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Open Access 2022 | OriginalPaper | Buchkapitel

5. Zusammenfassung

verfasst von : René Wilke

Erschienen in: Wissenschaft kommuniziert

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

Im Rahmen unseres Alltags sind wir es gewohnt, Gegenstände unserer Welt als gegebene Entitäten zu betrachten, die scheinbar eine von ihrer kommunikativen Realisierung unabhängige Existenz aufweisen. Anliegen dieser Forschungsarbeit ist es daher auch, im Rahmen eines kommunikativ konstruktivistischen Theorierahmens und vor dem Hintergrund der wissenssoziologisch-gattungsanalytischen Betrachtungsweise einer spezifischen Kommunikationsform, aufzuzeigen, dass dem nicht so ist. Vielmehr gilt selbst für die Wissenschaft, worauf ich eingangs dieser Arbeit mit einer allgemeingültigen Erkenntnis des KoKo hingewiesen hatte.
Im Rahmen unseres Alltags sind wir es gewohnt, Gegenstände unserer Welt als gegebene Entitäten zu betrachten, die scheinbar eine von ihrer kommunikativen Realisierung unabhängige Existenz aufweisen. Anliegen dieser Forschungsarbeit ist es daher auch, im Rahmen eines kommunikativ konstruktivistischen Theorierahmens und vor dem Hintergrund der wissenssoziologisch-gattungsanalytischen Betrachtungsweise einer spezifischen Kommunikationsform, aufzuzeigen, dass dem nicht so ist. Vielmehr gilt selbst für die Wissenschaft, worauf ich eingangs dieser Arbeit mit einer allgemeingültigen Erkenntnis des KoKo hingewiesen hatte:
[D]ass alles was am sozialen Handeln relevant ist, notwendig auch kommuniziert werden muss (ohne dass alles, was kommuniziert wird, sozial relevant sein muss). (Knoblauch 2013, 23)
Diese Kardinalsthese des der vorliegenden Arbeit zugrundeliegenden Theorierahmens, dass alles was uns beeinflusst, im Aggregatszustand der Kommunikation auf uns einwirkt, bedeutet vice versa, dass all das, was in unserer Welt Wirkung entfaltet oder Wirkung entfalten soll, den Weg der Kommunikation geht bzw. gehen muss. Dies gilt schon für den Alltag, umso mehr für Sphären, deren genuine Aufgabe es ist, Raum für die Erzeugung von Neuem zu bieten.
Gleich, ob ich die Neuausrichtung meiner persönlichen Beziehungen anstrebe oder neue Maßstäbe in Kunst, Politik oder Kultur setzen möchte, wenn ich dem (sozial) Gegebenen etwas hinzuzufügen wünsche, dann muss ich dies kommunizieren. Wobei zusätzlich gilt, dass es, wenigstens in unserer Welt, keine Kommunikation ohne Medien gibt. Dies gilt selbst dann, wenn Sender und Empfänger in Eins fallen: Sogar das Selbstgespräch, das stumme Gebet, der innere Glaube, ist Produkt eines (inneren) Anstoßes (und zugleich ein Angestoßen-sein im Medium des Wortes): Keine Veränderung ohne Kommunikation, die zugleich den Raum unserer individuellen sowie kollektiven Selbstverwirklichung darstellt. Kommunikation macht den physischen Kosmos von Raum und Zeit zu einem sozialen Kosmos, der Ersteren voll umschließt. Alle Wirklichkeit ist kommunikativ.
Das gilt, wie bereits die Laborstudien gezeigt haben, allen voran die zitierten Arbeiten von Latour, Lynch und Knorr-Cetina, umso mehr für die Wissenschaft, wissenschaftliches Wissen, Forschungsfelder und korrespondierende, hoch spezialisierte wissenschaftliche Fachgebiete. Wissen ist eine gesellschaftliche Konstruktion, sozial abgeleiteter Sinn. Wissenschaftler/-innen, ganz gleich welcher Disziplin, reihen sich ein, haben gelernt sich einzureihen, auf der Grundlage eines geteilten, historisch aggregierten Spezialwissens zu denken, aus ihm heraus zu reflektieren, zu abstrahieren, zu opponieren und dabei dem Gegebenen etwas hinzuzufügen.
In der interdisziplinären Forschung, die i. d. R. in vorübergehenden Konstellationen operationalisiert wird, wird der Umstand sehr deutlich, dass, um ein berühmtes Sprachspiel Wittgensteins aufzugreifen, die Grenzen des Verstehens durch die erlernte Sprache abgesteckt sind und wie mühsam es daher ist, die anderen auch nur zu verstehen, geschweige dem, das Andere in die eigene Arbeit aufzunehmen und weiterzudenken. Garfinkel hat diese Begrenztheit des disziplinären Denkens gar zur Entwicklung einer neuen Soziologie bewegt, der Ethnomethodologie, die einerseits, vor dem Hintergrund des „unique adequacy requirements“, Lynch dazu bewegte, Garfinkel zu bescheinigen, dieses Gebot sei in gewisser Weise einem ‚Todeskuss‘ (1999, 219) gleichgekommen, da es zur Abwanderung der Studierenden in die studierten Felder geführt habe. Andererseits, und auch dies verdeutlicht die Schwierigkeit der Inter- oder Transdisziplinarität am Beispiel der Ethnomethodologie gut, gibt es Kommentator/-innen, darunter Luckmann wohl der prominenteste, die, wie ich bereits ausgeführt habe, berechtigte Zweifel haben, ob es sich bei Garfinkels Soziologie überhaupt noch um eine Soziologie handele, denn Garfinkel verließ in vielerlei Hinsicht, nicht zuletzt im Zuge seiner (vermeintlichen) Theoriefeindlichkeit (tatsächlich war er selbst ein großer Theoretiker), die Pfade der institutionalisierten Disziplin, die sich Soziologie nennt.
Am Beispiel der Ethnomethodologie kann aus soziologischer Perspektive und zugleich am eigenen Beispiel daher sehr einfach verdeutlicht werden, wie problematisch es ist, das etablierte Wissen, die autoritär legitimierten Herangehensweisen der eigenen Disziplin zu überschreiten. Häufig führt dies, weniger erfolgreich als in Garfinkels Fall, zu Legitimitätsverlust, zur Einbuße von Prestige, was sich schon daran zeigt, dass Forscher/-innen in interdisziplinären Kontexten oder mit interdisziplinären Herangehensweisen, Schwierigkeiten zu beklagen haben, geeignete Publikationsorgane für ihre Forschung zu finden und ihre Karrierechancen durch interdisziplinäre Arbeit gefährdet sehen. Zwischen den Disziplinen bewegt man sich in einem Freiraum, in dem es häufig an etablierten Kommunikationsformen mangelt:
Offenbar sorgen die Kohäsionskräfte fachlicher Sozialisations- und Kommunikationsprozesse dafür, dass interdisziplinäre Kooperationsprojekte oft nicht über Antragsrhetorik hinauskommen und ihr Forschungsoutput hinter den hochgesteckten Erwartungen politisch motivierter Förderprogramme zurückbleibt. Dieses Bild spiegelt sich auch in einer Fragebogenstudie der Akademie für Technikfolgenabschätzung in Baden-Württemberg wider (siehe zum Folgenden Blättel-Mink u. a. 2003, S. 29–34): Den Autorinnen zufolge stimmen 67,3 % der Befragten voll oder teilweise der Aussage zu, dass die erfolgreiche Umsetzung interdisziplinärer Projekte zusätzliche Zeitressourcen erfordert. Die Mehrzahl begründete ihre Einschätzung mit der Notwendigkeit „intensiver Kommunikation“ und fachübergreifender „Übersetzungsleistungen“. Als wichtigste „hemmende Faktoren“ interdisziplinärer Projektarbeit nennen die Befragten „Disziplinäre Codes/Sprachen“ (75,4 %), „Disziplinäre Weltbilder/Sichtweisen“ (62,2 %) sowie abweichende „Methoden“ (42,6 %). (Wilke und Lettkemann 2018, 78 f.)
Vor diesem Hintergrund, der ausgesprochenen Schwierigkeit der Interdisziplinarität im Kontext der Standortgebundenheit des Wissens, ist die vorliegende Studie und ihr konkreter Gegenstand zu betrachten: die kommunikative Konstruktion von Wissenschaft, Wissenschaft kommuniziert. Die CNS ist, wie ich eingangs dargelegt und im empirischen Teil dieser Arbeit belegen konnte, ein hervorragendes Beispiel für diesen Prozess. Nicht zuletzt auch deshalb, weil sie nicht nur von einem explizit interdisziplinären Selbstverständnis geprägt ist und tatsächlich ein ausgesprochen multidisziplinäres Unterfangen darstellt, sondern auch deshalb, weil sie in diesem Status verharrt und somit kein flüchtiges, Projekt-artiges Zusammenkommen von zwei oder drei Expert/-innen aus unterschiedlichen Disziplinen darstellt. Vielmehr stellt die CNS ein exemplarisches Beispiel für ein Forschungsfeld dar, das genuin und auf Dauer sprichwörtlich ‚zwischen den Stühlen‘ etablierter, disziplinär ausgerichteter Forschungsgemeinschaften wie der Biologie, der Physik, der Informatik, der Mathematik u. a. angesiedelt ist.
Als Ausgangspunkt meiner Arbeit habe ich mir daher die folgenden Fragen gestellt:
a)
Wenn die CNS sich bereits seit mindestens 30 Jahren ausdifferenziert, obgleich die Disziplinengrenzen im Forschungsfeld bis heute bestehen bleiben, welche Hürden der Kommunikation gilt es dann aufgrund dieser Persistenz heterogener Wissenskulturen innerhalb der CNS zu bewältigen?
 
b)
Da die Kommunikation innerhalb stark interdisziplinär geprägter, neuer Forschungsfelder, wie sie von der CNS exemplarisch repräsentiert werden, vor besonderen Herausforderungen der intersubjektiven Evidenzerzeugung steht, in welcher Form kommunizieren die Wissenschaftler/-innen in der beobachteten Forschungsgruppe dann ihren Kolleg/-innen ihre Forschungsansätze und -ergebnisse?
 
c)
Wenn bei der Bewältigung von Kommunikationsproblemen innerhalb der CNS Visualisierungen eine hervorgehobene Rolle spielen, sind im Feld für das Problem der Kommunikation dann typische bild-kommunikative Lösungen zu finden und welche Rolle spielen Visualisierungen ggf. für die Lösung des Kommunikationsproblems der CNS?
 
d)
Welche Rolle spielt vor dem Hintergrund, dass die Beobachtung im Feld eine starke Aufwertung des Visuellen in der Wissenskommunikation und die Ausbildung zahlreicher visueller Praktiken erkennen lässt, ein mit diesen Praktiken korrespondierender Wissensbestand der Akteure im Feld?
 
e)
Wenn sich, korrespondierend mit den institutionellen Zielen der CNS, eine spezifische kommunikative Form etabliert hat, durch die interdisziplinäre Kommunikation überhaupt erst ermöglicht wird, welche Strukturmerkmale eignet diese dann ggf. und lässt sich hier von einer wissenschaftlichen Diskursgattung sprechen?
 
Ausgehend von diesen Forschungsfragen habe ich dieser Arbeit eine Arbeitshypothese vorangestellt (vgl. Abschnitt 1.​1), die besagt, dass das interdisziplinäre Forschungsfeld der CNS praktisch aus einer spezifischen Form kommunikativen Handelns resultiere, durch die es im Interaktionsprozess (re-)produziert wird. Innerhalb dieses kommunikativen Vollzugsprozesses manifestiere sich, gleichsam ko-evolutionär oder dialektisch, sowohl die inkrementelle Ausdifferenzierung und Stabilisierung einer spezifischen Kommunikationsweise als auch das korrespondierende wissenschaftliche Feld selbst. Beides, so meine These, werde in den Sozialwissenschaften meist diskret betrachtet, wohingegen meine kommunikativ konstruktivistisch informierte Fallanalyse schließlich auch die Frage beantworten möchte, ob eine dichotome Betrachtung dem tatsächlichen empirischen Phänomen angemessen wäre.
Vor dem Hintergrund der hier systematisch entfalteten empirischen Arbeit, die auf der Gattungsanalyse als zentraler Methodenholistik fußt, glaube ich, sowohl meine konkreten Forschungsfragen als auch diese letzte, allgemeinere Frage, nach dem methodologischen Zusammenhang einer spezifischen Kommunikationsweise und dem konkreten Feld einer empirischen Forschung, in dem sie beobachtbar ist, beantworten zu können. Im Folgenden werde ich mich, gestützt auf die in der vorangegangenen systematischen Auseinandersetzung mit dem Feld der CNS und der Kommunikation, die ich in der beobachteten Forschungsgruppe analysiert habe, der die Ergebnisse meiner Arbeit summierenden Beantwortung dieser Fragen zuwenden.
Die Kommunikationsweise innerhalb der beobachteten Forschungsgruppe ist in besonderer Weise von Offenheit geprägt. Sie dient nicht der Aufrechterhaltung persönlichen oder kollektiven Prestiges und basiert nicht auf einer Asymmetrie zwischen Sprecher/-innen und dem Publikum. Dieses Charakteristikum möchte ich mit einem letzten Vergleich illustrieren, denn der Group-Talk unterscheidet sich dabei stark von einem vielleicht ähnlich wirkenden Format der Wissenskommunikation, dem Schulunterricht. Während Letzterer heute in vielerlei Hinsicht, dem Sokratischen Beispiel folgend, eine stärker Seminar-hafte Form annimmt und, vor allem in höheren Jahrgangsstufen, eine offene und gegenseitig informative Form annimmt, in der die Statusunterschiede zwischen Schüler/-innen und Lehrkräften zeitweise camoufliert werden, beruht diese scheinbare Nivellierung, anders als im Group-Talk, vor allem auf einem didaktischen Konzept, das der argumentativen Selbst-Ermächtigung der Schüler/-innen dienen soll. Diese nehmen ihren Lehrkräften gegenüber daher auch nur in ausgesprochen seltenen Ausnahmefällen eine Expert/-innenrolle ein. Ebenso verhält es sich unter den Schüler/-innen selbst, die sich, abgesehen von individuellen Leistungsunterschieden, auf Grundlage eines gemeinsam durchlebten Bildungswegs, als homogene Gruppe darstellen lassen, in der alle gleichermaßen auf einen einheitlichen Wissensvorrat zurückgreifen können.
Die Asymmetrie im Schulunterricht besteht daher zwischen Schüler/-innen und ihren Lehrkräften. Wobei Letztere die Sichtbarkeit dieses Unterschieds, der auf der unterschiedlichen Wissensbasis zwischen Schüler/-innen und Lehrer/-innen und, seitens der Lehrkräfte, zusätzlich auf einer mehr oder minder verborgenen, erzieherischen Agenda basiert, ausschließlich für didaktische Zwecke aus- aber auch regelmäßig wieder anschalten. Ganz ähnlich verhält es sich i. d. R. auch in universitären Seminaren1, wo, selbst im Falle unerfahrener Dozent/-innen, wenigstens die ungleiche Verteilung von struktureller Vorkenntnis und auch hier nicht zuletzt pädagogische Aspekte für eine Ungleichheit sorgen, die die Kommunikationssituation maßgeblich prägt. Diese Eigenschaften des Unterrichts, ob in der Schule oder in universitären Seminaren, markieren einen strukturellen Unterschied zum Group-Talk in der Wissenschaft, konkret in der CNS, wie er von mir beobachtet wurde.
Der Group-Talk ist eine Kommunikationsform auf Augenhöhe aller Beteiligten. Das heißt nicht, dass es keine Statusunterschiede innerhalb der beobachteten Forschungsgruppe gäbe, und nicht einmal, dass diese Unterschiede, die sich an unterschiedlich weit vorangeschrittenen Wissenschaftsbiografien und Kommunikationsfähigkeiten oder – last but not least – institutionellen Rollen festmachen lassen, im Group-Talk keine Rolle spielten. Allerdings verfügt keine Partizipient/-in des Group-Talks über eine all umfassende Expertise auf den so heterogenen Fachgebieten, die an dem gemeinsamen Forschungsfeld der CNS beteiligt sind. Dies gilt – und vielleicht sogar insbesondere – für den Forschungsgruppenleiter, der als Physiker mit einem besonderen Interesse an neurobiologischen Fragestellungen zur CNS gekommen ist, lange bevor diese sich als Feld mit eigenen Lehrstühlen und Studiengängen etabliert hatte.2
Die disziplinäre Herkunft der beteiligten Forscher/-innen macht die CNS in der beobachteten Forschungsgruppe, und darin ist sie ganz typisch für das gesamte Feld zu betrachten, zu einem genuin interdisziplinären Unterfangen. Hier sprechen nicht mehr oder minder fähige Computational Neuroscientist miteinander, sondern Physiker/-innen, Mathematiker/-innen, Neurophysiolog/-innen, Psycholog/-innen, Informatiker/-innen u. a. Eine jede dieser Teilnehmer/-innen wurde zunächst im kanonischen Wissen ihrer Herkunftsdisziplin ausgebildet und trägt ausgehend von dieser Basis zum gemeinsamen Forschungsfeld bei.
Dabei zeichnet die CNS und die Kommunikationsweise im Feld aus, dass sie keine vorübergehende, projektförmig konstituierte Erscheinung ist, sondern ein auf Dauer gestelltes interdisziplinäres Forschungsfeld bildet. Und obgleich auch die Wissenschaftler/-innen, die wir im Feld interviewten, häufig noch in Zeitschriften ihrer Herkunftsdisziplinen publizieren, ist die CNS kein Ausflug für sie. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass CNS ein Feld darstellt, das im Rahmen der Kommunikation der beteiligten, aus verschiedensten Disziplinen herstammenden Wissenschaftler/-innen, selbst ausgebildet und institutionalisiert wird. Für diese Diagnose ist entscheidend, dass der Institutionalisierungsprozess der CNS, im Sinne von Berger und Luckmanns Institutionalisierungsthese, noch nicht allzu weit vorangeschritten ist.
Während es zwar bereits einige klassische Darstellungen der Zielsetzung und von allgemeinen Herangehensweisen für das Feld gibt, darunter die zitierte Feldliteratur von Koryphäen auf dem Gebiet wie Schwarz und andere, ist das Feld, sein Beobachtungsgegenstand und die zur Anwendung kommenden computerwissenschaftlichen Methoden und korrespondierenden Technologien, ist aktuell der Fortschritt selbst zu schnelllebig, als dass es zu einer weitreichenden Stabilisierung und damit zur Legitimation eines größeren Kanons von Rezeptwissen im Feld bereits gekommen sein könnte. Vielmehr scheint mir, als externem Beobachter, die Improvisation als innovatives Entwicklungskonzept (Kamoche und Pina e Cunha 2001) der CNS auf Dauer gestellt. Dieses Improvisationskonzept betrifft dabei – bis auf grundlegenden Konsens, der selbst aber nicht aus der CNS, sondern aus deren Herkunftsdisziplinen stammt, z. B. etablierte statistische Verfahren, hirnanatomische Erkenntnisse, Gesetze der Physik oder Mathematik – die zentralen Prozesse, die die CNS als spezifisches Forschungsfeld definieren, insbesondere die Modellierung von neuronalen Prozessen.
Dabei ist es eben dieser Improvisationscharakter als dauerndes Trial-and-Error-Verfahren, der maßgeblich für die spezifische Kommunikationsweise im Group-Talk ist und ihn dabei grundlegend von der Lecture-förmigen Vortragsweise (Goffman 1981) etwa in der zur Kontrastierung beobachteten Kommunikation im Rahmen eines geisteswissenschaftlichen Kolloquiums unterscheidet. Während es dort, abermals in Goffmans Worten, um die ‚Verpackung‘ geht, ist im Group-Talk der ‚Kuchen‘ selbst von zentralem Belang. Oder, um es in Anlehnung an die Jazzimprovisationsmetapher von Kamoche und Pina e Cunha (2001) auszudrücken: Jeder einzelne Ton im Group-Talk muss gehört und verstanden werden, um, gemäß des Trial-and-Error-Prinzips, aufgegriffen und weitergeführt oder verworfen werden zu können. Vor diesem Hintergrund wird auch der von mir zugrunde gelegte streng Verstehens-basierte Kommunikationsbegriff evident: Verstehen ist essenziell für die Improvisation.
Um dieses essenzielle Verstehen zu erzeugen, bedienen sich die Teilnehmer/-innen im Group-Talk daher einer möglichst alltagsweltlichen Kontaktsprache, die als Verbindungsglied zwischen den unterschiedlichen Teildisziplinen und den aus ihnen gewonnenen komplexeren Standards fungiert. Diese Alltagssprache ebnet für die mit heterogenen formaldisziplinären Wissensbeständen ausgestatteten Wissenschaftler/-innen den Weg zum Zugang des jeweils anderen, gestattet den Psycholog/-innen Zugang zur Welt der Physiker/-innen, den Informatiker/-innen Zugang zu den Biolog/-innen usw. In den geführten Expert/-inneninterviews wurde sehr deutlich, dass die Teilnehmer/-innen des Group-Talks sich dieser Bedeutung der Alltagssprache für das gegenseitige Verständnis in der CNS, sowohl im Rahmen des Group-Talks als auch darüber hinaus, im Kontext weiter gefasster Konferenzen, bewusst sind und sie stark reflektieren. Dies bestätigen auch die eigenen Beobachtungen im Feld. (Zugleich mag hierin ein Grund dafür bestehen, wieso viele Publikationen, die schließlich doch in hoch spezialisierten Fachjargons geschrieben werden, dann letztlich vor allem in Journals erscheinen, die disziplinär ausgerichtet sind.)
In der von mir beobachteten Face-to-Face-Kommunikation jedenfalls führt die Problemstellung der Multidisziplinarität des Auditoriums, einem reflektierten Rezipient/-innendesign folgend, zur Ausbildung einer stark alltagsweltlich geprägten Sprechweise. Wie ich zeigen konnte, ist diese wenigstens zwei von drei typischerweise konsekutiv prozessierten Teilepisoden des Group-Talks eigen, nämlich der Hinführung zum eigenen Forschungsthema und -ansatz sowie der Erläuterung des eigenen Modellierungsansatzes. Eine fachspezifischere (z. B. stark mathematische oder neurobiologische) Sprechweise setzt in der Regel erst im Bereich der Ergebnisdarstellung an. Diese wiederum ist typischerweise der Hauptgegenstand für die Darstellung in Journal-Artikeln. Zentral für den Group-Talk ist es, ein allgemeines Verständnis über die individuellen Herangehensweisen an eine klassische Problemstellung der CNS, z. B. der visuellen Informationsverarbeitung oder neurobiologischer Lernprozesse zu erzeugen und dabei die eigene Forschung, die solitär im Digitallabor vorangetrieben wird, durch die Gruppe legitimieren zu lassen. Zu diesem Zweck bedienen sich die Sprecher/-innen im Group-Talk einer möglichst verständlichen Bild-Kommunikation. Ist diese nicht gegeben, führt dies häufig zu energischen Widersprüchen, in denen, wie hier ebenfalls aufgezeigt wurde, eine allgemein verständliche Erklärung eingefordert wird. Bei aller Kenntnis über formale Grundlagen der Problemstellung kann ein solcher Mangel in der Kommunikation zu erheblicher Kritik und damit verbunden zu Ansehensverlusten in der Gruppe führen, worin die große Bedeutung des Rezipient/-innendesigns für die Kommunikation im Group-Talk deutlich wird.
Zugleich stellt aber auch dieses Rezipient/-innendesign die Hauptsprecher/-innen und die übrigen Teilnehmer/-innen des Group-Talks, wie wir sehen konnten, vor erhebliche Herausforderungen. Es ist somit Brücke und Hürde der Kommunikation zugleich. Als Brückenkonzept ermöglicht es die Inklusion der unterschiedlichen in der CNS vertretenen Disziplinen, als Hürde wirkt es, wenn von einzelnen Fachvertreter/-innen schließlich doch eine stärker formal-disziplinäre Darstellung eingefordert wird. Während die allgemeine Problemstellung hierbei aus der Außenstruktur des Group-Talks resultiert und die Gestalt der allgemeinsprachlichen (Bild-)Rhetorikregister sich aus dem Werkzeugkasten der Binnenstruktur heraus (re-)konstruieren lässt, obliegt es den spezifischen Merkmalen der situativen Realisierungsebene des Group-Talks, solche Schwierigkeiten in der Kommunikation in situ abfangen und reparieren zu können. Diese Merkmale, die den Group-Talk maßgebend von anderen Kommunikationsformen zu unterscheiden erlauben, ermöglichen es seinen Teilnehmer/-innen, spontan auf die Erfordernisse in der Kommunikation reagieren zu können, von vorgeplanten Scripten abweichen und neue, nicht ursprünglich vorgesehene Medien der Kommunikation, in ihre Ausführungen einbinden zu können. So kann es im Group-Talk auch in krisenhaften Momenten noch gelingen, intersubjektives Verstehen zu erzeugen, wenn in anderen Formaten, wie z. B. dem Vortrag, der hier als Kontrastfolie genutzt wurde, dem Auditorium nur mehr die stille Resignation als Ausweg aus dem Unverständnis verbleibt.
Wie sich gezeigt hat, spielen Visualisierungen im Feld tatsächlich eine hervorgehobene Rolle dabei, ein geteiltes Verständnis der vorgetragenen Wissenselemente herzustellen. Dabei hat sich zudem herausgestellt, dass diese Visualisierungen mit der jeweils zur Anwendung kommenden Sprechweise in den drei typisch unterscheidbaren Teilen des Group-Talks (Hinführung zur eigenen Fragestellung, Erläuterung des zugrunde gelegten Modells, Ergebnisdarstellung) korrespondieren. Während die ersten beiden Segmente des typischen Group-Talks vor allem auf einer möglichst breit verständlichen Redeweise basieren, wird diese sehr häufig von Alltagsbildern begleitet, die einen alltagsweltlichen Bezug und ein typisches Hineinversetzen der Zuhörer/-innen in den erläuterten Gegenstand ermöglichen sollen. Typischerweise erst der dritte und letzte Teil des Group-Talks, die Ergebnisdarstellung, greift schließlich auf formale oder fachspezifische Darstellungsweisen wie statistische Repräsentationen zurück, die neben Kurven auch Heatmaps, fMRT-Bilder u. a. umfassen. In diesem Teil des Group-Talks wird die alltäglichere Sprechweise, die eine möglichst leichte Verständlichkeit der vorgetragenen Erkenntnis ermöglichen soll, durch die jeweils korrespondierenden formalen (mathematischen, physikalischen, informatischen) bzw. fachspezifischen (medizinischen, biologischen) Jargons ergänzt.
Wie ich zeigen konnte, spielen Visualisierungen dabei auch für die Evidenzerzeugung eine erhebliche Rolle. Häufig erlauben sie es, eine zur Veranschaulichung eines eigenen Forschungsansatzes gebrauchte Analogie so zu illustrieren, dass sie widerspruchsfrei anerkannt wird, sodass ohne weitere Explikation zum nächsten Schritt im Group-Talk fortgefahren werden kann. In anderen Fällen dienen sie der Hauptsprecher/-in oder den übrigen Teilnehmer/-innen am Group-Talk dazu, Nachfragen zu stellen, nachzuhaken oder sogar, die aufgestellten Thesen, die sie illustrieren sollen, gänzlich in Frage zu stellen. Wie sich zeigte, sind sie dabei häufig die zentrale Referenz für den Fortgang einer Diskussion. An anderer Stelle, beispielsweise bei der Ergebnisdarstellung, sind sie wiederum dazu in der Lage, Forschungsresultate mit solcher Prägnanz und Aussagekraft auszustatten, dass deren Güte im wahrsten Sinne des Wortes evident, d. h. augenscheinlich hervortritt. Visualisierungen ermöglichen es in diesem Fall, die Beweise für die Richtigkeit der eigenen Arbeiten in einem Augenblick zu erfassen, deren Darstellung in sprachlicher Form allein vieler Worte bedürfte und allein schon daher wesentlich angreifbarer sein würde. Latour fasste diesen Umstand in die treffenden Worte: “You doubt what I say? I’ll show you” (1990, 36).
Daher zeigte sich aber auch, dass es nicht unbedeutend ist, welche Visualisierungen zur Veranschaulichung von Forschungsansätzen, Modellen oder Forschungsergebnissen ausgewählt werden. Während in gelungener Wissenskommunikation Bilder so eingesetzt werden, dass sie ein Verstehen der zur Anschauung gebrachten Ansätze, Modelle und Forschungsergebnisse erleichtern, kann der Einsatz von Visualisierungen auch zu erheblichen Widersprüchen und offenem Dissens führen. Vor diesem Hintergrund ist ein die Präsentation von Wissen begleitender Wissensbestand unter den Teilnehmer/-innen der CNS-Forschungsgruppe erforderlich, den wir präsentationales Wissen (Wilke, Lettkemann, Knoblauch 2018) genannt haben. Das präsentationale Wissen erst erlaubt es, Visualisierungen so einzusetzen, dass sie den Verstehensprozess der anderen tatsächlich befördern. Es basiert aber nicht nur darauf, Visualisierungen einzusetzen, das Wissen und die Sehgewohnheiten der anderen zu antizipieren, sondern zielt auch auf die Herstellung von Visualisierungen im Erkenntnisprozess selbst.
As we can see, the visual representation of research objects in CNS is directly connected to the difficulties of research in the natural sciences and the problems ensuing from big data. Researchers visualize their quantitative objects of research (e.g. counts of [neuro-]electric activity) in terms of everyday objects like two- or three-dimensional shapes (e.g. spike trains), colours (e.g. heat maps) and geometric forms (e.g. spirals). Once measured and reduced to numbers, the object in question is reified as a digital visual. As such, it is opened up for interpretation and communication processes. The researcher becomes a hermeneutic (re-)presenter of (technological) aesthetics (e.g. Mathlab). Therefore, successful researchers in the field have a very large degree of “visual literacy” (Goodman, 1994) and “präsentationales Wissen”. (Wilke und Hill 2019)
Die Feldteilnehmer/-innen verfügen als genuinen Teil ihrer Forschungsarbeit über große Erfahrung mit der Produktion von Visualisierung und der Erprobung neuer Visualisierungsweisen. Tatsächlich dient im transdisziplinären Feld der CNS, ganz im Gegenteil zum Feld der Hirnanatomie (Beaulieu 2002, 55), die Flut genutzter Bilder nicht allein der Realisierung eines antizipierten Fremdverstehens seitens eines nicht homogen formal-mathematisch informierten Fachpublikums, sondern vorgängig bereits der sinnlichen Aneignung des in seiner Sinnhaftigkeit unterbestimmten Zahlencodes der computeraufbereiteten Rohdaten durch die Forscher/-innen selbst. Im Feld erweist sich die Visualisierung der Daten daher auch z. B. für Mathematiker/-innen oder Physiker/-innen als unabdingbar, um die nummerische Objektivation in der Objektwelt der alltäglichen Wahrnehmung zu verstetigen und sinnlich und sinnhaft verstehbar zu machen. Hiervon zeugt insbesondere ein weiteres Zitat aus dem Interview mit der ausgewiesenen u.s.-amerikanischen Expertin auf dem Feld der CNS:
Diese Aussage steht in Kontrast zu Anne Beaulieus Erkenntnissen auf dem Feld der ‚Hirn-Atlas-Macher/-innen‘, die für die klinische Forschung und auf Grundlage von fMRT-Bildern Gehirnatlanten produzieren. Beaulieus Hirn-Atlas-Macher/-innen sind „iconoclastic imagers“ (ebd., 56), die sich vor allem durch eine tiefe Vergessenheit des Visuellen am Bild auszeichnen. Beaulieu erklärt dies mit Thomas Gieryns Konzept der „boundary work“ (1983) zwischen den Atlas-Macher/-innen und den klinischen Anwender/-innen ihrer Produkte. Letztere, so Beaulieu, sind im Selbstverständnis der Ersteren „those who look at images and interpret them […] those who have different or less technological support, a different expertise and goals that clearly differ, although they used some of the same technology“ (Beaulieu 2002, 65).
Wissenschaftler/-innen im Feld der CNS hingegen kennen keinen Ikonoklasmus. Im Gegenteil, das Visuelle ist im Feld allgegenwärtig und der korrespondierende, präsentationale Wissensbestand ist umfassend. Vor dem Hintergrund dieser Diagnose liegt daher auch die Vermutung nahe, dass diese Nähe zu Visualisierungen und Visualisierungspraktiken in der CNS eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung funktionaler Kommunikationsformen in dem ausgesprochen interdisziplinären Feld darstellen könnte. Auch Gieryns Grenzziehung, im Sinne der Desintegration von anderen involvierten Disziplinen, könnte der CNS in diesem Sinne nicht ferner liegen. Vielmehr basiert sie auf der Integration unterschiedlichster Disziplinen, auch der Hirnanatomie, und basiert dabei weitgehend auf Bildern und präsentationalem Wissen, d. h. ihrem Wissen über den für die Wissenskommunikation zwischen den unterschiedlichen Feldern nutzenbringenden Einsatz von Visualisierungen und neuen Visualisierungs- bzw. Repräsentationsformen.
Dieser Einsatz von Bildern in der Kommunikation steht, wie diese Arbeit aufzeigen konnte, freilich nicht für sich allein. Vielmehr ist er mit einem komplexen Gewebe verknüpft, das Strukturen auf sehr unterschiedlichen sozialen Aggregatsebenen miteinander verbindet und erst in dieser Kohärenz eine institutionell-institutionalisierte Lösung für die Herausforderung eines gesellschaftlich beschaffenen Problems darstellt. Ich möchte dieses Gewebe eine kommunikative Gattung, genauer, eine wissenschaftliche Diskursgattung nennen, obgleich die Definition des Gattungsbegriffs in der gattungsanalytischen Literatur, wie ich in dieser Arbeit zeigen konnte, durchaus als uneinheitlich bezeichnet werden darf. Während Bachtin, der als Erfinder der Gattungen des Sprechens gelten kann, von dessen allgemeiner Gattungsförmigkeit ausging und dadurch Bachtinsche Gattungen überall dort zu finden sind, wo Menschen überhaupt den Mund auftun, ist es der wissenssoziologischen Gattungsanalyse, allen voran bei Luckmann, durchaus daran gelegen, zu betonen, dass bei weitem nicht alles Sprechen, nicht einmal sein größter Teil, in Gattungen vollzogen werde. Dieser Ansatz setzt dem gattungsförmigen Sprechen spontanere Formen der Kommunikation entgegen, ohne allerdings, dass für dieses systematische Kriterien aufgezählt oder Beispiele genannt würden.
Für die vorliegende Arbeit soll daher der (vorläufige) Anspruch durchaus erhoben werden, dass es sich bei der untersuchten Kommunikationsform um eine kommunikative Gattung bzw. eine wissenschaftliche Diskursgattung handelt, da sie erstens einen Institutionalisierungsgrad aufweist, der stark genug vorangeschritten ist, sodass sie unabhängig von den jeweils Kommunizierenden und der Anwesenheit bestimmter Personen (wie etwa die des Forschungsgruppenleiters) ihre in dieser Arbeit beschriebene Gattungsförmigkeit in Aktualität beibehält.
Der Group-Talk weist zweitens typische Merkmale auf allen Ebenen der wissenssoziologisch definierten Kommunikationsgattung auf. Er ist durch eine Außenstruktur gekennzeichnet, die sich aus den makro- und mesosoziologischen Schalen konstituiert, die den Group-Talk als situatives Kommunikationsereignis umgeben. Außerdem weist er eine besondere Binnenstruktur auf, die aus bestimmten linguistischen Elementen und typischen visuellen, mediatisierten und performativen Aspekten des kommunikativen Handelns und dem präsentationalen Wissen besteht, diese Elemente in der interdisziplinären Wissenskommunikation zu verknüpfen. Schließlich besitzt er typische Merkmale auf der Ebene der situativen Realisierungsebene, deren Werkstatt-, Probebühnen- und Improvisationscharakter maßgeblich dafür sind, dass der Group-Talk tatsächlich eine dauerhafte Lösung für das Kommunikationsproblem innerhalb der CNS darstellen kann. Vor diesem Hintergrund stellt sich der Group-Talk als zu komplex dar, um ihn anstelle des Gattungsbegriffs lediglich als kommunikatives Muster oder Form zu begreifen. In diesem Sinne handelt es sich beim Group-Talk m. E. bis auf weiteres um eine kommunikative Gattung.
Die Einschränkung ‚bis auf weiteres‘ soll sich an dieser Stelle auf zwei wesentliche Punkte beziehen, die das Eingeständnis von gattungstheoretischen, methodologischen und empirischen Residuen als auch den Ausblick auf mögliche Anschlussforschungen umfassen. Zunächst erscheint es auf Grundlage dieser Arbeit wünschenswert, dass die wissenssoziologische Gattungsanalyse in kommenden Forschungsprojekten weiter ausgearbeitet wird. Sie stellt ein besonders wertvolles Werkzeug der empirischen qualitativen Sozialforschung dar, dies nicht zuletzt vor dem Hintergrund der aktuellen Zeitdiagnose der Kommunikationsgesellschaft. Während Kommunikation sich in der Gegenwartsgesellschaft von bisweilen rasant steigender Bedeutung erweist, muss im Kontext des KoKo konstatiert werden, dass sie wohl von jeher den empirischen Modus der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit darstellte. Diese Erkenntnis verdeutlicht unausweichlich, wie wichtig es für die verstehende Erforschung sozialer Phänomene ist, diese als kommunikative Erscheinungen und Konstruktionen zu erfassen und zu analysieren, die allem voran in und durch Kommunikation erzeugt werden und ihre gesellschaftliche Wirkung entfalten.
Vor diesem Hintergrund plädiere ich nicht nur dafür, die kommunikativ-konstruktivistische Perspektive in der qualitativen Forschung stets zu berücksichtigen und z. B. nicht soziologische Gegenstände von den in ihrem Kontext zu beobachtenden Kommunikationsprozessen getrennt zu betrachten, sondern konkreter auch dafür, den bereits von Luckmann ins Auge gefassten Kommunikativen Haushalt als Gegenstand sui generis zu fokussieren. Tatsächlich sind bei der bisherigen Analyse und Inventarisierung der kommunikativen Gattungen die Lücken noch zu groß, sodass schwerlich von einem Korpus die Rede sein kann, der dringend notwendig wäre, um konkretere Aussagen darüber treffen zu können, bei welcher Form es sich um eine Gattung handelt oder aber um eine Gattungsvariante, das Element eines Gattungssystems oder einer Gattungsverschachtelung.
Erst auf Grundlage eines erweiterten kommunikativen Gattungsinventars aber, einer umfassenderen Beobachtung, Analyse und Einordnung kommunikativer Gattungen, ließe sich schließlich auch eine Empirie-basierte wissenssoziologische Gattungstheorie entwerfen, die es erlauben würde, eine systematische Unterscheidung zwischen gattungsförmiger und spontaner Kommunikation zu treffen. Entsprechende Arbeiten stellen aus Sicht dieser Dissertationsschrift daher ein wesentliches Residuum sowohl im Bereich der empirischen qualitativen Sozialforschung als auch der Weiterentwicklung der wissenssoziologischen Gattungsanalyse und der Methodenentwicklung dar. Es verhält sich daher in diesem Bereich ein wenig wie mit der Soziolinguistik der frühen 70er Jahre, als, worauf ich in dieser Arbeit hingewiesen habe, Hymes beklagen musste, dass sein Konzept einer Ethnographie der Kommunikation, das seinerseits bereits auf den Forderungen Sapirs aus den späten 20er Jahren des 20. Jahrhunderts aufbaute, noch nicht weit fortgeschritten sei. Gemessen an ihren Aufgaben ist m. E. auch die wissenssoziologische Gattungsanalyse, obgleich sie bereits vor über 30 Jahren entworfen wurde, noch nicht weit genug vorangeschritten. Allerdings machen neuere Forschungsprojekte, die aber größtenteils noch nicht zu einem Abschluss oder zu ihrer Veröffentlichung gelangt sind, Hoffnung darauf, dass die Gattungsanalyse in der Soziologie einer Renaissance entgegensieht. Zu nennen sind hier die Arbeiten von Juliane Haus (2021), Lars Mojem, Necdet Coskun Aldemir u. a.
Dabei sollten in der wissenssoziologischen Gattungsanalyse in zukünftigen Arbeiten auch solche Gesellschaftsbereiche wie die Wissenschaft nicht ausgeschlossen werden, die, für die ‚neue Wissenssoziologie‘ untypisch, nicht im Alltag, sondern in Sonderbereichen zu verorten sind und dadurch eine starke außenstrukturelle Komponente aufweisen. Entsprechende Arbeiten könnten, und damit möchte ich zum Schluss kommen, eine wertvolle Vergleichsfolie für meine eigene Arbeit darstellen, sodass vor diesem Hintergrund letztlich auch entschieden werden könnte, ob der Group-Talk, den ich am Beispiel der CNS gattungsanalytisch analysiert habe, eine eigene wissenssoziologische Diskursgattung darstellt oder nicht. Bis zum Vorliegen dieser Arbeiten, an denen ich mich gerne in meiner zukünftigen wissenschaftlichen Arbeit beteiligen möchte, gilt er mir als eine Gattung – bis auf weiteres.
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Fußnoten
1
Der maßgebliche Unterschied zwischen Group-Talk und universitärer Vorlesung wurde bereits im Kontext der räumlichen Analyse dargestellt (Abschnitt 4.​1.​1). Der Unterschied zum allgemeineren Gattungsbegriff des Vortrags wurde in Abgrenzung zu den einschlägigen Ausführungen von Goffman herausgearbeitet Abschnitt 3.​1.​5 und Abschnitt 4.​3.​1).
 
2
Wie ich oben ausgeführt hatte, sind eigene Studiengänge im Bereich der CNS noch immer eher eine Seltenheit und auch das Fachgebiet des Leiters Wolf ist keines, das sich genuin der CNS widmet.
 
Metadaten
Titel
Zusammenfassung
verfasst von
René Wilke
Copyright-Jahr
2022
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-36704-6_5

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