richtung Demokratisierung und Liberalisierung und exogene Faktoren wie die Globalisierung geprägt. Dies hat in den drei Ländern zu Anpassungen und zur Weiterentwicklung ihrer Systeme geführt. Wesentliche Elemente aus der ersten Phase bestehen jedoch nach wie vor und sind wirksam.
Beat Hotz-Hart
3. China – autoritärer und paternalistischer Staatskapitalismus
Zusammenfassung
Das politische System der Volksrepublik China beruht auf dem Führungsanspruch der Kommunistischen Partei gegenüber der gesamten Wirtschaft und Gesellschaft. Es gilt das Primat ihrer Politik. Dafür wurden eigene Prinzipien und Konzepte wie Staat, Demokratie/Kontrolle der Macht, Recht und Rechtsstaatlichkeit und Menschenbild entwickelt und etabliert. Sie unterscheiden sich von westlichen Vorstellungen, grenzen sich davon klar ab und stellen ein alternatives Modell dar.
Die Wirtschaftsordnung entspricht einer hybriden Form von Sozialismus und Kapitalismus, einer intensiven Verflechtung von Politik und Wirtschaft mit Staatsunternehmen und einem großen politisch gesteuerten Privatsektor. Einfluss auf die Wirtschaft wird sowohl über die Finanzierungsseite wie auch über Personalmanagement, über Besetzung der Kader vorgenommen. Die Öffnung des großen Binnenmarktes für ausländische Unternehmen und Kapital erfolgt selektiv nach strategischen Überlegungen. Die Infrastruktur, das Bildungssystem und Forschung und Entwicklung wurden stark ausgebaut und auf ein hohes Niveau gebracht. Sozialpolitische Ziele werden mit dem Konzept des gemeinsamen Wohlstandes verfolgt. Für die Zukunft soll mit hoher politischer Priorität gleichzeitig die Abhängigkeit vom Ausland reduziert und ein nachhaltiges Wirtschaftsmodell zur Überwindung der „middle income trap“ etabliert werden.
Beat Hotz-Hart
4. Zukunftsfähigkeit der Kapitalismusmodelle China, Europa und USA
Zusammenfassung
Die drei unterschiedlichen Kapitalismusmodelle von China, Europa und USA werden mittels einer angepassten SWOT-Analyse einander gegenübergestellt und hinsichtlich ihrer Zukunftsfähigkeit beurteilt.
Dabei zeigt sich, dass sowohl China wie die USA und Europa vor großen, allerdings unterschiedlichen Herausforderungen stehen. Für China stellt sich die Frage, ob der Übergang zu wirtschaftlichen und technologischen Spitzenleistungen gelingt und die Wirtschaft weiterhin stark wächst. Denn dieses Wachstum ist die zentrale Legitimationsgrundlage für die Herrschaft der Kommunistischen Partei. In den USA bedrohen die zunehmenden sozialen Ungleichheiten und die schlechten öffentlichen Leistungen die Stabilität der Gesellschaft; Polarisierung und Populismus gefährden die demokratischen Institutionen. Zudem überfordert die „imperiale Überdehnung“ das Land – das Konzept der „einzigen Supermacht“ ist kaum überlebensfähig. Europa braucht in der neuen geopolitischen Situation eine stärkere Handlungsfähigkeit, welche heute weder die EU-Organe noch die einzelnen Mitgliedstaaten besitzen.
Die Zukunft der drei Systeme wird wesentlich davon abhängen, ob die notwendigen Reformen – die in China, Europa und den USA unterschiedlich sind – eingeleitet werden und gelingen.
Hans Werder
5. Interdependenz der Systeme in der Krise
Zusammenfassung
Die Nationen sind rund um den Globus über vielfältige Beziehungen miteinander verbunden und verflochten wie über Handelsbeziehungen, Währungen und Finanzmärkte, Technologien, Seltene Erden/Metalle, Energie und Nahrungsmittel. Die damit einhergehende internationale Arbeitsteilung hat viel zu Effizienzsteigerung, zu Wachstum und Wohlstandssteigerung beigetragen. Viele haben davon profitiert, einige haben auch verloren. Diese Entwicklung führte zu Abhängigkeiten zwischen Nationen, auch zwischen Europa, China und den USA. Und Abhängigkeiten werden als Instrument der Außen- und Sicherheitspolitik als Anreiz- oder als Druckmittel z. B. über Sanktionen eingesetzt. Durch Schocks wie die Coronakrise und den Ukraine-Krieg wurden sich Politik und Wirtschaft dessen schmerzhaft bewusst. Die lange Zeit zunehmende und positiv beurteilte Interdependenz geriet in eine Krise. Sicherheit wird vor Effizienz und Wachstum gesetzt. Abhängigkeiten werden auf ihre strategische Bedeutung überprüft und verringert, Wertschöpfungsketten reorganisiert. Ein Decoupling hat aber auch Nachteile, kann letztlich nicht vollständig sein und hat damit Grenzen. Eine Folge der laufenden Entwicklung ist die wachsende Bedeutung der Politik, des Staates und damit eine stärkere Politisierung der Wirtschaft.
Beat Hotz-Hart

Auseinandersetzung um eine neue geopolitische Weltordnung

Frontmatter
6. Ausgangslage: die noch geltende internationale Ordnung angelsächsisch-liberaler Prägung und die realen Machtverhältnisse
Zusammenfassung
Die herrschende Weltordnung trägt noch Züge der Nachkriegsordnung von 1945, auch wenn sie sich inzwischen verändert hat. Als Sieger haben die USA die Ordnung aus einem aufklärerisch-liberalen Geist geschaffen und durch multilaterale internationale Organisationen abgestützt, deren wichtigste die UNO mit ihren Unterorganisationen ist. Die USA sind auch die Architekten der Weltwirtschaftsordnung gemäß dem Paradigma des Wirtschaftsliberalismus.
Dank ihrer überragenden militärischen Stärke wie auch ihrer Wirtschaftskraft besitzen die USA eine Vormachtstellung.
Die Nachkriegszeit zerfällt in zwei Epochen: Von 1945 bis zu den späten 1970er-/Mitte 1980er-Jahren herrschte politisch der Kalte Krieg; die Wirtschaft des Westens war weitgehend durch den Keynesianismus gekennzeichnet mit hohen Wachstumsraten und sozialer Stabilität.
Mit der Aufhebung der Dollar-Konvertibilität in Gold 1971 durch Präsident Nixon begann die Epoche des Finanzkapitalismus und des „Washington Consensus“ gemäß den Leitworten Liberalisierung, Deregulierung, Privatisierung, Globalisierung.
Ende der 1980er-Jahre wurde mit dem Treffen zwischen den Präsidenten Ronald Reagan und Michail Gorbatschow das Ende des Kalten Kriegs eingeleitet und mit der Auflösung der Sowjetunion im Dezember 1991 zur Tatsache. Die USA errangen eine weltweite Hegemonie. Doch man verpasste die Chance, eine umfassende euroatlantische Friedens- und Sicherheitsarchitektur „von Vancouver bis Wladiwostok“ zu schaffen. Stattdessen führten USA und NATO die Containment-Policy weiter. Russland fühlte sich in seinem Friedens- und Öffnungswillen betrogen und geopolitisch wie auch geoökonomisch eingeschnürt. Es machte den „Schwenk nach Osten“ und sucht seither eine strategische Partnerschaft mit China.
Jetzt herrscht eine Großmächtekonkurrenz. Die geltende Weltordnung wird von den mit den USA rivalisierenden Großmächten und von „außereuropäischen“ Kulturen in Frage gestellt. Sie fordern eine polyzentrische Weltordnung und ein System, in dem auch ihre Interessen und Wertvorstellungen zur Geltung kommen.
Johann Bucher
7. Die Strategie Chinas zur Positionierung als globale Macht
Zusammenfassung
Ausgehend von der Erneuerung der chinesischen Nation werden die wichtigsten Elemente der Strategie Chinas für seine Positionierung als globale Macht dargestellt. Bei Chinas Weg der Globalisierung steht die Belt and Road Initiative an erster Stelle. Sie wird begleitet durch bilaterale und multilaterale Handelspolitik. Zu Chinas Strategie gehört weiter, seine Abhängigkeiten von den USA und seine Verletzlichkeit gegenüber Sanktionen Dritter zu reduzieren. Dafür wird das Konzept der zwei Kreisläufe verfolgt. Auf der Ebene der internationalen Organisationen soll einerseits der Einfluss Chinas, vor allem in der UNO, deutlich gestärkt, anderseits aber sollen auch parallele neue Organisationen unter der Führung Chinas aufgebaut werden. Militärisch wird die Volksarmee zu einer Truppe von Weltklasse ausgebaut, um die Interessen Chinas in der ganzen Welt zu verteidigen (Xinhua, 2022). Als globale Macht strebt China an, sein eigenes Narrativ zu Geschichte und Politik zu formulieren, weltweit zu verbreiten und die Kontrolle darüber aufrechtzuerhalten. Zum Schluss wird eine Einschätzung vorgenommen, ob China in der Lage sein wird, diese Strategie über längere Zeit beharrlich und kontinuierlich zu verfolgen.
Beat Hotz-Hart
8. Die Zukunft der USA als bisherige globale Führungsmacht. Konsolidierung oder Niedergang einer Weltmacht?
Zusammenfassung
Nach dem Kalten Krieg standen die USA als einzige Weltmacht da; es ist der „Unipolar Moment“ (Krauthammer, 1990) oder, wie Stephen Walt (2002) in der Frühjahrnummer der Naval War College Review unter dem Titel „American Primacy: Its Prospects and Pitfalls“ kurz und bündig festhielt: „The end of the Cold War left the United States in a position of power unseen since the Roman Empire.“ Washington (Document 1992) bemühte sich, die erlangte globale Hegemonie zu konsolidieren und „… to prevent the re-emergence of a new rival, either on the territory of the former Soviet Union or elsewhere, that poses a threat on the order of that posed formerly by the Soviet Union“. Doch die erneute Containment-Policy gegenüber Russland bewirkte ihr Gegenteil: Das Land verhärtete sich nach innen, wendete sich vom Westen ab und sucht seither den Schulterschluss mit China. Das „Reich der Mitte“ baut seine geoökonomischen und geostrategischen Positionen aus und will Taiwan gemäß der Ein-China-Doktrin mit Kontinentalchina vereinen. Zudem bemüht es sich um vermehrten Einfluss in den internationalen Organisationen. China und Russland postulieren eine multipolare Ordnung. Aber auch nichtwestliche Kulturen fordern eine Weltordnung, die ihren Wertvorstellungen und Interessen Rechnung trägt. Die „American Primacy“ scheint zu Ende zu gehen, aber noch sind die USA die größte Militärmacht, die stärkste Volkswirtschaft und eines der innovativsten und kompetitivsten Länder. Ein „Nachruf auf die Weltmacht USA“ (Emmanuel Todd, 2003) ist fehl am Platz. Die Weltmacht USA wird weniger durch die Rivalen als durch innere Entwicklungen gefährdet. Das Land ist tief gespalten, und wie der Sturm aufs Kapitol am 6. Januar 2021 durch einen entfesselten Mob offenbarte, schreckte Donald Trump selbst vor einem Staatsstreich nicht zurück.
Johann Bucher
9. Die Rolle Europas in der neuen geopolitischen Lage: Ist strategische Autonomie möglich?
Zusammenfassung
Europa ist eine wirtschaftliche Großmacht, aber außenpolitisch kaum handlungsfähig und militärisch vollständig von den USA abhängig. Die große Frage ist, ob Europa auch in der neuen geopolitischen Situation diese Rolle spielen soll. Nach der Diskussion von drei denkbaren Szenarien (Hilfssheriff der USA, Teil des durch „Belt and Road“ konstituierten eurasischen Blocks, strategische Autonomie) wird der lange Weg zu einer schrittweisen Erhöhung der europäischen Autonomie skizziert:
  • eigenständige Außen- und Sicherheitspolitik durch die verstärkte Zusammenarbeit von Kerneuropa,
  • neue geopolitische Positionierung gegenüber den USA, China und Russland,
  • Aufbau einer autonomen europäischen Armee; „integrierte Abschreckung“ durch den französischen Nuklearschirm.
Der Übergang zur strategischen Autonomie ist anspruchsvoll und kann nur schrittweise erfolgen. Er erfordert einen klaren strategischen Willen und ein intelligentes Konfliktmanagement.
Hans Werder
10. Entwicklung zu einer neuen geopolitischen Weltordnung?
Zusammenfassung
In den Kapiteln 6 bis 9 wurde dargestellt, wie die USA, China und Europa die neue Weltordnung sehen und mit welcher Strategie sie ihre Vorstellungen und Interessen durchzusetzen versuchen. Dazu werden zusammenfassende Thesen zur Systemkonkurrenz und feststellbare Trends präsentiert. Danach werden ausgewählte Aspekte der beobachteten Entwicklungen zu drei Szenarien von möglichen neuen Weltordnungen verdichtet: multipolare, heterogene und fragmentierte Weltordnung mit schwachen internationalen Institutionen; Entkoppelung, Abschottung und Innenorientierung, bipolare Weltordnung und multipolare und regelbasierte Welt mit tragfähigen internationalen Institutionen. Im Zentrum der Szenarien stehen die Interaktionen zwischen den USA, China und Europa sowie weiteren Nationen. Das Kapitel schließt mit einer Auswertung der drei Szenarien: Wie sind Konflikt- und Krisenanfälligkeit resp. Resilienz zu beurteilen, wie Integration und Zusammenarbeit resp. Fragmentierung? Welche Möglichkeiten und Chancen bestehen für eine positive Entwicklung? Welche Lehren können daraus gezogen werden?
Beat Hotz-Hart
Metadaten
Titel
Über Systemwettbewerb zu einer neuen Weltordnung?
verfasst von
Beat Hotz-Hart
Johann Bucher
Hans Werder
Copyright-Jahr
2023
Electronic ISBN
978-3-658-42016-1
Print ISBN
978-3-658-42015-4
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-42016-1

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