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Open Access 2022 | OriginalPaper | Buchkapitel

4. Die Gattungsanalyse des Group-Talks

verfasst von : René Wilke

Erschienen in: Wissenschaft kommuniziert

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

Das Beispiel von Kellogg, Yates und Orlikowski (2006) dient mir im Folgenden als Überleitung zum empirischen Teil meiner Arbeit. Obgleich in einem Wirtschaftsunternehmen verortet erinnert die Situation dort an die des Group-Talks: Auch in der CNS-Gruppe ist die Kommunikationsarbeit mit laufender Digitisierung und Digitalisierung der (Forschungs-)Fortschritte verbunden. Wie bei AdWeb sind auch die Teilnehmer/-innen der beobachteten CNS-Forschungsgruppe unentwegt mit der ihr präsentationales Wissen charakterisierenden Sichtbarmachung, Repräsentation und Integration ihrer Arbeit beschäftigt, sowohl gegenüber internen als auch externen Teilnehmer/-innen der Organisation.
Das Beispiel von Kellogg, Yates und Orlikowski (2006) (siehe Abschnitt 3.​3.​1) dient mir im Folgenden als Überleitung zum empirischen Teil meiner Arbeit. Obgleich in einem Wirtschaftsunternehmen verortet erinnert die Situation dort an die des Group-Talks: Auch in der CNS-Gruppe ist die Kommunikationsarbeit mit laufender Digitisierung und Digitalisierung (siehe Abschnitt 2.​2) der (Forschungs-)Fortschritte verbunden. Wie bei AdWeb sind auch die Teilnehmer/-innen der beobachteten CNS-Forschungsgruppe unentwegt mit der ihr präsentationales Wissen charakterisierenden Sichtbarmachung, Repräsentation und Integration ihrer Arbeit beschäftigt, sowohl gegenüber internen als auch externen Teilnehmer/-innen der Organisation. Dafür bedienen sich beide Gruppen ähnlicher Gattungen (z. B. Präsentation). Hier wie dort stellt sich das Problem, im interdisziplinären bzw. trans-professionellen Diskurs, die eigenen Outputs so zu kommunizieren, dass sie von den anderen verstanden und in das gemeinsame Produkt integriert werden können. Sowohl für die Werber/-innen bei Kellogg et al. als auch für die Forscher/-innen, die ich beobachtet habe, gilt, dass das, was einmal integriert wurde, in das institutionelle Gedächtnis aufgenommen wird und für spätere Arbeiten als Blaupause fungiert. Hier wie dort kommt es so zur Stabilisierung (Institutionalisierung) eines Identitäts-stiftenden Kerns, eines spezifischen Wissensbestands, der bei AdWeb im Intranet, in der beobachteten CNS-Gruppe in typischen sprachlichen und visuellen Ausdrucksformen abgelagert wird.
Insbesondere aber ist die Situation bei AdWeb und in der CNS-Forschungsgruppe hinsichtlich der starken institutionellen Kontextualisiertheit der individuellen Tätigkeiten gekennzeichnet. Beider Orts unterstellen sich die einzelnen Akteure, die untereinander z. T. sehr heterogene (professionelle) Interessen haben, die sie (auch) innerhalb der Organisation (AdWeb bzw. Universität) verfolgen, freiwillig mit ihrem Eintritt in die formale Organisation deren (formalen und informellen) Zielen und Vorgaben. In diesen Zielen und Vorgaben, die die Richtschnur für die eigenen Arbeiten darstellen, müssen die Beiträge der Mitarbeiter/-innen aufgehen. Zentral für meine Analyse sind daher auch die institutionell-institutionalisierten ‚Schalen‘ auf der gesellschaftlichen Makro- und der organisationalen Mesoebene, die meinen auf der Mikro-Ebene gelegenen Forschungsgegenstand, den Group-Talk, rahmen und strukturieren. Im Folgenden Kapitel (Abschnitt 4.1 und 4.2) wende ich mich daher zunächst dieser äußeren Strukturierung zu, bevor ich zum ‚Kern‘ fortschreite (Abschnitt 4.3). Ich beginne die empirische Auseinandersetzung dabei auf der gattungsanalytischen Ebene der Außenstruktur. Die maßgebliche empirische Grundlage für deren Analyse beziehe ich aus den geführten Expert/-inneninterviews, der Videographie sowie der Kenntnis von Literatur und anderen Objektivationen aus dem Feld selbst.

4.1 Der Group-Talk und seine Außenstruktur

Zur Einleitung in dieses Kapitel möchte ich ein letztes Mal an meinen Vergleich von kommunikativen mit literarischen Gattungen erinnern. In Bezug auf die Binnenstruktur wurde in diesem Zusammenhang (Abschnitt 3.​2.​1) ein Unterschied von mir nicht thematisiert, nämlich dass kommunikative Gattungen i. d. R. keine konkretere Autor/-in als den sozialen Institutionalisierungsprozess kennen, wohingegen Theaterstücke ebenso regelmäßig eine individuelle Autor/-in aufweisen. Dieser Unterschied kann nun vor dem Hintergrund der Arbeiten von Kellogg et al. zu den organisationalen Kommunikationsgattungen relativiert werden, da sich zeigt, dass Organisationen (bzw. ihre Funktionär/-innen) die Autor/-innen (oder wenigstens Dramaturg/-innen) einer kommunikativen Gattung sein können: In Organisationen finden sich Bedingungen, die, z. T. von Vorgesetzten (mit-)bestimmt, von den organisationalen Strukturen (formal/informell) vorgegeben werden. So erweist sich die Nutzung spezifischer Gattungen bei AdWeb als organisationaler Zwang. Dieser Zwang in Organisationen soll hier, in Anlehnung an Durkheim (1999[1895]), als organisationale Tatsache betrachtet werden, an die sich Mitglieder der jeweiligen Organisation anpassen müssen.
Die Bedeutung der sozialen Tatsachen bzw. der sozialen Tatbestände für unser Handeln hob Durkheim bereits zum Ende des 19. Jahrhunderts in seinem Buch Die Regeln der soziologischen Methode (1999[1895]) hervor. Demnach variieren diese, ganz ähnlich den kommunikativen Mustern und Formen (Abschnitt 3.​2), in einem Kontinuum aus Verfestigungsgraden: von stark strukturiert bis zu (noch) nicht gefestigten ‚freien Strömungen‘. Soziale Tatsachen sind, so Durkheim, “mehr oder weniger kristallisiertes Leben” (ebd., S. 113). Sie bestehen aus mit unterschiedlichem Verfestigungs- bzw. Institutionalisierungsgrad ausgestatteten
besondere[n] Arten des Handelns, Denkens, Fühlens, deren wesentliche Eigentümlichkeit darin besteht, daß sie außerhalb des individuellen Bewußtseins existieren (ebd., S. 106).
Als „Typen des Verhaltens“ (ebd.) sind sie überdies mit einem immanenten Zwangscharakter ausgestattet, der z. B. bei Zuwiderhandlungen durch (negative) Sanktionen zum Ausdruck kommt. Diese Tatsachen sind dabei weder organisch, da sie aus „Vorstellungen und Handlungen“ erschaffen, noch psychisch, da sie überindividuell zu verorten (ebd., S. 107) sind, sondern ‚sozial‘. Durkheim zählt zahlreiche Beispiele für seine sozialen Tatbestände auf. Neben Kommunikationsregeln nennt er so unterschiedliche gesellschaftliche Institutionen wie soziale Rolle, Erziehung, Religion, Konvention, Wirtschafts- und Produktionsweise, politische Strukturen, Infrastrukturen, Wohnformen und soziale Strömungen. Ihnen ist gemein, dass sie soziale Sinnzusammenhänge darstellen, die unserem Handeln als Richtschnur dienen.
Im Folgenden werde ich die außenstrukturellen Aspekte des Group-Talks, die hier thematisiert werden sollen, als organisationale Tatsachen betrachten, da ihre Existenz von konkreten Organisationen herrührt. So wurde z. B. das Kommunikationsformat, dessen Analyse hier zentral ist, in Einklang mit universitären Konventionen durch Wolf1 festgelegt, der Forschungsgruppenleiter der beobachteten Gruppe ist. Als Vorbild für den Group-Talk diente ihm dabei das universitäre Kolloquium, d. h. das regelmäßig stattfindende Fachgebiets- oder Institutstreffen („institutional talk“ (Rendle-Short 2006)), das der Vorstellung der Arbeit von internen oder externen Expert/-innen auf dem entsprechenden Forschungsgebiet dient und auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften verbreitet und populär ist.2

4.1.1 Die Universität und das Fachgebiet3

Wie erwähnt findet der Group-Talk als regelmäßiges Arbeitstreffen der untersuchten Forschungsgruppe in einem Seminarraum einer deutschen Universität statt. Dadurch ist er stark präfiguriert. Während die Universität formal vorgibt, dass es sich bei ihren Räumen um „Ort[e] der Wissenserzeugung“ (Capurro 2007, 49) handelt, definieren die Institute und Fachgebiete der Universität, um welche Art von Wissen es sich dabei handeln muss. Die Ziele und Aufgaben der beobachteten Forschungsgruppe sind damit eingegrenzt. Rafael Capurro betont dabei aber, dass die räumliche Metapher der Universität als Ort der Wissenserzeugung nicht lediglich als Eingrenzung, sondern, im Sinne der Eröffnung eines durch Fachleute konstituierten Horizonts (ebd., S. 48), auch als Entgrenzung verstanden werden darf. Es soll sich demnach bei dem, was an einem Fachgebiet als inhaltlich definierte, organisationale Struktureinheit geschieht, um eine thematisch eingegrenzte wissenschaftliche Kommunikation handeln, die offen ist für das, was außerhalb von ihr geschieht und so auch den Blick auf das Nicht-Gewusste eröffnet (ebd.).
Diesem Ideal ist auch die Forschungsgruppe rund um Wolf verpflichtet, umso mehr, da sich die CNS als genuin interdisziplinäres Forschungsfeld versteht. Die grundlegenden Ziele der Gruppe um Wolf, die in Kommunikation (Mikro) zu realisieren sind, werden daher auf institutionellen Ebenen, die den Group-Talk umgeben, seitens der Gesellschaft (Makro), der Universität und ihrer thematischen Gliederung in Institute und Fachgebiete (Meso) vorgegeben. Angesiedelt ist Wolfs Fachgebiet an einem Institut für Informatik. Wolf selbst ist Physiker. Sein Lehrstuhl, den er seit der Gründung innehat, war gemäß der ursprünglichen Ausschreibung und Bezeichnung einem recht anderen Bereich der KI-Forschung als der CNS gewidmet: Er sollte sich mit dem ingenieurwissenschaftlich geprägten Machine Learning (Neuronale-Netze-Ansatz4) beschäftigen, das heute, anders als die CNS, keinen Anspruch mehr auf biologische Plausibilität seiner Modelle erhebt.
Die Gelder für die Ersteinrichtung von Wolfs Professur stammten u. a. aus einem Innovationsförderprogramm des ehemaligen Bundesministeriums für wissenschaftliche Forschung (BMWF), das der Förderung des zum damaligen Zeitpunkt besonders populären Neuronale-Netze-Ansatzes verschrieben war. In einem Interview legte Wolf allerdings detailliert dar, dass seine Forschungsbiografie als Physiker maßgeblich von seinem großen Interesse an biologischen Fragestellungen getrieben gewesen sei. Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch die von ihm betriebene informelle Umwidmung seines Lehrstuhls vom ingenieurwissenschaftlich geprägten Neuronale-Netze-Ansatz zu den biologisch plausibl(er)en Modellen der CNS. Im Interview erläuterte er mit Bezug auf die ursprüngliche Ausschreibung seiner Stelle, er
Erst durch Wolfs Neuausrichtung des (ursprünglich stark ingenieurwissenschaftlich) geplanten Fachgebiets, die eng mit seiner forschungsbiografischen Entwicklung auf dem Gebiet der CNS verknüpft war und zugleich auf seinen persönlichen Forschungsinteressen beruhte, erklärt sich, dass die Forschungsgruppe am Fachgebiet (CNS-typisch) so heterogen angelegt wurde, nämlich unter starkem Einbezug systembiologischer, hirnanatomischer, psychologischer und anderer an den Funktionsweisen organischer Systeme orientierter Disziplinen.
Hier wird einerseits die Bedeutung der Universität als Bündel von organisationalen Tatsachen des Group-Talks deutlich (Ort der Erzeugung von Wissen, thematisch gegliederte Organisation, Stellen und Ausschreibungen). Zugleich zeigt sich aber in Wolfs Einfluss auch, dass diese Tatsachen in Organisationen einen konkreten, individuellen ‚Autor‘ aufweisen können. Deshalb steht z. B. auch die gattungsförmige Kommunikation in organisationalen Kontexten in engem Zusammenhang mit institutionell verliehener Kommunikationsmacht (Reichertz 2009). Wolf war es, Kraft der Position, die ihm durch die Universität verliehen wurde, möglich, eigene Schwerpunkte zu setzen, die strukturelle Auswirkungen auf die thematische und personelle Zusammensetzung seiner Forschungsgruppe und ergo die Kommunikationssituation hatten.
Im Feld wird der Unterschied, den Wolf macht, in vielen Hinweisen darauf verdeutlicht, dass die biologische Plausibilität der zu entwickelnden Modelle in der Gruppe prioritär sei. Dies entspricht nicht dem ursprünglich angedachten formalen Ansatz des Fachgebiets, allerdings ganz und gar dem eingangs erläuterten doppelten Anspruch der CNS, zum einen Erkenntnisse über das (menschliche) Hirn entwickeln zu wollen und zugleich die KI-Forschung voranzutreiben. Modelle, die im Rahmen der Gruppe auch für die KI-Forschung entwickelt werden sollen, müssen dabei stets an der Funktionsweise organischer Intelligenz orientiert sein. Mit anderen Worten: Wolfs Fachgebiet repräsentiert (auch) einen Strang der KI-Forschung, aber nur insofern, als dass die hier entwickelten Modelle nicht allein technische Systeme zum Wirken bringen sollen, sondern die interne Funktionslogik dieser Modelle, die Art, in der die Wirkung hervorgebracht werden soll, zudem biologisch plausibel ist, d. h. sie soll am Prozess der neuronalen Informationsverarbeitung orientiert sein und dabei nicht zu stark vereinfachen.
Neben die starke inhaltliche Präfiguration des Group-Talks durch das Forschungsfeld, das Fachgebiet, das Institut und die Universität als Ort der Wissenserzeugung, treten weitere organisationale Tatsachen der Kommunikation im Group-Talk, die der spezifischen Art des umbauten Interaktionsraums (Hausendorf und Schmitt 2013, 4) geschuldet sind, den die Universität als physischer Ort dar- und verpflichtend bereitstellt. So wurden Wolf die Räumlichkeiten, die sein Fachgebiet belegt, von der Instituts- oder Universitätsverwaltung zugewiesen. Das bedeutet, dass er oder andere Teilnehmer/-innen vermutlich keinen Einfluss darauf hatten in welchen Räumlichkeiten sich die Forschungsgruppe installieren konnte. Zudem gehört das Fachgebiet, dass sich im Theoriebereich verorten lässt, nicht zu der Kategorie wissenschaftlicher Disziplinen, die seitens der Universität oder Drittmittelgeber/-innen die Notwendigkeit einer besonderen Ausstattung der zugewiesenen Räumlichkeiten (z. B. Labor) geltend machen könnte. Schließlich verfügte das Fachgebiet neben Einzel- und Doppelbüros über keinen speziellen Workshop- oder Institutsraum. Entsprechend fiel die Wahl auf den größten Raum, der der Forschungsgruppe am Fachgebiet zur Verfügung stand, einen kleinen Seminarraum, der für ca. 30 Personen Platz bot (Abbildung 4.1). (Da hier keine Lehrveranstaltungen oder überhaupt andere Veranstaltungen als der Group-Talk stattfanden, liegt die Vermutung nahe, dass die Universität Wolf, in Ermangelung einer Alternative in dem Gebäude, in dem das Fachgebiet beheimatet war, diesen Raum anstelle eines Workshop- oder Versammlungsraums zur Verfügung gestellt hat.)
Viele moderne Seminarräume zeichnen sich durch eine typische „Interaktionsarchitektur“ (ebd., S. 5) aus, d. h. sie stellen „architektonische Erscheinungsformen“ dar, die „als Lösungen für interaktive Probleme“ (ebd.) rekonstruiert werden können. Der Seminarraum, in dem der Group-Talk stattfand, stellte hier keine Ausnahme dar. Es handelte sich um einen rechtwinkligen oder nahezu quadratisch geschnittenen Raum von ca. 70 Quadratmetern, der entlang eines langen Flures gelegen war, von dem aus die übrigen Räumlichkeiten des Fachgebiets zu erreichen waren. Mittels Leichtbauwänden war der Raum von den ihn flankierenden Büros separiert. Da er im Zentrum des Fachgebiets gelegen war, stellte seine Lage sicher, dass die Gruppenteilnehmer/-innen zügig aus ihren Büros zum Group-Talk gelangen konnten.
Die Inneneinrichtung bestand aus beweglichen Zweier-Tischen, einer entsprechenden Bestuhlung und einem Whiteboard. Die Möblierung sowie die Tatsache, dass der Raum über zwei Türen verfügte, sodass er leicht in zwei Räume, z. B. weitere Büros oder ähnliches aufgeteilt werden konnte, legen seitens der Raumplaner/-innen einen an Flexibilität und Effizienz orientierten Gestaltungsgedanken nah. (Eine der beiden Türen (Position I in Abbildung 4.1) war im Rahmen der aktuellen Benutzung allerdings dauerhaft abgesperrt und darüber hinaus i. d. R. durch Gegenstände wie ein gelegentlich aufgestelltes Flip-Chart völlig verdeckt). Die Interaktionsarchitektur erweist sich hier allgemein als in erster Linie an einer möglichst breiten Anwendungsvielfalt und Beliebigkeit gegenüber dem Wechsel von Nutzer/-innengruppen orientiert.
Dies zeigt sich insbesondere an den mobilen Tischen und Stühlen, die man auch in Klassenzimmern findet. Sie können, dem jeweiligen Bedarf genügend, jederzeit verstellt, zur Seite geschoben, gestapelt oder in unterschiedlichen Konstellationen neu arrangiert werden. Einerseits entsprechen sie so dem prototypischen Mobiliar entindividualisierter Masseneinrichtungen. Andererseits kommt dabei ein demokratisches Verständnis von Architektur zum Ausdruck, die den Raum potenziell zu einem tatsächlichen Interaktionsraum macht, d. h. zu einem „mit und durch Interaktion geschaffenen Raum“ (ebd., S. 4). In ihm gibt die ausrichtende Institution die räumliche Orientierung der Interaktion in deutlich geringerem Maße vor als dies etwa bei einem anderen Typ universitärer Räume, dem Hörsaal, der Fall ist:
In den aufsteigenden fest montierten Sitzreihen mit den aufklappbaren Schreibflächen eines Hörsaals […] manifestiert sich die Erwartung, dass sich Interaktionsteilnehmende in grosser (sic!; R.W.) Zahl als nach vorne und unten orientierte „Zuhörer“ und „Zuschauer“ mit der entsprechenden Aufmerksamkeits-, Sitz- und Verweildisziplin sowie Mit- und Aufschreibdisziplin am Interaktionsereignis „Vorlesung“ beteiligen. Die Architektur der Sitzreihen materialisiert diese Erwartung – und macht sie in genau diesem Sinne selbst erwartbar (als Erwartungserwartung bzw. Norm). Das lässt sich sehr weitgehend an den Details der wahrnehmbaren architektonischen Erscheinungsform selbst ‚ablesen‘, die auf diese Weise als Lösung für ein spezifisches Situierungsproblem des Typs „Vorlesung“ rekonstruiert werden kann. (Hausendorf und Schmitt 2013, 13)
In seiner absichtsvollen Unterbestimmtheit hingegen ist der Seminarraum, durch seine Ebenerdigkeit und sein bewegliches modulares Mobiliar, einerseits für viele potenzielle Nutzungsweisen geeignet. So eröffnet seine Innenarchitektur die Möglichkeit der interaktiven Raumgestaltung, die von den Interagierenden selbst an den jeweiligen Kommunikationszweck bzw. an unterschiedlichste Kommunikationsweisen angepasst werden kann. Andererseits kommt in dem Mobiliar ein (pädagogisches) Konzept der Kommunikation zum Ausdruck, dass im Kontext der zunehmenden Diskursivierung westlicher Gesellschaften in den 1960er und 1970er Jahren entstanden ist (Abschnitt 2.​2.​3) und dabei maßgeblich auf die Entlastung der Kommunikation von sozialstrukturellen Faktoren wie Alter und Status zielte.
So sollte es in Seminaren nach Sokratischem Vorbild darum gehen, anders als in dem älteren universitären Format der Vorlesung eines über zahllose Sitzreihen entfernt dozierenden Professors oder berühmten Experten, einer (situativ) nivellierten, (kleineren) Teilnehmer/-innenzahl, die gleichen Rechte einzuräumen, sich an der stattfindenden (wissenschaftlichen) Kommunikation zu beteiligen (M. Mead 1968, 3):
The seminar is a device by which the student can be temporarily accorded a podium from which to speak to his peers and his seniors with the right to challenge and be challenged (ebd., S. 4).
Wobei bereits M. Mead den Zusammenhang zwischen der Nivellierung von Kommunikationshierarchien, Raumgestaltung bzw. „Situierung“ (Hausendorf und Schmitt 2013, 8) und der Teilnehmer/-innenzahl in der Situation herausstellte. Dies wird schon in dem Titel ihrer Publikation „The Small Conference“ (Mead und Byers 1968) deutlich. Und auch ihre Definition der ‘Kleinen Konferenzen’ betont diesen Aspekt explizit:
It is within these world-wide trends that the small substantive conference has developed, distilled from a stream of historical forms. The word itself is still used rather loosely and it is one of the purposes of this work to give it greater specificity. I shall use the word conference for a group small enough to sit around one large table, called together for a specific purpose, at a specific place, for a limited time, once, or at specified intervals in a series of designated length to consider new aspects of a specified topic. (M. Mead 1968, 5)
Paradoxerweise, trotz des ursprünglich Sokratischen Ansatzes von Seminaren und der unzweifelhaften Notwendigkeit spezifischer interaktionsarchitektonischer Erfordernisse für diesen Zweck, sind viele universitäre Seminarräume, trotz der bildungspolitisch umgesetzten flächendeckenden Ausstattung mit flexiblem Mobiliar, heute wieder in der klassischen Frontalstellung aufgebaut. In realiter wird offensichtlich häufig kein Gebrauch von dieser mobiliar ermöglichten Flexibilität gemacht. Dies mag u. a. den Gruppenstärken in typischen Seminarkontexten geschuldet sein.) Der Group-Talk stellt hier keine Ausnahme dar. Auch die beobachtete Forschungsgruppe nutze ihren Seminarraum stets in frontaler Bestuhlung.
Die Sitzplätze ergaben sich in diesem Frontalsetting entlang von drei Reihen aus jeweils mehreren Zweiertischen (Abbildung 4.1). Die räumliche Orientierung wurde dabei durch die Anordnung der Stühle vorgegeben, wobei die Teilnehmer/-innen sich dem Setting anpassten, indem sie die durch die Stühle implizierte Ausrichtung im Raum, im Sinne einer „Normalformerwartung“ (Hausendorf und Schmitt 2013, 16), übernahmen und so die den Stuhlreihen gegenüberliegende Wand als ‚vorne‘ markierten. Dadurch konstituierte sich zugleich mit dem wachsenden Abstand der hintereinander aufgebauten Sitzplätze zu diesem Vorne eine Topografie, die von den Teilnehmer/-innen implizit, wenigstens zum Teil, auch als sozial verräumlichende bzw. kommunikative Karte interpretiert wurde. So konnten wir z. B. beobachten, dass immer wieder dieselben Personen ein und denselben der Sitzplätze einnahmen. Wolf etwa saß stets auf demselben Platz in der ersten Reihe.
Der Hauptsprecher/-in stand in diesem Setting, um das klassisch frontale Ensemble zu komplettieren, ein einzelner Seminartisch zur Verfügung, der sich mittig an die dritte, vorderste Reihe der Zuhörer/-innentische anschloss. Dadurch sowie abermals durch die Orientierung des zugehörigen Stuhls in entgegengesetzter Richtung wie die anderen, gab er die räumliche Ausrichtung der Sprecher/-in frontal gegenüber den übrigen Sitzplätzen vor. Die sich daraus ergebende räumliche Konstellation bzw. Situierung der Teilnehmer/-innen wurde im Beobachtungszeitraum stets unverändert beibehalten. Lediglich bei starker Frequentierung wurden einige überzählige Stühle, die sich in der übrigen Zeit mehr oder minder unsortiert an der rückwärtigen Wand des Raums stapelten, von den Nachrücker/-innen aufgestellt, um sitzend am Group-Talk teilnehmen zu können.
Während die Interaktionsarchitektur im Seminarraum des Group-Talks also prinzipiell mobil war und dabei dem Kommunikationsbegriff entsprach, der dem Seminar als Ort des Wissensaustauschs geschuldet ist, wurde der Raum von der Gruppe tatsächlich in Form einer Frontalkonstellation und somit unflexibel bzgl. der räumlichen Anordnung genutzt. Dies kann nicht allein mit der Gruppengröße erklärt werden, da diese stark schwankte. Häufig war die Gruppe daher nicht zu groß, um M. Meads Anspruch an ‚Runde-Tisch-Kommunikation‘ als Idealfall von Seminaren und ‚Kleinen Konferenzen‘ zu genügen, der maßgeblich auf der interaktionsarchitektonisch herzustellenden, gleichberechtigten wechselseitigen Wahrnehmung aller Teilnehmer/-innen basiert. Auch die Erklärung, der situative Umbau in eine am Ideal des Seminars orientierte Form sei aufgrund einer effizienten Nutzung der Zeit unterlassen worden überzeugt nicht, da Zeit z. B. regelmäßig darauf verwendet wurde, die technische Infrastruktur aus Beamer, Laptop und Verlängerungskabeln zu jedem Group-Talk neu zu installieren.
Die von der Universität teilweise vorgegebenen Umstände des räumlichen Settings haben sicher ihren eigenen Anteil an der Gestaltung der Kommunikation im Group-Talk und sollten daher an dieser Stelle, im Kontext seiner Außenstruktur, als organisationale Tatsachen nicht unerwähnt bleiben. Einerseits lässt sich hypothetisch argumentieren, dass sich in anderen, z. B. stärker räumlich und technisch vorstrukturierten Settings, mit fest installierten Möbeln und technischen Infrastrukturen (z. B. Hörsaal), völlig andere Kommunikationsformen für den Group-Talk entwickelt haben könnten. Andererseits ist es tatsächlich so, dass die den Raum hierarchisierende Inneneinrichtung, die klar zwischen vorne und hinten diskriminiert und diese Unterscheidung den Teilnehmer/-innen des Group-Talks damit aufdrängt bzw. auch in Bezug auf das Teilnahmeformat und die jeweilige Inklusion in die Gruppe(-nkommunikation) nahelegt, jederzeit der Veränderung offenstand. Wolf und/oder die anderen Teilnehmer/-innen hätten die Sitzordnung, etwa im Zuge der Einrichtung der technischen Infrastruktur im Raum, jederzeit und mit relativ wenigen Handgriffen ändern können, wenn sie die Frontalkonstellation als Problem wahrgenommen hätten. Universitäten, die Seminarräume mit beweglichen Tischen und Stühlen ausstatten, sind nicht dafür verantwortlich, wenn die damit verbundene Flexibilität von den Nutzer/-innen nicht als solche wahrgenommen bzw. umgesetzt wird.
M. Mead, die in ihren ‚Kleinen Konferenzen‘ (M. Mead 1968) ihren eigenen Idealtyp von (auch explizit: interdisziplinärer (ebd., S. 10 f.)) Wissenskommunikation entwirft, betont nicht zuletzt die Bedeutung des räumlichen Settings für das, was Habermas einen von hierarchischen Verzerrungen „herrschaftsfreien Diskurs“ (ebd.) (Habermas 1981, 149 ff) nennt: Während in vielen Architekturen Vorstellungen von Ungleichheit fest eingebaut seien (M. Mead 1968, 4, Hausendorf und Schmitt 2013, 3 f.), wie am Beispiel des Hörsaals als weiterer Typ universitärer Räume deutlich wird, bedürften die ‚Kleinen Konferenzen‘, gemäß ihres Seminarcharakters, als Orte des schnellen Wissensaustauschs (M. Mead 1968, 9), der Ideenentwicklung (ebd., S. 3), der Konzeption gemeinsamer Ausdrucksschemata (ebd.) und der Selbstversicherung (ebd., S. 6), einer ‚idealen Sprechsituation‘, d. h. völliger Gleichheit aller Teilnehmer/-innen: Ungeachtet ihrer Erfahrung, ihrer Position, ihres Geschlechts usw. Vor diesem Hintergrund und im Kontext eines verstehenden Ansatzes, wie ich ihn in meiner Arbeit verfolge und der explizit keinen Wissensvorsprung gegenüber den ‚Praktiker/-innen‘ in dem von mir beobachteten Feld behauptet, muss daher davon ausgegangen werden, dass eine völlig nivellierte, von der Last der Ungleichheit befreite Kommunikation im Group-Talk, strukturell durch Wolf, nicht vorrangig angestrebtes Ziel der Kommunikationssituation unter den Teilnehmer/-innen war.
In dieser Interpretation der Frontalkonstellation des inneneingerichteten Settings spiegeln sich durchaus einige Aspekte der tatsächlichen Realisierung (Abschnitt 4.3) des Group-Talks deutlich wider: Darunter einerseits die autoritäre Rolle des Forschungsgruppenleiters, der von immer demselben Platz in der ersten Reihe aus genau über die Einhaltung der Normen und Werte wachte, die sein Fachgebiet sowie seine Forschungsgruppe charakterisierten. Darüber hinaus die kommunikativen Rollen, die einige der Teilnehmer/-innen als Sprachrohre der einen oder anderen Domäne im Group-Talk einnahmen und dabei eine interne Hierarchie der Wortmeldungen konstituierten, die nicht deckungsgleich mit institutionellen Rollen, etwa in Form von Prä- und Postdoktorand/-innen-Positionen war. Der Beitrag dieser Personen bestand auch darin, die anderen z. T. weniger erfahrenen Teilnehmer/-innen in die allgemeinen von Wolf und seinen langjährigen Mitarbeiter/-innen institutionalisierten Gepflogenheiten der lokalen Interaktionsordnung einzuführen bzw. in diesem Sinn zu sozialisieren. Schließlich die Position weniger selbstsicherer und sich selbst im Kontext der herausfordernden interdisziplinären Konstellation der Forschungsgruppe hinterfragender Teilnehmer/-innen, die sich regelmäßig auf den hinten gelegenen Sitzplätzen im Raum niederließen und nur selten eigene Wortbeiträge hatten. All diese Elemente der räumlichen Strukturierung des Group-Talk bzw. der räumlichen Situierung seiner Teilnehmer/-innen stehen dabei offensichtlich in Zusammenhang mit anderen außenstrukturellen Faktoren bzw. organisationalen Tatsachen, die ihrerseits einen wesentlichen Einfluss auf die Kommunikationsweise im Group-Talk hatten, nämlich die Normen und Werte, denen im Folgenden ein eigenes Unterkapitel (4.1.2) gewidmet ist.
Bevor ich dazu komme, möchte ich, abschließend zu den außenstrukturellen Merkmalen des physischen Raums, noch ein weiteres Mal auf die technische Infrastruktur zu sprechen kommen, von der ich oben kurz sagte, dass sie wöchentlich aufs Neue installiert werden musste. Auch in diesem Umstand spiegelt sich tatsächlich ein typisches Charakteristikum des Group-Talks auf Ebene der situativen Realisierung wider, nämlich sein Werkstattcharakter. Die technische Improvisiertheit ist durchaus typisch, auch für die Inhalte der Kommunikation. Hierbei trägt der Group-Talk tatsächlich die Züge der ‚Kleinen Konferenzen‘: Geht es doch, anders als bei der Vorlesung (Goffman 2005b), bei Group-Talks (sowie bei Meads ‚Kleinen Konferenzen‘) nicht darum, fertige Texte zu verlesen, die anderenfalls lesend rezipiert werden könnten, sondern vielmehr um das, was man mit Goffman und der CA als ‚Reden in Interaktion‘ bezeichnen könnte. So kann die technische Improvisiertheit des Group-Talks als Merkmal seiner situativen Realisierung auch als starkes Unterscheidungskriteriums dieses Formats gegenüber der ‚polierten Oberfläche‘ feierlicherer Vorträge verstanden werden, die der Form nach ganz der Repräsentation von Erfolgen und dem Ruhm der Vortragenden und der ausrichtenden Institution gewidmet sind. Ganz im Gegenteil dazu erzeugte der Werkstattcharakter des Group-Talks, der vorgängig notwendige, improvisierende technische Aufbau, zwischen der Suche nach einem geeigneten Platz für Laptop und Beamer und der Bändigung des entstehenden ‚Kabelsalats‘, auch den Raum für Seitengespräche, wenigstens mit der ersten Hauptsprecher/-in des Talks, die zum zeitigen Erscheinen gezwungen war, um diesen Aufbau zu bewerkstelligen (u. a. musste der Beamer zunächst aus dem Sekretariat abgeholt werden etc.). Hierdurch ergaben sich häufig informellere Kommunikationen in Form typischer Prä-Sequenzen zum Group-Talk, für die formalere Vorlesungen in Hörsaal-artigen Settings weniger Raum bieten.5 Auch scheint diese ‚institutionalisierte Improvisation‘ geradezu dazu geschaffen, um die Spontaneität im Group-Talk zu fördern, was in statischeren Settings, etwa in Hörsälen mit festinstallierter technischer Anlage, schwerer fallen würde. So konnte im Group-Talk beispielsweise auf die Nachfrage einer Teilnehmer/-in hin jederzeit und sehr schnell unkompliziert von der Digitalfolie, die gegenüber den Zuhörer/-innen auf die nackte Wand projiziert wurde, auf das seitlich angebrachte Whiteboard gewechselt werden, das sich als einziges Kommunikationsinstrument festinstalliert im Raum befand (Abbildung 4.1).

4.1.2 Normen und Erwartungen

Neben Faktoren wie der historischen Genese der Forschungsgruppe, der Verortung im universitären Wissenschaftsbetrieb und der inhaltlichen wie architektonischen Determiniertheit der Kommunikation, zählen auch spezifische Förderstrukturen im Feld der CNS, einschließlich breiterer Initiativen des Agenda-Settings und weitere organisationale Tatsachen zur Außenstruktur des Group-Talks hinzu. Nennen möchte ich hier zunächst Normen und Erwartungen, die Wolf vor dem Hintergrund seiner persönlichen Forschungsinteressen in der von ihm gegründeten Gruppe etabliert hat (Lettkemann und Wilke 2016) und die nicht nur implizit im Group-Talk zum Ausdruck kamen, sondern in der Gruppe durchaus auch explizit verhandelt wurden. Hierzu zählen, neben der internen Vernetzung der Forschungsgruppenmitglieder im Rahmen des Group-Talks, auch dessen Formalstruktur, d. h. seine konkrete zeitliche wie räumliche Terminierung, sein für die Gruppenteilnehmer/-innen verpflichtender Charakter, seine stark diskursive Form, in der allen Teilnehmer/-innen jederzeit eine Fragestellung und/oder Kommentierung des Vortrags gestattet ist sowie, last but not least, die Normen der Darstellung, die, bei notwendigem Rückgriff z. B. auf vereinfachende Visualisierungen, auch die formale Repräsentationskonvention mittels mathematischer Gleichungen nicht vernachlässigen durfte.

4.1.2.1 Normen in der Selbstthematisierung I

Die explizite Thematisierung solcher Normen und Werte konnten wir häufiger in den oben angesprochenen Seitengesprächen beobachten, die sich typischerweise (aber nicht regelmäßig) vor dem Group-Talk und während bzw. nach dem Aufbau der technischen Infrastruktur ergaben. Im Folgenden werde ich eine umfangreiche Präsequenz (Abschnitt 3.​1.​4) analysieren, die eine derartige Thematisierung zwischen den Teilnehmer/-innen des Group-Talks darstellt und die wir glücklicherweise videographieren konnten, da wir unseren eigenen technischen Aufbau, in der Kenntnis darum, dass durch die Hauptredner/-in des Group-Talks allerlei Vorbereitungen im Raum zu treffen sind, bereits zeitig begonnen hatten und unsere Kameras daher schon liefen, bevor der eigentliche Group-Talk begonnen hatte.6
Um einen genauen Einblick in mein Vorgehen bzw. konkret in das von mir eingangs (Abschnitt 1.​2.​3.​1) beschriebene mehrstufige Analyseverfahren meiner Interpretation von videographischen Daten zu geben, habe ich mich dazu entschieden, dieser ersten hier analysierten audio-visuellen Sequenz exemplarisch mein tabellarisches Analyseprotokoll voranzustellen (Tabelle 4.2). Derartige Tabellen waren mir zu Beginn einer Sequenzanalyse hilfreich: Unter Verwendung des Transkripts (Spalte 1), das ich bereits vorgängig angefertigt hatte, konnte ich so zeilenweise die auf Ebene der Interaktion (Spalte 2) und Konversation (Spalte 3) für meine spätere Detailanalyse relevanten Momente festhalten. In weiteren Spalten habe ich zudem Notizen verfasst, die sowohl Explikationen meines ethnographisches Wissens (Spalte 4) sowie bereits Ansätze für erste basishermeneutische Interpretationen (Spalte 5) der jeweils notierten interaktions- oder konversationsanalytischen Ereignisse darstellen. Bei diesem Protokoll handelt es sich um ein prozessproduziertes Forschungsdokument, das ursprünglich nicht zur Veröffentlichung gedacht war. In seiner unaufgeräumten Kurzschrift erinnert es an klassische ethnographische Feldnotizen. Ich füge es hier ein, da es den Nachvollzug meiner Vorgehensweise exemplarisch dokumentiert.7
Ich gebe die ausgewählte Sequenz im Folgenden ungekürzt wieder. Dabei nehme ich in Kauf, dass so nicht nur die analytisch dichteren Datenfragmente in Betracht geraten, sondern unweigerlich auch solche Passagen wiedergegeben werden, die sich als von geringerer Ausbeute erweisen. Meine Entscheidung zugunsten dieser Darstellungsweise hat vor allem zwei Gründe: Zum einen erscheint es mir relevant, den Verlauf der Konversation in dem natürlichen, von den Feldteilnehmer/-innen bestimmten und strukturierten Ablauf wiederzugeben. Zum anderen dient mir diese Präsequenz zu mehreren Zwecken: Primär möchte ich empirische Aspekte des Group-Talks, namentlich die in Selbstthematisierung zum Ausdruck kommenden Normen und Erwartungen, so aufzeigen, wie sie von den Teilnehmer/-innen selbst thematisiert wurden. Andererseits habe ich im ersten Abschnitt der folgenden Analyse eine Darstellung gewählt, die solche Analyseschritte zeigt, die der aggregierenden Darstellungsweise von Forschungsergebnissen vorausgehen. Das bedeutet, dass diese Interpretationen auch Elemente enthalten, die sich, bei der späteren Integration der auf unterschiedlichen Ebenen erzeugten Forschungsergebnisse als weniger relevant erweisen konnten. Während es im eigentlichen Forschungsprozess darum gehen muss, diese frühen potenziell relevanten Prä-Aggregate nicht vorschnell aus der Interpretation auszuschließen, soll diese in situ-Offenheit der Analyse auch (wenigstens ein Stück)8 anhand der gewählten Darstellungsweise ablesbar sein.
Der folgende Text stellt daher teilweise, in der Wiedergabe der Analyse der ersten Paarsequenz, meine Aufschriften so dar, wie ich sie am Bildschirm und unmittelbar vor dem audio-visuellen Material erstellt habe. So ist den Leser/-innen ein Blick auf die ‚Werkbank‘ meiner Analyse- bzw. Interpretationsweise möglich, der mir interessant erscheint und zugleich dazu beitragen mag, meine Ergebnisse zu fundieren. Die Darstellung meiner Analyse in dieser Arbeit folgt ansonsten systematisch einer dreigliedrigen Struktur: Zunächst findet sich der entsprechende Abschnitt aus dem Transkript. Anschließend folgen die Aufschriften der unterschiedlichen in dem jeweiligen Abschnitt interpretierten Elemente, die ich zu Beginn des folgenden Abschnitts (zwei Paarsequenzen) in einer detaillierten Darstellungsweise explizit den einzelnen Auswertungsverfahren bzw. Datengrundlagen zuordne (IA, CA, EW, BH), bevor ich zur Integration der Analyseergebnisse fortschreite. In manchen Fällen, insbesondere dann, wenn sich die Situation auf dem videographierten Material für eine entsprechende Repräsentation eignet, habe ich dem Transkriptauszug zusätzlich eine Abbildung von in der entsprechenden Sequenz eingesetzten Folien oder eine Momentaufnahme aus dem audio-visuellen Material vorangestellt. Sofern sie Nachzeichnungen aufweist, handelt es sich bei Letzteren um Interpretationsbilder (Wilke 2018).
Interpretationsbilder weisen meiner eigenen Forschungserfahrung zufolge zwei Aspekte auf, die sie für videographische Forscher/-innen besonders wertvoll machen. (Entsprechend handelt es sich um ein populäres Verfahren in der Videographie, für das René Tuma (Tuma 2017, Tuma, Schnettler und Knoblauch 2013) als Pionier betrachtet werden kann). Sie besitzen sowohl repräsentativen als auch analytischen Mehrwert. Z.B. lassen sich mittels derart nachzeichnend-bearbeiteter Momentaufnahmen Elemente aus Videodaten deutlicher sichtbar machen und so für die Publikation in Printmedien aufarbeiten. Tatsächlich leiden viele Videographien situativ unter Lichtverhältnissen, die für Videoaufzeichnung ungeeignet sind, sodass relevante Sequenzen möglicherweise nur mit großer Anstrengung zu analysieren sind. In solchen Fällen ist es dann leider häufig so, dass unbearbeitete Momentaufnahmen derartiger Sequenzen für den Druck überhaupt nicht mehr verwendet werden können. Ein weiteres Hindernis bei der Verwendung von unbearbeiteten Momentaufnahmen in Publikationen ist zudem der Datenschutz. Dabei machen klassische Anonymisierungswerkzeuge, die die Gesichter der abgebildeten Personen verzerren oder ähnliches, die Abbildungen im Kontext soziologischer Mikroanalysen in der Regel wertlos (Wilke, Pröbrock und Pach 2019, 473). Bei diesen und anderen repräsentativen Schwierigkeiten können Interpretationsbilder daher sehr hilfreich sein.
Neben dem repräsentativen Mehrwert weisen sie auch noch einen weiteren wichtigen Aspekt für audio-visuelle Forscher/-innen auf. Dieser kommt darin zum Ausdruck, dass man durch das Verfahren der nachzeichnenden Bearbeitung von Momentaufnahmen, Stills bzw. Fotogrammen (Wilke 2020, Bohnsack, Fritzsche und Wagner-Willi 2015, 21) auch die eigenen Daten bzw. die für die Analyse ausgewählten Sequenzen besser kennenlernt, denn:
Praktisch dient es vorgängig der kinästhetisch vermittelten Aneignung (Nachzeichnung) von Momentaufnahmen, der – in ihren zeitlich multimodalen Sinnbezügen überkomplexen (und für die Druckpublikation von Forschungsergebnissen ungeeigneten) – Rohdaten, durch die Forschenden selbst. Im Prozess der Nachzeichnung fügen sich die räumlichen Konstellationen von Objekten und Personen sowie deren wechselseitige Ausrichtung zu einem empirisch geleiteten Verstehensprozess, einer umgekehrten Phänomenologie des Augenblicks zusammen. Erst die vollständige Rekonstruktion aller Linien und Flächen, unter Einbezug des ethnographischen Wissens, ergibt buchstäblich das ganze (Interpretations-)Bild. So lassen sich rein empirische Beschreibungen von audio-visuellen Forschungsdaten erzeugen, die das Ergebnis einer feinanalytischen Bild- Interpretation darstellen und dabei dem was zu sehen ist, nicht vorausgreifen. (Wilke 2018, 496)
Vor diesem Hintergrund erklärt sich die von mir gewählte Bezeichnung Interpretations-Bild: Diese Bilder sind selbst Produkte eines forschenden Interpretationsprozesses, der in die Bilder eingeschrieben ist. An dieser Stelle soll aber nicht der Eindruck erweckt werden, die Analyse der Momentaufnahmen konkurriere in der Videographie mit der des Bewegt-Bildes. Vielmehr gilt in der audio-visuellen Analyse stets das Primat des Videodatums.
Mein analytisches Vorgehen sowie die Wiedergabe meiner Forschungsergebnisse weisen eine vom Video ausgehende, aufsteigende Struktur auf, indem sie vom Bewegt-Bild (Interaktionsanalyse), zum gesprochen Wort (Konversationsanalyse), zur Explikation (ethnographisches Wissen) und schließlich zur (basishermeneutischen) Interpretation aufsteigen. Dabei gilt stets, die Rückkopplung an das Videomaterial nicht aus den Augen zu verlieren und im Zweifelsfall zum Video zurückzukehren. Dies gilt sowohl für die Erstellung des Transkripts, die sich nicht allein auf die Tonspur verlässt, als auch für die Konversationsanalyse, die ihrerseits nicht auf dem Transkript, sondern dem audio-visuellen Material basiert sowie last but not least natürlich für die Interaktionsanalyse, die, neben Informationen zum räumlichen Setting, maßgeblich auf der Performanzanalyse beruht (Rendle-Short 2006, 24). Erst vor dem Hintergrund dieses iterativen, in rekursiven Schleifen verlaufenden Analyseprozesses mehrstufiger Paraphrasierungen der in den methodologischen Einzelschritten gewonnenen analytischen Annotationen, können dann schließlich die diese Schritte integrierenden soziologischen Interpretationen verfasst werden, die der stärker an Publikation orientierten Form entsprechen.
Da es sich bei der im Folgenden analysierten Präsequenz um eine relative lange Passage von ca. 135 Sekunden handelt, die zudem eine größere Zahl von Sprecher/-innen umfasst, stelle ich zum erleichterten Verständnis der nachfolgenden Analyse zunächst das vollständige von mir verfasste Transkript voran. Die verwendeten Transkriptionszeichen finden sich in Tabelle 4.1. Dem Transkript schließt sich das Analyseprotokoll in Tabelle 4.2 an. Im Anschluss daran findet sich die Detailanalyse. Nach dieser Vorrede nun zu den Daten:
Tabelle 4.1
Transkriptionszeichen9
____ = Emphase
(1.0) = 1-sekündige Pause
(()) = Analysekommentar
(.) = kurze Pause
? = steigende Intonation
(…) = unverständlich
, = leicht steigende Intonation
. = fallende Intonation
[ = Überlappung
 >< = schneller
°° = ruhiger
SO = lauter
: = Dehnung
Vollständiges Transkript: VID_8_Seq_1
Tabelle 4.2
Protokoll der Datenanalyse VID_8_Sequ_110
Zeile
IA
CA
EW
BH
1–2
Raum, Folie
E0, E1
self-selection
adjacency pair: Frage-Antwort
Varianz der Vortragszahl
Thema: Ablauf des Talks
3–4
E1, Ex
Gleichzeitige self-selection zweiter Redner;
Reparatur
„zettel“ bezeichnet den aushängenden Veranstaltungsplan
Koordinative Rolle des „zettels“.
‚Papier ist geduldig!‘
5–8
E2, E1
self-selection
adjacency pair: Frage-Antwort
Varianz des „zettels“
Ironische Replik auf Z. 4–5
9
E1
self-selection
Monolog
Zwei Vorträge zu je 45 Minuten
Thema: ‚idealer Talk‘
10–11
E2, E3
self-selection
adjacency pair: Frage-Antwort
Experteninterview EXP_3
Versuch einer Zentrierung der Interaktion zwischen E2 u. E3,
Wissenschaftliche Argumentation vs. Ironie,
Legitimer Sprecher
12–15
Folie,
E1, E2, E3
Gleichzeitige self-selection zweier Redner;
Reparatur
‚Idealer Computational Neuroscientist‘
Legitimer Sprecher,
‚ideale Talk-Teilnehmer‘
16–22
E1, E3, (E5 passiert den Raum)
current speaker selects next,
self-selection
Geringe Ausprägung informeller Kommunikationskultur der Gruppe
Wissenschaftliche Argumentation vs. Ironie,
Charakterisierung des idealen Group-Talks
23–28
Folie
E2, E3, E1
self-selection, current speaker selects next
Kommunikation als Zeitverschwendung
Reflexion der bisherigen Konversation
29
E6 verlässt den Raum
E6 kann nicht folgen, da sie kein Deutsch spricht. Die Verzögerung des Talks ist ungewöhnlich.
E6 sucht nach der Ursache der Verzögerung.
30–35
E1, E4, (E6 kehrt zurück)
Self-selection, current speaker selects next
Kommunikation mit externen Forschungsgruppen
Kommunikation als Zeitverschwendung
36–40
E4,, E2, E1
Nach langer Pause, self-selection
Probleme der Kommunikation
41–44
E2, E4
self-selection
Video-Telefon-Konferenzen als Teil des Group-Talk
Probleme der Kommunikation vs. Allgemeinplätze von deren Bewältigung
45–47
E1
Nach einer Pause
self-selection
Rollen im Group-Talk
Institutionalisierte Erwartung
48
E7
Tritt ein und nimmt Platz
Stammplatz
Anlass der Verzögerung
49–52
E1, E7
‚within turn-event‘,
current speaker wählt sich selbst
Englisch als Sprache des Group-Talks
Formalität beendet Konversation
Audio-visuelle Analyse I: Präsequenz (VID_8, Seq 1)
(Anmerkung: Erste Paar-Sequenz – Beginn der sukzessiven Darstellungsweise)
Interaktionsanalyse (IA): Das räumliche Setting entspricht einem klassischen Seminarraum: Eine Person (im Folgenden Olaf) sitzt erhöht auf der Ecke eines Seminartisches, gleichsam in einer Ecke des Raumes (Abbildung 4.2, links). Sein Blick ruht auf der ihm gegenüber liegenden Ecke des Raumes (rechts). Von ihm aus rechts begrenzt eine Fensterfront den Raum. Zu seiner Linken befindet sich die Stirnseite, der er die linke Schulter und z. T. den Rücken zuwendet. Dieser Wand gegenüber sitzen in mehreren Reihen 15 weitere Personen (z. T. an Seminartischen). Die erste Reihe von Seminartischen ist unbesetzt. Die Sitzpositionen der weiteren Personen sind auf die Stirnseite des Raumes ausgerichtet. Zentral auf der ersten Tischreihe befindet sich ein Digitalprojektor, der mit einem Laptop verbunden ist, dessen Monitor an der Sitzposition von Olaf ausgerichtet ist. Offensichtlich sind die technischen Geräte in Betrieb. Auf der stirnseitigen Wand des Raumes ist die Lichtprojektion einer digitalen Vortragsfolie zu sehen: „Phase 1: preliminary results; XX group talk; XXX XXX; XXX XXX (XXX)12. Ern sitzt in der zweiten Reihe von Seminartischen. Er blickt zu Olaf auf und stellt eine Frage („Bist Du heute allein oder sind es zwei?“). Darauf wendet Olaf seinerseits den Kopf leicht nach rechts in den Raum hinein (Abbildung 4.2, rechts), sodass sich die Blickachsen beider treffen. Olaf behält die Blickrichtung zu Ern während dessen Antwort auf seine Frage bei (Zentrierung).
Konversationsanalyse (CA): Erste turn-taking-Sequenz: Ern eröffnet die Konversation durch „self-selection“ und bestimmt durch seine Adressierung den nächsten Sprecher (current speaker selects next-Regel). Von Ern befragt antwortet Olaf: Frage-Antwort-Paar („adjacency pair“).
Explikation durch ethnographisches Wissen (EW): Die Zahl der Vorträge variiert im Rahmen des Group-Talks.
basishermeneutische Interpretation (BH): Thematisch zielt die Frage von Ern an Olaf auf die Ablaufstruktur der gegenwärtigen Veranstaltung. Ern drückt den Wunsch aus, heute den einzigen Vortrag zu halten. Sicher ist er sich aber offensichtlich nicht.
Interaktionsanalyse (IA): Während einer Mikropause von Olaf (Z. 2), beginnt Ex13 das Wort „alleine“ seines Vorredners zu wiederholen (Z. 3). Gleichzeitig startet Olaf aber (Z. 4) mit einer Ergänzung. Dabei richtet er seinen Blick weiter in den Raum. Offensichtlich adressiert er nun nicht mehr nur Ern, sondern richtet seine Worte an alle Anwesende.
Konversationsanalyse (CA): Ex wählt sich selbst als nächsten Redner. Da Olaf mit seiner Antwort auf die Frage von Ern aber noch nicht fertig war, kommt es zur Gleichzeitigkeit von Redezügen (Z. 3–4). Den ersten Teil seiner Ergänzung („So steht’s jedenfalls“) wiederholt Olaf daher. Dadurch zeigt er den Regelverstoß (Gleichzeitigkeit von Redezügen) an und repariert die hierdurch entstandene Störung seines Turns.
Explikation durch ethnographisches Wissen (EW): Im Flur des Institutes, gegenüber dem Büro von Wolf, befindet sich ein Schaukasten, in dem ein häufig aktualisierter Verlaufsplan für die Veranstaltung über einen wechselnd großen Zeitraum hinaus ausgehängt wird. Häufig kommt es aber zu spontanen Änderungen in der Vortragsreihenfolge, in dem einzelne Redner/-innen bzw. ganze Termine gestrichen oder neu hinzugefügt werden.
basishermeneutische Interpretation (BH): Olaf erklärt, dass er auf Grundlage des im Flur des Institutes ausgehängten Plans (Z. 4: „dem Zettel“) davon ausgeht, allein vorzutragen. Er verweist damit explizit auf die koordinative Rolle dieser Einrichtung. Gleichzeitig impliziert er aber auch die Kontingenz der darin festgelegten Zahl und Reihenfolge von Vorträgen, nach dem Muster ‚Papier ist geduldig!‘ (Z. 5: „So steht’s jedenfalls“).
Integration der Analyseergebnisse:
In der Situation hat sich eine lokal organisierte, informelle Konversation entsponnen, die sich thematisch auf die Ablaufstruktur des Group-Talks bezieht. Der hierbei von Olaf und Ern thematisierte „Zettel“ (Abbildung 4.3) hat sich, wie Olaf impliziert, tatsächlich auch in unserer Beobachtung häufig unzuverlässig gezeigt. Olaf hatte dies erst kürzlich erlebt und teilt diese Erfahrung mit vielen der Teilnehmer/-innen. (Auch wir standen oft vor verschlossener Tür, weil Termine kurzfristig verlegt wurden.) In den analysierten Paarsequenzen zeigt sich, vor dem Hintergrund seiner Thematisierung, dennoch die Bedeutung des Zettels. Einerseits ist er aufgrund seiner spontanen Aktualisierungen nicht immer zuverlässig, andererseits stellt er das zentrale Koordinationsinstrument für den Group-Talk dar. Er gilt, bis auf weiteres. Daher verlässt sich auch Olaf (probeweise) auf ihn und verteidigt dabei, gleichzeitig mit der Gültigkeit des Zettels, auch die formalen Strukturen der Forschungsgruppe.
(Anmerkung: Ende der detaillierten Darstellungsweise)14
Marc, der zu Beginn der Sequenz für einen Moment aus dem Fenster schaute und seit dem Wort „alleine“ in der Frage von Ern (Z. 1) zu Olaf blickt, richtet nun eine weitere Frage an diesen. Olaf, dessen Blick sich im Verlauf seiner vorangegangenen Bemerkung (Z. 4) wieder in Richtung des ersten Fragenden bewegt hat, blickt nun zu Marc. Marc hat sich selbst zum nächsten Sprecher bestimmt („self-selection“). Er richtet eine Bemerkung an Olaf, aus der syntaktisch nicht eindeutig hervor geht, dass es sich um eine Frage handelt. Es handelt sich vielmehr um einen Aussagesatz, der durch die steigende Intonation gegen Ende nahelegt, dass es sich um eine Frage handelt. Dass Olaf die Aussage als eine Frage versteht, gibt er dadurch zu erkennen, dass er, wie auf eine Frage hin, u. a. mit einem „Ja“ (Z. 6) antwortet.
In seinem „schon damit geplant“ (Z. 5) kommt Marcs Erstaunen, gepaart mit gespieltem Unglauben darüber zum Ausdruck, dass Olaf sich im Vorfeld und dabei auf Grundlage des ‚Zettels‘ darauf vorbereitet hat, der einzige Vortragende zu sein. Was Marc vielmehr impliziert ist, dass man sich im Vorfeld nie sicher sein kann, wie die Veranstaltung verläuft und dass der Verlaufsplan der Veranstaltung kein sicherer Indikator dafür ist, wie die Veranstaltung tatsächlich ablaufen wird. In dieser Einschätzung kommt sicher auch Marcs eigene Erfahrung aus dem Group-Talk zum Ausdruck, die wir ebenfalls videographieren konnten: Durch die kurzfristige Hinzunahme zweier weiterer Vorträge blieb Marc damals selbst viel weniger Zeit für seinen Talk als ursprünglich (in einer langfristig ausgehängten Version des „Zettels“) vorgesehen war. Statt zwei fanden an diesem Tag vier Vorträge statt. In seiner Antwort (Z. 6) greift Olaf nun die Ironie der von Marc gestellten Frage auf. Allerdings stimmt er nicht in die implizite Kritik von Marc ein, sondern verweist mit „vollet Programm hier“ (Z. 7) auf seinen Vortrag und dessen geplante Dauer hin. Gleichzeitig lässt sich seine Antwort als Hinweis auf den (hohen) Grad seiner Vorbereitung und Professionalität sowie auf sein Vertrauen hinsichtlich der Verlässlichkeit des Zettels als organisationales Koordinationsinstrument des Group-Talks bzw. Ausdruck des Vertrauens in die Organisation am Fachgebiet verstehen.
Olaf ergreift daraufhin erneut, ohne direkt angesprochen worden zu sein, selbst den nächsten Redezug (‚self selection of current speaker‘). Mit seiner Bemerkung (Z. 9–10) greift er den Stimulus der Ausgangsfrage von Ern (Z. 1: „Bist du heut alleine oder sind es zwei?“) wieder auf (thematische Fokussierung). Mit ungerichtetem Blick spricht er dabei, fast wie zu sich selbst, mit nach rechts gewandtem Kopf und leicht gesenkten Augen, in Richtung der Fensterfront. Mit dem Terminus „dreiviertelstunden-talks“ (Z. 10) bezieht Olaf sich auf die häufige Zusammensetzung des Group-Talks aus zwei Vorträgen, sodass beiden Vortragenden im Durchschnitt etwa 45 Minuten für ihren Talk zur Verfügung stehen.
Durch seine Äußerung wechselt Olaf sowohl den thematischen Schwerpunkt als auch für kurze Zeit seinen Redestatus (Goffman 2005b, 21 f.): Nachdem zuvor der Ablauf des aktuellen Group-Talks besprochen wurde, gibt er sich nun einer Reflexion hin. Wenn er sagt, dass er die Aufteilung auf zwei Vortragende präferiere (Z. 9: „Fan“), spricht er den Group-Talk in idealistischer Weise an, im Sinne eines aus seiner Sicht ‚perfekten‘ oder ‚idealen‘ Talks. Seine Haltung und paraverbale Sprechweise verändern sich dabei, sodass Olaf eine väterlich-patronisierende Wirkung erzielt, womit er seinen Worten besonderes Gewicht verleiht.
In direkter Folge auf die Bemerkung von Olaf (Z. 9–10) wendet der deutlich jüngere und unerfahrenere Kollege Marc seinen Kopf seiner ebenfalls weniger erfahrenen Sitznachbarin Anja zu und macht ihr gegenüber eine kurze Bemerkung (Z. 11: unverständlich). Marc hatte sich zuvor selbst als nächster Sprecher gewählt (‚self-selection‘) und durch seine direkte Ansprache Anja zur nächsten Sprecherin bestimmt (‚current speaker selects next‘). (Bei Anja handelt es sich um eine Physikerin innerhalb der Forschungsgruppe, die sich in einem Interview als unzufrieden mit ihrer jetzigen Position geäußert hat. Mit den Anforderungen der Gruppe kommt sie nicht gut zurecht und ihr Modell wurde von Wolf kritisiert (EXP_3, Z.  310–324)).
Anja quittiert Marcs Bemerkung nun mit einem leicht zu ihm eingedrehten Kopfschütteln, ohne dabei ihre Blickrichtung zu Olaf deutlich zu verändern. Sie antwortet mit „Nö“ (Z. 12) und markiert damit Marcs vorangegangene Bemerkung als Frage. Ihre Bemerkung erscheint als Antwort auf die Bemerkung von Marc, doch adressiert sie durch ihre Blickrichtung auch Olaf. Während Marc eine Faceformation (Kendon 1990, 210 ff und passim) initiieren wollte, öffnet Anja diese Zentrierung sogleich gegenüber Olaf. Durch ihr Lachen (Z. 13) signalisiert sie Einverständnis mit Marc und versucht dabei, Olaf in dieses miteinzubeziehen. Gleichzeitig senken Marc und Anja beide für einen kurzen Moment ihre Köpfe und drehen diese dabei zur jeweils einander abgewandten Seite (Dezentrierung).
Durch seine direkte und mit gesenkter Stimme vorgetragene Ansprache von Anja hat Marc seine Bemerkung als persönliche Botschaft an sie markiert. Ein Vorgang, der im Rahmen von sozialen Veranstaltungen, mehr noch während der Konversation Dritter, häufig sanktioniert wird (Interaktionsordnung). Auch Anja scheint diese Form der Ansprache situativ zu sanktionieren: So antwortet sie Marc etwa nicht in gleicher Weise, also mittels direkter Zuwendung und gesenkter Stimme, sondern mit gehobener Stimme, die es Dritten erlaubt, die Konversation mit Marc zu bemerken und ihr inhaltlich zu folgen bzw. ihr anzuschließen. Gleichzeitig behält sie Olaf als legitimen Sprecher der Situation im Blick. Seine Legitimität wird sowohl durch situierende Aspekte (räumliches Setting) als auch durch Bezug auf den „Zettel“ sowie, last but not least, durch das kommunikative Handeln (Blicke und Adressierungen) erzeugt.
Nach ihrem Lachen (Z. 13) fügt Anja mit Blick auf die Projektion an der ihr gegenüberliegenden Wand eine Bemerkung hinzu (Z. 13: unverständlich). Marc blickt daraufhin, da Anja und Olaf gemeinsam zu sprechen beginnen (Z. 13–14), mit starkem Akzent zu Olaf. Damit bestätigt Marc Olaf nun seinerseits als legitimen Sprecher. Indem Olaf die Äußerung von Anja gleichsam überspricht, behauptet er seinerseits diese Rolle und sanktioniert die erneute Störung. Bis zum Ende von Olaf Äußerung verharrt Anjas Blick auf der Folie. Marc hingegen fixiert Olaf und markiert seine Replik deutlich als Zustimmung (Z. 17: „Das finde ich gut.“).
Auf konversationsanalytischer Ebene zeichnet sich die Situation durch eine konkurrenzierende Aushandlung des legitimen Rederechts aus, die sich zu Gunsten von Olaf entscheidet. Marc ratifiziert diesen Ausgang, indem er sich dazu entscheidet, Olaf und nicht Anja anzublicken und schließlich die Äußerung von Olaf als Stimulus für seine Selbstwahl zum nächsten Sprecher zu wählen. Mit dieser Äußerung (Z. 17) stimmt er Olaf zu, bei dem es sich um einen sehr erfahrenen Post-Doktoranden der Gruppe handelt, der sich in der ‚Königsdisziplin‘ der Forschungsgruppe bewegt, der neurobiologischen Modellierung anhand selbst erhobener experimenteller Daten. (Marc dahingegen arbeitet als Doktorand ohne empirische Daten. Er ist im Bereich der reinen Computermodellierung neuronaler Prozesse tätig.) Meine ethnographisch informierte These besagt, dass die oder der ‚ideale‘ Computational Neuroscientist die Elemente (Verhaltens-) Experiment, Neurobiologie und Computermodellierung in der eigenen Forschung zusammenführt. Diesem Ideal kommt Olaf sehr nahe, sodass er eine große Autorität in der Forschungsgruppe besitzt, die Marc in der vorangegangenen Teilsequenz bestätigt.
Thematisch berichtigt Olaf mit seiner Äußerung (Z. 14–16) die Interpretation seiner zuvor gemachten Aussage (Z. 10: „Eigentlich bin ich ja durchaus ein Fan von dreiviertelstunden-talks.“) durch Anja (Z. 12: „Ich glaube, da hat keiner was dagegen“). Nun stellt er ein wissenschaftliches Argument der Konnotation von Anja entgegen, dass, unabhängig von den Umständen, jeder in der Gruppe 45-minütige Vorträge bevorzuge. Dieser Bemerkung, die so verstanden werden kann, dass sie eine gewisse alltägliche Lässigkeit zum Ausdruck bringt, stellt Olaf die Bedeutung der wissenschaftlichen Debatte gegenüber (Z. 14–16: „Ist aber immer ‘nen bisschen ‘ne Sache mit den Fragen.“): Dabei verweist er auf die Verantwortung aller, den Talk des Vortragenden zu nutzen, um sinnvolle Fragen zu stellen. So unterstreicht er den diskursiven Charakter des Group-Talks, in dem er darauf hinweist, dass er dessen Bedeutung nicht darin sieht, dass der Vortragende „sich zwei Stunden hier einen ablabert“ (Z. 15–16). Vielmehr formuliert Olaf die klare Erwartung, den Group-Talk, gemäß seiner Feldbezeichnung, nicht als klassischen Vortrag zu verstehen, nicht als Monolog, sondern dialogisch.
Durch die vorangegangene Zustimmung von Marc (Z. 17) wird Olaf durch ihn erneut als nächster Sprecher bestimmt. In dem Olaf allerdings nicht direkt auf die Äußerung seines Vorredners eingeht, sondern vielmehr, ungerührt von der Zustimmung durch Marc, seine zuvor gemachten Äußerungen fortführt und expliziert, entspricht sein Redezug auch einer Selbstwahl (Ausübung des legitimen Rederechts). Schließlich kürt auch Anja sich erneut selbst zur nächsten Sprecherin. Dabei fixiert sie Olaf während ihres Redezugs und spricht ihn so direkt und im Kontext seiner zuvor gemachten Äußerung an. Erneut stellt sie dabei ein außerwissenschaftliches Kriterium (Z. 22: „Wenn man Spaß daran hat zu erzählen“) in den Raum, woraufhin Olaf dieses, in diesem Falle mittels einer rhetorischen Frage, die er sogleich selbst beantwortet, erneut sanktioniert: „Andere Leute von der Arbeit abzuhalten? Ja, hm, ja“ (Z. 23).
In der teilnehmenden Beobachtung stellte sich schnell heraus, dass es neben dem „topic talk“ (Rendle-Short 2006) nur sehr wenige informelle Gespräche zwischen den Teilnehmer/-innen der Forschungsgruppe gab. Gerade im zeitlichen Umfeld des Group-Talks war informelle Kommunikation eher selten. Die Teilnehmer/-innen erschienen häufig erst sehr kurz vor dem Talk, setzten sich wortlos auf einen der freien Plätze im Raum und verließen diesen zügig nach dem Talk, ohne ein Seitengespräch anzustreben. Diese Geringschätzung der kommunikativen Ablenkungen von der ‚Arbeit‘ (Z. 21) greift Olaf nun auch in Bezug auf den ‚idealen Talk‘ auf. Erneut stellt er dabei Wissenschaftlichkeit und den dialogischen Charakter des Group-Talks an die erste Stelle der Kriterien, nach denen die ideale Dauer eines Talks zu bestimmen sei. Dabei verwahrt er sich gegenüber einer Ironisierung, die den Talk aus einer alltagsweltlichen Perspektive als Ort der Zeitverschwendung charakterisiert. Vielmehr lenkt er die Verantwortung für die Produktivität der Veranstaltung erneut auch auf das Publikum des Talks und dessen Anteil an der Güte der Diskussion. Gleichzeitig verweist er aber auch auf die Erwartungen an die ‚idealen‘ Vortragenden, die sich auch der ‚Kosten‘ ihrer Vorträge im Gruppenkontext bewusst sein sollten (Z. 18: „Ich meine, man muss sich halt auch bewusst sein, dass man dreißig Leute von der Arbeit abhält“).
Marc, der den Ausführungen von Olaf an dieser Stelle mit ernster Miene gefolgt ist, greift diese nun auf, um sich erneut, mit einem leichten Lächeln, direkt an Anja zu wenden (Z. 24: „Wir sollten keine Meetings einberaumen.“). Anja quittiert diese direkte Ansprache abermals, ohne sich ihrerseits Marc zuzuwenden. Stattdessen schaut sie wieder auf die Lichtprojektion der Folie, auf deren korrespondierenden Foliensatz sie sich schließlich (nach ca. 2-sekündiger Pause) mit ihrer Replik auf Marcs Bemerkung (Z. 24) bezieht. Zum Schluss ihrer Aussage wendet sie sich mit den Worten „keinen Bock“ (Z. 26) Marc zu, der ihre Bemerkung, ohne den Kopf zu ihr zu drehen, mit einem kurzen Nicken und einem „mhm“ (Z. 28) bestätigt. Hierauf möchte Anja fortfahren, lässt sich aber von dem seinerseits fortfahrenden Olaf dabei unterbrechen, sodass ihre Aussage Fragment bleibt (Z. 29: „Weil das einfach…“).
In ihrer Replik (Z. 25) reflektiert Anja nun aber offenbar die zuvor von Olaf gemachten Aussagen, die dessen Präferenz von 45-minütigen Talks (Z. 9–10) und die Rolle der anderen im Group-Talk (Z. 14–16; Z. 18–21) thematisierten. Anja interpretiert diese offensichtlich so, dass die Planung des gegenwärtigen Vortrages von Olaf durchaus nicht berücksichtigte, dass er diesen Talk über den gesamten Zeitraum des Treffens, also über 90 Minuten, halten würde. Vielmehr scheint sie nun davon auszugehen, dass der Foliensatz noch aus einer Vorbereitung stammt, die von 45 Minuten ausgegangen ist. Die Aussagen von Olaf bzgl. des Anteils der Fragenstellenden an der Länge eines idealen Talks interpretiert Anja in diesem Sinne dahingehend, dass Olaf klar machen möchte, dass die Länge des heutigen Talks von dem Ausmaß der gestellten Nachfragen abhänge (und nicht so sehr von seiner Planung).
Tatsächlich war der Vortrag von Olaf bereits einige Wochen zuvor zu einem inzwischen verstrichenen Termin angekündigt, zu dem der Group-Talk allerdings nicht stattfand. Zu diesem Termin wäre Olaf nur einer von zwei Vortragenden gewesen, sodass ihm für diesen ursprünglich geplanten Talk tatsächlich nur die nun von ihm präferierten 45 Minuten geblieben wären. Mit seiner Bemerkung (Z. 24) greift Marc inhaltlich die Ausführungen zum Zeitmanagement der Forschungsgruppe und der Notwendigkeit dieses im Talk zu reflektieren wieder auf und wendet sie ironisierend in ein Extrem: „Wir sollten keine Meetings einberaumen“ (Z. 24). Auch in dieser Aussage kommt der prekäre Status des Group-Talks zum Ausdruck. Zum einen ist er das zentrale Kommunikationsereignis der Forschungsgruppe, zum anderen droht ihm stets, als bloße Kommunikation‘ von den Teilnehmer/-innen als Zeitverschwendung betrachtet zu werden. Diese Bewertung scheint hier Marc und Anja nicht fernzuliegen.
Elif, die die bisherige Konversation merklich nicht mitverfolgt hat, verlässt nun den Raum. Sie stammt aus der Türkei und arbeitet, neben ihrer Beschäftigung in dieser Forschungsgruppe noch in einer zweiten Gruppe in den USA. Auf Grund der Tatsache, dass sie kein Deutsch spricht, konnte sie der Konversion zwischen Olaf und den anderen Gruppenmitgliedern nicht folgen. Die Verzögerung des Beginns des Group-Talks ist untypisch und erklärt sich damit, dass Wolf noch nicht anwesend ist. Elif verlässt den Raum nun offensichtlich auf der Suche nach ihm. Dadurch, dass sie geht, um der Ursache der Verspätung auf den Grund zu gehen, kommt hier praktisch zum Ausdruck, was in der Konversation von Olaf und den anderen gerade explizit thematisiert wird: nämlich die ambivalente Rolle des Group-Talks als Kommunikationsereignis zwischen Kommunikationsarbeit und Ablenkung von der Arbeit.
Olaf wählt sich, in Ermangelung direkter Ansprache, erneut selbst als nächsten Sprecher. Mit seiner Äußerung (Z. 31–33), mit der er Anja überspricht, wendet er seinen Blick über die ersten Sitzreihen hinweg in Richtung der letzten Reihe, in der der angesprochene „Tom“ (Z. 32) sitzt. (Dessen Gesicht ist dabei für die Kamera vollständig durch eine vor ihm sitzende Person verdeckt.) Bei Tom handelt es sich um ein Gruppenmitglied, das mit der Koordination der Kommunikation der eigenen mit einer zweiten, externen Forschungsgruppe, die im Ausland beheimatet ist, betraut ist. Mit dieser finden regelmäßige Telefonkonferenzen statt. Olaf greift hier erneut den Gedanken auf, dass Talks die Zeit der anwesenden Forschungsgruppenmitglieder nicht übermäßig in Anspruch nehmen sollten. Gleichzeitig verweist er auf die Telefonkonferenz als ein weiteres Kommunikationsereignis, das für (einige) Forschungsgruppenmitglieder mit einem erheblichen Zeitaufwand verbunden ist. Während der Angesprochene mit gespielter Höflichkeit antwortet (Z. 34: „vielen Dank“), reagieren einige Anwesende mit Lachen und markieren Olafs Bemerkung damit als Scherz (Z. 33). Dass Olaf mit seiner Aussage Tom, über den er eine Aussage formuliert, ohne dass er diesen Redezug dabei performativ eindeutig als direkte Ansprache markierte, tatsächlich persönlich anspricht, verdeutlicht er durch den Umstand, dass er auf Toms Reaktion direkt antwortet. Dabei greift er die gespielte Höflichkeit sowohl paraverbal, d. h. hier durch seine Intonation, als auch sprachlich auf (Z. 35: „immer der rücksichtsvolle Kollege“). In diesem Moment kommt Elif in den Raum zurück, setzt sich auf den Platz, den sie zuvor bereits eingenommen hatte und nimmt, wie zuvor, ohne auf die Konversation zu achten, einen Schluck aus ihrer Tasse.
Nach einer langen Pause von ca. sechs Sekunden (Z. 34) ergreift Tom, der indirekt von Olaf angesprochen wurde, den nächsten Redezug. Offensichtlich greift er in seiner Replik eine durch Olaf angespielte ‚Nutzlosigkeit‘ der Telefonkonferenz für seine Arbeit auf: Er räumt ein, dass er nicht regelmäßig an dieser teilnehme und ergänzt, dass es aber so oder so „auf’s gleiche raus“ (Z. 36) käme. Olaf bestätigt diese Äußerung mit dem Verweis auf „Heinz’ Position“ (Z. 39), nicht aber, was eine andere zulässige Interpretation darstellte, mit mangelnder Kompetenz von Tom. (Auf Grundlage meiner Ethnographie ist eine Explikation hier nicht vollständig möglich. So entzieht es sich meiner Kenntnis, wer genau „Heinz“ (Z. 39) ist. Sicher aber stellt er einen Teilnehmer der mittels Telefonkonferenz kontaktierten Forschungsgruppe dar.)
Erneut kürt Marc sich selbst zum nächsten Sprecher. Ohne direkt angesprochen zu sein, wendet er sein Wort an Tom, wodurch er ihn als nächsten Sprecher bestimmt. Bereits während des abklingenden Gelächters (Z. 40) wendet Marc sich zu Tom um. Nach einem Augenblick wendet er sich langsam wieder nach vorne. Dann blick er mit einer schnellen Kopfbewegung abermals zurück zu Tom und spricht diesen direkt an (Z. 41–43). Marc, der sich im Verlauf der Konversation bereits mehrfach ironisch geäußert hatte, bringt in seiner Äußerung nun erneut seine Geringschätzung der Kommunikationsformate der Gruppe zum Ausdruck. Die angesprochene Telefonkonferenz (Z. 31–32) scheint ihm sinnlos zu sein, denn er schlägt vor, wenn auch in scherzendem Ton, Tom solle sich durch eine standardisierte Videoaufzeichnung von sich selbst vertreten lassen. Tom wendet seinen Kopf während Marcs Äußerung zu seiner Linken, sodass er Blickkontakt zu ihm herstellen kann. Tom aber, der offenbar ein tatsächliches Problem seiner Arbeit angesprochen hatte (Z. 36: „Ja, ich sollte mal mitmachen“), greift die Gelegenheit zur Replik auf Marcs erneuten Versuch, einen Scherz zu machen, nicht auf, sondern wendet seinen Kopf nach dessen Bemerkung zügig wieder nach vorn, sodass er aus Marcs Blickfeld verschwindet. Auch Marc wendet sich daraufhin langsam von Tom ab und orientiert sich mit einem Blick zur Folie wieder nach vorne. Sein Vorschlag war offensichtlich ein Scherz, Tom hingegen hatte Olafs vorangegangenen Scherz (Z. 31–32) dazu genutzt, sich offen zu einem tatsächlichen Problem im Rahmen seines Arbeitsalltags zu bekennen.
Nach einer erneuten Pause von drei Sekunden wendet sich Olaf, mit über der Gruppe schweifenden Blicken, erneut an alle anwesenden Teilnehmer/-innen der Forschungsgruppe. Neben seiner Blickrichtung ist diese Adressierung auch syntaktisch markiert (Z. 45: “seid froh”). Einige der Teilnehmer/-innen suchen daher seinen Blickkontakt, darunter auch Marc, Anja und Tom, die in der vorangegangen Konversation bereits jeweils von Olaf direkt angesprochen wurden. Andere Teilnehmer/-innen sind währenddessen weiterhin mit ihren Mobiltelefonen beschäftigt oder betrachten die projizierte Folie. In der Tat entspricht es meiner ethnographischen Beobachtung, dass es in der Gruppe Lager entlang der drei Hauptelemente der Forschung in der Gruppe (Experimente, Neurobiologie, Modellierung) zu geben scheint, die je durch ein bis zwei Hauptprotagonist/-innen im Group-Talk vertreten werden. Es ist daher tatsächlich nicht so, dass alle Teilnehmer/-innen regelmäßig Fragen im Verlauf des Talks stellten und dabei in ihren thematischen Schwerpunkten stark variierten, sondern vielmehr so, dass es einzelne Individuen gab, die zu den meisten Talks jeweils ein oder mehrere Fragen aus der Perspektive eines spezifischen Problems stellten. So lassen sich die disziplinären Grenzen der heterogenen Forschungsgruppe anhand der Fragesteller/-innen und ihrer thematischen Schwerpunkte sehr leicht beobachten.
Mit dem Begriff der „Rollen“ (Z. 46) verweist Olaf auf die Organisiertheit des Talks auf Grundlage von kommunikativen Rollen und entsprechenden Erwartungshaltungen seitens der übrigen Teilnehmer/-innen. Seine Äußerung (Z. 45–47: „Aber seid froh, dass die Rollen so gut verteilt sind. Ja, wenn jetzt wirklich alle zwanzig was sagen würden, dann…“) impliziert, dass der Group-Talk ohne diese Rollenaufteilung dysfunktional wäre. Damit kehrt er, eingeleitet durch ein „aber“ (Z. 45), nach einer konversationellen Durststrecke von insgesamt neun Sekunden, die jeweils durch einen Scherz eingeleitet wurde (Z. 34 und Z. 44), wieder zurück zur Thematisierung des ‚idealen Talks‘ (unterbrochen ab Z. 20). Nun spricht er in diesem Kontext, neben der Rolle der Vortragenden, abermals die vitale Rolle der weiteren Teilnehmer/-innen des Talks an. Dabei nennt er sowohl deren Tun (Fragen stellen), als auch deren Lassen (keine Fragen stellen) als rollenspezifisch notwendiges Kriterium für die Funktionalität des Group-Talks als Kommunikationsereignis der Forschungsgruppe an. Der Begriff der kommunikativen Rolle lässt sich in diesem Kontext also von der aktiven Beteiligung am Talk auch auf das schweigende Partizipationsformat erweitern (M. Mead 1968, 5).
Im Hereinkommen blickt Wolf für einen kurzen Augenblick in Richtung der Fensterfront. Daraufhin wendet er sich schnell rechts und geht, entlang der der Fensterfront gegenüberliegenden Wand, zielstrebig zu einem Sitzplatz, dem ersten (bzw. letzten) Platz der bislang leeren ersten Tischreihe. An diesem Platz angekommen, zieht er einen Stuhl mit einer schnellen Bewegung zu sich und dreht ihn dabei so, dass er nun schräg zur Tischreihe und Olaf in gerader Linie gegenübersteht. Wolf setzt sich wortlos mit einem kurzen Blick zu Olaf auf den Stuhl. Dieser blickt dabei zu Wolf und ihre Blicke treffen sich. In diesem Augenblick nicken sich beide sehr knapp zu. Als Wolf den Raum betrat, wendeten sich einige Anwesende dem Eintretenden zu, darunter vor allem solche, die der Konversation bisher nicht gefolgt waren, wie z. B. Elif, die den Raum bereits zuvor (Z. 30) einmal verlassen hatte, um den Grund für den verspäteten Beginns des „topic talks“ zu ergründen. Bei einzelnen Teilnehmer/-innen der Gruppe ist daraufhin zu beobachten, wie sie sich nun umpositionieren und ihre Körper in eine aufrechtere Haltung bringen. Gleichzeitig unterbricht Olaf seine Äußerung und bleibt die konkrete Konsequenz dessen, „wenn jetzt wirklich alle zwanzig was sagen würden“ (Z. 46–47) schuldig.
Die Art des Eintretens sowie die Reaktionen hierauf, nicht zuletzt, dass Olaf seine Ausführungen an dieser Stelle sofort unterbricht, legen nahe, dass es sich beim Eintreffen von Wolf um das Ereignis handelt, dessen Ausbleiben bisher zur Verzögerung des eigentlich Group-Talk-Beginns geführt hat. Entsprechend ist nach Wolfs Auftreten eine sofortige Veränderung der Grundstimmung im Raum deutlich bemerkbar. (Hier vermittelte die direkte, teilnehmende Beobachtung einen stärkeren Eindruck, als es das Videodatum vermag, das durch die Funktionsweise der Aufzeichnungstechnik auf die Wahrnehmung bzw. Registrierung des Akustischen und Visuellen beschränkt ist.) Seine Präsenz beendet die Informalität schlagartig und rahmt die Situation augenblicklich um, von einer beiläufigen, thematisch nicht determinierten Konversation zu einem formalen, gattungsförmig strukturierten Group-Talk.
Diese Wirkung erzielt Wolfs Auftreten sowohl vor dem Hintergrund seiner organisationalen als auch seiner kommunikativen Rolle innerhalb der Forschungsgruppe. Zugleich wird sie durch die wortlose Ernsthaftigkeit seines Eintretens, das sich hier absolut typisch darstellt, unterstrichen. Auch Wolfs Platzwahl ist nicht zufällig. Vielmehr handelt es sich um den Stammplatz des Forschungsgruppenleiters. Durch die Ausrichtung des Stuhls verknüpft er performativ Olaf, seine Präsentation sowie die anderen Teilnehmer/-innen des Talks. Damit nimmt er selbst die Körperformation (Knoblauch 2007, 126 ff) ein, die der des Vortragenden bei einem Vortrag ähnlich ist (siehe auch (Rendle-Short 2006, 44)). Die erste Tischreihe, in der er diesen Platz einnimmt, bleibt ansonsten regelmäßig unbesetzt.
Wolfs Eintreten innerhalb des vorangegangenen Redezuges, für den sich Olaf selbst als Sprecher gewählt hatte (Z. 45–46), führte dazu, dass Olaf seine ursprüngliche Bemerkung abbrach. Nach einer kurzen Unterbrechung wählt er sich scheinbar (!) erneut selbst zum nächsten Sprecher und beginnt eine Präsentation. Mit dem Beginn seiner jetzigen Äußerung steht Olaf auf und bedient sich, anders als zuvor, der englischen Sprache. Seine Ausführungen beginnen mit einer allgemeine Begrüßung (Z. 49: „So, morning everybody.“). Hierauf beginnt er einige Erläuterungen zu einem spezifischen Forschungsprojekt (Z. 49: „So, this is about…“). Mit den Worten „so this is“ (Z. 49) dreht Olaf sich zu seiner Linken ein und stellt sich, aus Publikumsperspektive in Profilansicht von rechts, neben die Power-Point-Projektion an der Stirnseite des Raumes. In der rechten Hand hält er einen Laserpointer, mit dem er seine folgenden Äußerungen auf der Projektion begleitet. Wolf blickt währenddessen zu seiner Rechten auf die projizierte Folie. Schließlich gibt Olaf mit seiner Äußerung explizit ein neues Thema vor (Z. 51–52: „and ja, we will talk a little bit about…“).
Im Gegensatz zu der Konversation (Z. 1–48), zeichnet sich Olafs Präsentation (Z. 49–52) durch ihre klar zum Ausdruck gebrachte Formalität aus. Dies zeigt sich an sehr unterschiedlichen Elementen zugleich: Zunächst wählt Olaf sich jetzt nicht mehr selbst zum nächsten Sprecher (VIA). Das Videodatum zeigt vielmehr, dass Wolf, durch kurzes Nicken beim Platznehmen, Olafs erneuten Redezug initiiert (und dabei zugleich die Gültigkeit des Zettel bestätigt).15
Gleichzeitig bringt Olaf die stärkere Formalität auch performativ zum Ausdruck, in dem er nun zu Beginn seiner Äußerung aufsteht (Abbildung 4.4) und auch die vorgängig präparierten technischen Geräte wie Laptop, Laserpointer, Digitalprojektor und Folie zum Einsatz bringt. Dafür nimmt er die für Präsentationen (und auch im Group-Talk) typische Körperformation (Knoblauch 2007, 128 ff) ein, die im Gegensatz zu seiner vorherigen, sitzenden Position, sein volles Engagement in der Interaktion mit den anderen zeigt (Rendle-Short 2006, 44). Die größere Formalität der neuen Situation verdeutlich Olaf bereits mit den ersten Worten seiner Äußerung auch sprachlich: „So, morning everybody.“ Sie kommt hier einerseits dadurch zum Ausdruck, dass er die Forschungsgruppe nun formal begrüßt, obgleich er sich bereits seit längerer Zeit im Raum befindet und dabei, buchstäblich quer über Tische und Bänke, eine umfangreiche, lokal organisierte Konversation mit einigen der Anwesenden geführt hatte. Andererseits aber auch dadurch, dass er das Deutsche, das zuvor der informellen Konversation diente, jetzt durch Englisch ersetzt, also die offizielle Kontaktsprache des Group-Talks (Abschnitt 4.2). Insgesamt bringt er hier zugleich alle formal-typischen Markierungen (stehende Position, Körperformation, Lingua Franca, Einsatz der technischen Infrastruktur) in die Situation ein, die den Group-Talk charakterisieren, wodurch für alle Teilnehmer/-innen sofort offensichtlich wird, dass dieser, im Sinne des eigentlich „topic talks“, nun begonnen hat.
(Anmerkung: Ende der Detailanalyse von VID_8_Seq_1)
An dieser Stelle möchte ich meine Ergebnisse im Kontext der oben dargestellten Selbstthematisierung von Normen und Erwartungen in der beobachteten Forschungsgruppe zusammenfassen. Bei näherer Betrachtung erweist sich die analysierte Präsequenz in dieser Hinsicht, über alle inhaltlich-thematischen und interaktionellen Brüche der kurzen, nur etwas mehr als zwei Minuten andauernden Konversation hinweg, als ausgesprochen informativ. Dabei ist es für die Analyse ebenso überraschend wie befriedigend, wie explizit Normen und Erwartungen innerhalb der Gruppe und ausdrücklich in Hinblick auf den Group-Talk als zentrales Kommunikationsereignis diskutiert werden. Insbesondere Olaf zeichnet sich durch eine große Reflektiertheit aus, die einerseits uns, als soziologischen Beobachtern wertvolle Einblicke gewährt, andererseits aber auch eine wichtige Bedeutung für seine Kolleg/-innen bzw. seine spezifische kommunikative Rolle in der Gruppe aufweist.
Wenn oben (Abschnitt 2.​2.​2) von der Bedeutung der Sozialisation bzw. der Institutionalisierung und Internalisierung spezifischer Wissensbestände für die Anwendung spezifischer Kommunikationsformen gesprochen wurde, so kommt in Olafs Selbstthematisierung eben dieser Prozess eindrücklich zur Anschauung. Seine Rolle stellt sich dabei als die eines Funktionärs organisationaler Strukturen dar, die er, aufgrund seiner Vorerfahrung bzw. seiner langen Verweildauer in Wolfs Gruppe, einzunehmen in der Lage ist. (Nicht zuletzt aufgrund dieser forschungsbiografischen Eigenschaften von Olaf gelingt es ihm auch mehrfach in der informellen Konversation die Legitimität als Sprecher zu behaupten, obgleich Redezugwechsel und -dauer hier anders als in formaleren Settings nicht vorfestgelegt sind.)
Gegenüber den anderen, explizit gegenüber den jüngeren und weniger stark integrierten Gruppenmitgliedern, die sich in die Konversation mit ihm einbringen, im Sinne eines ‚Mithörens‘ aber auch für alle anderen anwesenden Teilnehmer/-innen des Group-Talks, verteidigt er sowohl die Gültigkeit der formalen Koordinationsinstrumente der Gruppe (Zettel, Talk, Telekonferenz) gegenüber trivialisierenden Andeutungen seiner Kolleg/-innen, als auch die Wichtigkeit der richtigen, inhaltlichen Gestaltung des Group-Talks, als zentrales Kommunikationsformat der Gruppe. Er reflektiert dabei insbesondere unterschiedliche Beteiligungsformate und hebt in diesem Kontext unterschiedliche kommunikative Rollen hervor, die von konstitutiver Bedeutung dafür sind, dass die Kommunikation sinnvoll strukturiert ist.
Zunächst wendet er sich der Thematisierung des Vortragenden zu. In diesem Kontext kommt er, durch die thematischen Impulse seiner Gesprächspartner/-innen motiviert, auch auf die Ambivalenz zu sprechen, die Kommunikationsarbeit wenigstens in einigen der Teilnehmer/-innen auszulösen scheint. Er geht dabei darauf ein, dass Sprechen im Group-Talk kein Selbstzweck ist, sondern der wissenschaftlichen Debatte dient. Dabei verwahrt er sich ausdrücklich vor, durch seine Gesprächspartner/-innen vorgebrachte, alltäglichen Relevanzen wie Kürze und Lust bzw. Unlust. In diesem Kontext ermahnt er deshalb potenzielle Hauptsprecher/-innen, sich der Bedeutung bewusst zu sein, dass während ihres Talks zugleich die Zeit der anderen Teilnehmer/-innen verstreiche. Dabei scheint er sich zugleich in die Lage der passiveren Rolle im Group-Talk zu versetzen. Mit einer scherzhaften Bemerkung exemplifiziert er die Schonung der Zeitressource der jeweils anderen, in dem er darauf hinweist, dass auf diese, außerhalb des Group-Talks, weitere (z. T. ebenfalls kommunikative) Verpflichtungen warteten.
Gleichzeitig hebt er aber auch die Bedeutung der Teilnehmer/-innen am Group-Talk hervor, die sich jeweils in der Zuschauer/-innenposition befinden. Sie sieht er in der Pflicht, von der Kommunikationsarbeit sinnvollen Gebrauch zu machen, indem sie die Gelegenheit des Talks für Nachfragen nutzten, deren Beantwortung durch die Hauptredner/-in dann keine Zeitverschwendung, kein ‚sich-einen-ablabern‘ darstellt. Dabei kommt er auf ein gattungsanalytisch besonders auffälliges Merkmal des Group-Talks zu sprechen, nämlich seine stark dialogische Struktur, die davon herrührt, dass hier jederzeit zwischengefragt und kommentiert werden darf. Die Zuteilung von Rederecht und die Dauer von Redezügen sind im Group-Talk, trotz bzw. aufgrund seiner spezifischen Gattungsförmigkeit nicht vollständig vorfestgelegt. Olaf scheint dieses Charakteristikum zu begrüßen. Seine Worte lassen sich dahingehend interpretieren, dass er diese Teile des Group-Talks als besonders produktiv betrachtet, d. h. als sinnvolle Kommunikationsarbeit versteht. In diesem Sinne scheint er auch in Bezug auf seinen eigenen geplanten Group-Talk (z. B. von Anja) interpretiert zu werden. Dessen Dauer, deutet Olaf an, hängt davon ab, welche Fragen gestellt würden.
Schließlich kommt er mit dem ausdrücklichen Verweis auf die Bedeutung der unterschiedlichen Rollen bzw. Beteiligungsformate am Group-Talk implizit auch auf die disziplinäre Heterogenität zu sprechen, indem er eine Gruppe von Teilnehmer/-innen definiert, die stellvertretend für die anderen die wichtige Rolle des Nachfragens und Debattierens übernehmen würde. Aus meiner ethnographischen Perspektive ist diese Gruppe deckungsgleich mit den Personen, die stellvertretend für jeweils eine der versammelten Domänen die Wortführerschaft innehaben und dabei jeweils Aspekte aus Sicht einer der in der CNS vertretenen Ausrichtung ansprechen. Mit der Thematisierung dieser Frontstellung innerhalb der beobachteten Forschungsgruppe komme ich abschließend für dieses Unterkapitel noch zu einer weiteren Erwartung, die, in der hier analysierten Präsequenz, von Olaf nur kurz angeschnitten wird, aber, vor dem Hintergrund der erläuterten forschungsbiografisch begründeten Ausrichtung von Wolfs Fachgebiet (Abschnitt 4.1.1), einen besonders starken Einfluss auf die Kommunikation im Group-Talk hat: die neurobiologische Plausibilität der Modelle.

4.1.2.2 Normen in der Selbstthematisierung II

Innerhalb der beobachteten Forschungsgruppe ist insbesondere der Anspruch auf die neurobiologische Plausibilität der Modelle für einige Teilnehmer/-innen ein häufiges Thema und dabei, wie wir sowohl beobachten konnten als auch in Seitengesprächen sowie während eines Interviews gesagt bekamen (EXP_3, Z. 73 ff), ein gelegentlicher Quell der Verunsicherung. So wird einerseits Wolfs Anspruch zum Anlass genommen, über den Vereinfachungsgrad des eigenen Modells zu reflektieren und sich selbst zu befragen, ob das Modell plausibel genug ist, d. h. ob es den Anspruch erheben kann, nach aktuellen Theorien und/oder empirischen Erkenntnissen, dem entsprechenden neurobiologischen Prozess gerecht zu werden. Andererseits ist die Differenz zwischen mehr oder minder stark biologisch orientierten Ansätzen innerhalb der Gruppe auch ein beliebtes Diskussionsthema und dabei häufig Anlass für den einen oder anderen Seitenhieb während des Group-Talks, wie der folgende kurze Auszug beispielhaft illustriert:
dieser kurzen Sequenz aus zwei Paaren, die während eines Group-Talks des Informatikers Marc aufgezeichnet wurde, den wir aus der vorangegangenen Analyse bereits kennen, war dieser eingangs seines Talks gerade dabei, die grundlegenden Konzepte seines Modells zu erläutern. Dabei rekurriert er auf eine Studie, die ihm als Grundlage diente („study by Yser“). An dieser Stelle wirft der Psychologe Björn, der an experimentellen Datenkorpora arbeitet, eine Frage nach der Datengrundlage dieser Studie ein („Äh Marc“). Daraufhin antwortet Marc in aller Kürze: „Simulation“, womit er zum Ausdruck bringt, dass die zugrundeliegende Studie ohne experimentelle Daten zustande gekommen sei. Ohne dass er explizit danach gefragt wird, fügt er dann, in einem vollständigen Satz noch hinzu, dies verhielte sich bei seiner Arbeit genauso („Its basically the same as I do“). Er sagt also, dass auch sein eigenes Modell nicht auf experimentellen Daten beruhe. Björn konkretisiert seine Nachfrage nun, offensichtlich noch in Bezug auf Yser, durch eine sehr kurze Ellipse: „No data?“, woraufhin Marc, zunächst sein Unverständnis markierend („Hä?“), mit der negierten Wiederholung dieser Kurzform antwortet: „No, no data.“. Schließlich ergänzt er seine Antwort durch einen Zusatz, indem er eine von ihm offenbar antizipierte, implizite Kritik Björns an seinem Vorgehen sprachlich persifliert und auf die Spitze treibt: ‚Es ist einfach alles frei erfunden!‘ („It’s just all made up!“). Hierauf nimmt er einen Schluck aus seiner Kaffeetasse und fährt in seinem Vortrag fort.
Die kleine Sequenz, die ich hier ohne Transkriptionszeichen wiedergebe, illustriert zunächst, wie zwischen den interdisziplinären Forscher/-innen der Gruppe regelmäßig Dissenspotenzial in der Kommunikation aufbricht, das aus den unterschiedlichen Forschungsansätzen resultiert und zu umfangreichen Expansionen führen kann (Abschnitt 4.3). Darüber hinaus zeigt sie, dass diese wiederkehrende Situation im Group-Talk Techniken der Eindrucksmanipulation (Goffman) erfordert, um wechselseitig Gesichtsverlust zu meiden. Ob Björn mit seiner Nachfrage tatsächlich Kritik an Marcs nicht-experimentellem Ansatz äußern möchte oder man davon ausgeht, dass Björns „No data?“ auf Yser und nicht auf Marc abzielte: Durch seine Erfahrung in der Gruppe und die Kenntnis, dass die Auseinandersetzung zwischen mehr oder minder neurobiologisch fundierten Arbeiten im Group-Talk regelmäßig viel Raum einnimmt, erkennt Marc einen möglichen Dissens. Daraufhin unterbindet er eine nähere Erörterung dieser Thematik, indem er scheinbar auf eigene Kosten einen Scherz macht und die potenziell kritische Frage zusätzlich performativ (Trinken) ‚wegspült‘.
Die barsche Reaktion seitens Marc mag aus persönlicher Angegriffenheit resultieren, aufgrund der antizipierten Kritik an rein theoretischer Modellierung, in deren Feld sich seine Forschung bewegt. Daher könnte sie einerseits als „Rauschen“ interpretiert werden, das als nicht-intendierte „Selbstentblößung und Offenlegung“ „die eigentliche Quelle der Befriedigung der Zuhörer“ bei Vorträgen darstellt (Goffman 2005b, 39 f.) Insofern sie sich aber andererseits dagegen gerichtet hat, erneut eine Debatte zu führen, die diesem Dissens kostbare Zeit von seinem Teil des Group-Talks einräumen würde, wäre diese Interpretation zu kurz gegriffen. Denn die Situation zeigt eindrücklich, wie Marc die kurze Unterbrechung durch Björns Frage, die, wie wir später noch sehen werden, im Group-Talk durchaus das Potenzial hat, zu einer großen Expasionsepisode zu führen, erfolgreich ‚repariert‘. Durch diesen ‚Schachzug auf dem Spielfeld der Interaktionsordnung‘ gelingt es ihm, die durch Björn ausgelöste Einschubsequenz schnell zu beenden und ungestört in seinem Vortrag fortzufahren.
Hintergrund der Situation, die sich in dem kurzen Auszug illustriert, ist der der Forschungsgruppe inhärente Antagonismus, der im Rahmen der Interdisziplinarität der Forschung, auf die gesetzte Erwartung zurückzuführen ist, dass einerseits die Computermodelle biologisch plausibel entwickelt werden und andererseits auch die empirische, neurobiologische Forschung in formale, mathematische Modelle mündet. Wie stark die Gruppe von diesem Dualismus geprägt ist, illustriert eine andere Sequenz aus dem Group-Talk des Psychologen Björn, der hier als Fragender auftritt, wo er, wie wir noch sehen werden (Abschnitt 4.3.1), an einer Stelle seines Talks ad hoc nicht dazu in der Lage ist, einen Aspekt seiner Arbeit mathematisch zu erläutern.
Der in den hier wiedergegebenen zwei Paarsequenzen zum Ausdruck kommende ‚Antagonismus‘ innerhalb der Forschungsgruppe erwies sich im Beobachtungszeitraum als die maßgebliche Triebfeder für die Kommunikation der Gruppe im Group-Talk. Sie rührt dabei unmittelbar von dessen außenstrukturellen Bedingungen her, namentlich der Universität und dem Fachgebiet (Abschnitt 4.1.1). Dabei sind Wolfs strukturelle Position und persönliche Haltung entscheidend, insofern er weitgehend selbst bestimmt, worüber geredet wird: Denn, während entsprechende Konfliktlinien, die für die inhaltliche und sprachlich-strukturelle Form des Group-Talks so entscheidend sind, in dem ursprünglich von den Institutsverantwortlichen geplanten Fachgebiet noch nicht angelegt waren, resultieren sie unmittelbar aus der aufgrund persönlicher, forschungsbiografischer Motive gewählten (informellen) Neu-Ausrichtung des Fachgebiets durch Wolf. Sein besonderes Interesse an biologischen Fragestellungen wirkt sich dabei allerdings nicht in erster Linie durch individuelle Verunsicherung oder vor dem Hintergrund kleiner Sticheleien aus. Als CNS-Forschung ist die Arbeit der Gruppe vielmehr ausdrücklich ein multidisziplinäres Unterfangen, das genuin dazu angetreten ist, natur- und geisteswissenschaftliche Ansätze der Hirnforschung mit informationswissenschaftlichen Methoden zu integrieren. Es ist diese spezifische, normative Ausgangskonstellation, die das Fachgebiet von Wolf, die Ausrichtung der von Wolf betreuten Projekte bzw. die Zusammensetzung seiner Forschungsgruppe und damit letztlich auch die Kommunikationsprobleme und -lösungen der Gruppe präfiguriert. Wie sich nun zeigen wird, sind Wolfs Setzungen last but not least auch für die Finanzierung der Forschungsgruppe entscheidend.

4.1.3 Die Förderungsstruktur

Neben den Fördermitteln des BMWF und denen des Lehrstuhls werden die einzelnen Projekte der Forschungsgruppe maßgeblich von weiteren Drittmittelgeber/-innen finanziert, wie z. B. der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), der Volkswagenstiftung, des Human Frontier Science Program (HFSP) sowie durch Förderinitiativen der Europäischen Union (EU). Besonders hervorzuheben ist aber das Nationale Bernstein Network Computational Neuroscience (NNCN), das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) unterstützt wird. Durch Wolfs Ausrichtung seines Lehrstuhls zur CNS konnten sein Lehrstuhl sowie seine Forschungsgruppe erheblich von den Mitteln des NNCN profitieren. Am eigenen Fachgebiet wurden zum Zeitpunkt des Interviews drei Postdoktorand/-innen-Stellen durch das Netzwerk finanziert. Zudem berichtet Wolf von insgesamt sechs CNS-Professuren einer Nachwuchsforschungsgruppe, die „wir“ (EXP_1, Z. 353–354) durch das Netzwerk besetzen konnten. Insbesondere hat das Netzwerk auch die internationale Kooperation angekurbelt und so zu international verteilten Forschungsprojekten geführt.
Neben der finanziellen Unterstützung durch das NNCN betrachtet Wolf die internationale Vernetzung der beteiligten Forschungseinrichtungen als positives Hauptmerkmal des Bernsteinzentrums. So habe sich seine maßgeblich theoretisch ausgerichtete Forschungsgruppe mit Institutionen vernetzen können, die mit „invasiven“ Methoden arbeiteten. Diese seien am eigenen Standort aus rechtlichen Gründen und vor dem Hintergrund der öffentlichen Meinung nicht umzusetzen. Derartige invasive Experimentalsettings, die z. B. Versuche an Affen oder Nagetieren umfassen, stoßen in Deutschland auf zum Teil sehr große öffentliche Ablehnung, die Wolf, der zuvor andernorts selbst invasiv arbeitete, als Standortnachteil empfindet. Dieses Handicap sieht er allerdings durch die Zusammenarbeit im NNCN teilweise wettgemacht. So hätten sich durch das Bernsteinzentrum für den Standort neue Forschungsfelder verwirklichen lassen.
Zusätzlich dienten die durch das NNCN geknüpften internationalen Verbindungen auch als Grundlage für die Ausbildung einer „Jagdgemeinschaft“ (EXP_1, Z. 362). So können durch die internationale transdisziplinäre Zusammenarbeit, inhaltlich bzw. methodisch verteilte gemeinsame Forschungsförderungsanträge entwickelt und eingereicht werden. Dies habe sich, so Wolf, in der Vergangenheit bewährt. Die Kooperation habe durch das NNCN stark zugenommen. Neben der Interdisziplinierung hat die Ausrichtung auf die CNS an Wolfs Lehrstuhl somit auch die Internationalisierung der assoziierten Forschungsgruppe nach sich gezogen, sodass schließlich auch der Group-Talk von Deutsch auf Englisch umgestellt wurde.
Die Förderinitiative des NNCN hat somit sowohl indirekt als auch ganz unmittelbar auf die Kommunikation innerhalb von Wolfs Forschungsgruppe eingewirkt. Einerseits dadurch, dass sie im Sinne der CNS zur Interdisziplinarität verpflichtet bzw. diese überhaupt erst ermöglichte, wie im Bereich der Kooperation mit invasiv arbeitenden Forschungsgruppen. Andererseits dadurch, dass sie die Gruppe internationalisiert hat. Diesen Zusammenhang bestätigt Wolf mit Hinblick auf das Netzwerk als prestigereiches Aushängeschild, von dem die Außenwirkung seiner Forschungsgruppe entscheidend profitiere. Diese Sichtbarkeit habe u. a. auch dazu geführt, dass Promovierende und Postdoktorand/-innen weltweit auf die Gruppe aufmerksam würden und sie zu Ausbildungs- und Forschungszwecken besuchten. Dies wird wiederum durch die internationale Zusammensetzung der Gruppe zum Zeitpunkt unserer Beobachtung bestätigt. Auch eine der beiden MA-Studierenden, die wir im Rahmen unseres Feldaufenthalts im Group-Talk kennenlernten, war aus dem europäischen Ausland zu Studienzwecken an Wolf herangetreten und konnte bei ihm bzw. einer Wissenschaftlerin aus seiner Gruppe (Sabine) sowohl ihre Forschungen als auch ihre Masterthesis in englischer Sprache absolvieren.
Während vor allem die Netzwerkinitiative NNCN maßgeblich zur internationalen Wahrnehmung und Kooperation des Lehrstuhls beitrug und somit auch die Zusammensetzung und Themenstellungen der beobachteten Forschungsgruppe beeinflusste, müssen zur Entwicklungsförderung der CNS zusätzlich weitere, breiter angelegte Initiativen hinzugezählt werden, die in den letzten Jahrzehnten stark zur Wahrnehmung der modernen Neurowissenschaften beigetragen haben und so ihrerseits teilweise den Hintergrund für die Entstehung des NNCN bildeten und/oder zur Popularisierung der CNS, auch unter Studienanfänger/-innen, beitrugen. Hierzu zählt insbesondere die Decade of the Brain 1990–2000, eine Initiative, die 1990 von dem damaligen US-Präsidenten George Bush angestoßen und durch den US-Senat beschlossen wurde (Roth und Snell 2000, Goldstein 1994). Die Decade of the Brain 1990–2000 brachte der u.s.-amerikanischen Neurowissenschaft, nach anfänglichen Schwierigkeiten mangels fiskaler Unterstützung, seit Mitte der 1990er Jahre erhebliche Fördermittel ein und trug so erfolgreich dazu bei, die Zielsetzung der Initiative, die klinische Forschung im Bereich der neurologischen Erkrankungen zu fördern, zu verwirklichen. Erwähnenswert ist aber auch die kleinere private Initiative Die Dekade des menschlichen Gehirns 2000–2010, in der namhafte deutsche Neurowissenschaftler/-innen, unter der Schirmherrschaft des damaligen nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Wolfgang Clement, organisiert waren. Diese Initiative war angetreten, um, nach dem u.s.-amerikanischen Vorbild, wenn auch mit deutlich geringerem Output, die finanzielle Förderung der Neurowissenschaft in Deutschland zu intensivieren.
Neben finanziellen Mitteln zur Forschungsförderung, zur Einrichtung von Professuren und Instituten sowie zur Schaffung von Prä- und Postdoktorand/-innen-Stellen, haben diese Initiativen, gemessen an der Publikationsrate seit deren Entstehen, auch zur öffentlichen Wahrnehmung der Neuroscience bzw. der Hirnforschung beigetragen. Seit den 1990er Jahren ist deren (populär-)wissenschaftliche Präsenz in zahlreichen inter- und transdisziplinären wie populären Feldern merklich gestiegen. Davon zeugt die Omnipräsenz von neurowissenschaftlichen Expert/-innen des Feldes in den klassischen Massenmedien ebenso wie ein Blick auf die Internetseiten von Google Books: Mit dem Programm „Ngram Viewer“ ist es dort möglich, den von Google gescannten Bücherkorpus16 zu analysieren und dabei u. a. nach Begriffen zu durchsuchen, deren Häufigkeit in Büchern je Erscheinungsjahr grafisch dargestellt werden kann, um so z. B. thematische Trends in Büchern erkennen zu können (Abbildung 4.5 und Abbildung 4.6).
Ngram umfasst Bücherpublikationen ab dem 16. Jahrhundert. Die Ausgaben von Ngram stellen einen Funktionsgrafen dar. Auf der X-Achse befindet sich der Strahl des gewünschten Zeitraums. Auf der Y-Achse gibt Google den jeweiligen Anteil der Bücher des gewählten Korpus an, in denen der gesuchte Begriff (1-Gram bzw. unigram bei einem Wort, 2-Gram bzw. bigram bei zwei Wörtern usw.) mindestens einmal vorkommt. Während die absoluten Werte hinter den Prozentangaben auf der Y-Achse eine untergeordnete Rolle für die Frage nach Trends spielen, kann der relative Anstieg, den die Grafen visualisieren, einen interessanten Hinweis darauf geben, wie stark die Thematisierung eines bestimmten Begriffs im Laufe der Zeit zugenommen oder abgenommen hat. Im vorliegenden Fall habe ich in Ngram nach den Begriffen „Neuroscience“ in englischsprachigen bzw. „Hirnforschung“ in deutschsprachigen Publikationen gesucht. Betrachtet man nun den von mir gewählten Zeitabschnitt, 1980 bis 2008 (dort endet die Datengrundlage der analysierten Korpora), so wird deutlich, dass mit dem Beginn der oben erwähnten Initiativen Decade of the Brain 1990–2000 bzw. Die Dekade des menschlichen Gehirns 2000–2010 die Häufigkeit der Begriffe „Neuroscience“ bzw. „Hirnforschung“ signifikant zugenommen hat.
Betrachtet man zunächst die Kurve der Häufigkeit des Begriffs „Neuroscience“ in englischsprachigen Buchveröffentlichungen, gleich welchen Publikationslandes, so wird deutlich, dass dessen Vorkommen, gemessen an der Gesamtzahl der Bücher des Korpus, sich von 1980 (0.000060 %) bis 1990 (0,000120 %) bereits verdoppelt hat. Dieser Anstieg setzt sich in den 1990er Jahren (0,000160 % im Jahr 2000) und auch über die Jahrtausendwende hinweg fort, sodass er im Jahr 2008 bereits die Verdreifachung des Ausgangswertes von 1980 übersteigt (0,000200 %). Etwas anders verhält es sich mit dem Begriff der „Hirnforschung“ in deutschsprachigen Buchpublikationen. Der Anstieg der Bücher, in denen das Wort vorkommt, steigt hier vom Beginn der 1980er bis 1990 zunächst ‚nur‘ um ca. 39 Prozent (von ca. 0,000036 % auf 0,000050 %), was einen markant geringeren Anstieg bedeutet als die Verdopplung der Häufigkeit des Begriffs „Neuroscience“ in englischsprachigen Publikationen im gleichen Zeitraum. Im Folgejahrzehnt, von 1990 bis 2000, holt die deutschsprachige „Hirnforschung“ dann allerdings rasant auf: Der Wert auf Ngram steigt von 0,000050 % auf 0,000120 %, das bedeutet einen erstaunlichen Zuwachs von ca. 240 %. Dieser Trend setzt sich auch hier nach der Jahrtausendwende fort, sodass der Wert im Jahr 2008 die Marke von 0,000200 % erreicht.
Zwar kann auf dieser Datengrundlage kein Ursache-Wirkungs-Zusammenhang zwischen dem Anstieg und den genannten Initiativen behauptet werden, dennoch vermittelt der zu verzeichnende Zuwachs an Buchpublikationen, die im Zeitraum seit der Entstehung der Initiativen zur Förderung der Neurowissenschaft die gewählten Begriffe aufgreifen, einen interessanten Einblick: Er dokumentiert einen Trend, der sich sowohl in den erwähnten Initiativen sowie in der deutlich gestiegenen Zahl an Publikationen bzw. Thematisierungen in englisch- und deutschsprachigen Büchern widerspiegelt und ist dabei als Ausdruck eines allgemeinen ‚Klimas‘ zu verstehen, das mitbetrachtet werden muss, wenn es um die außenstrukturellen Bedingungen des Group-Talks in der beobachteten Forschungsgruppe geht.

4.1.4 Resümee

In dem vorangegangenen Abschnitt 4.1 habe ich gezeigt, wie die Kommunikationsformen der von mir beobachteten Forschungsgruppe im Rahmen ihres wöchentlichen Group-Talks außenstrukturell von dem spezifischen institutionellen Setting, in dem diese Treffen stattfinden, abhängen. Die Darstellung erstreckte sich dabei erstens auf die Einflüsse der Universität, sowohl als gesellschaftlich definierter metaphorischer Ort der Wissenserzeugung, der u. a. eine thematische Strukturierung in Institute und Fachgebiete aufweist und dabei festlegt, welches Wissen produziert werden soll, als auch als physischer Ort, im Sinne eines umbauten, mit spezieller Inneneinrichtung ausgestatteten Raums. Hier konnte ich zeigen, dass die Universität als Organisation, die buchstäblich ‚Tatsachen schafft‘, ebenso wörtlich ‚Spielräume lässt‘, die von den Feldakteur/-innen im Sinne einer hierarchisch strukturierenden Interaktionsarchitektur umgesetzt bzw. genutzt wurden, in der sich die spezifischen sozialen und kommunikativen Rollen der einzelnen Gruppenmitglieder, in der Gruppe und an dem Fachgebiet, widerspiegelten. Vor diesem Hintergrund habe ich auch gezeigt, dass der Forschungsgruppen- und Fachgebietsleiter, angesichts von institutionell verliehener Kommunikationsmacht und seiner persönlichen forschungsbiografischen Prägung, spezifische Normen und Erwartungen setzte.
Zweitens habe ich anhand empirischer Beispiele aus meinen Daten gezeigt, wie die so vorgegebenen Normen und Erwartungen an die Forschungsgegenstände der Forscher/-innen der beobachteten Gruppe, deren Wissenskommunikation maßgeblich prägten und dabei von den Wissenschaftler/-innen nicht nur ‚befolgt‘, sondern auch explizit (Abschnitt 4.1.2.1) und implizit (Abschnitt 4.1.2.2) thematisiert wurden. Hierbei konnte ich sowohl die Bedeutung der unterschiedlichen kommunikativen Rollen im Group-Talk im Sinne unterschiedlicher Beteiligungsformate sichtbar machen als auch zeigen, wie diese Rollen zur institutionellen Aushärtung der Normen und Erwartungen beitragen.
Schließlich konnte ich drittens zeigen, wie Förderstrukturen das Fachgebiet und die Forschungsgruppe thematisch beeinflusst haben und sich so auf die Kommunikation im Group-Talk auswirkten. In diesem Kontext habe ich die Rolle von konkreten Förderprogrammen sowie von breiter angelegten Initiativen des Agenda-Settings beleuchtet, die sich sowohl auf die personelle und strukturelle Entwicklung der CNS an (deutschen) Universitäten als auch auf die öffentliche Wahrnehmung und Popularität der Neuroscience bzw. Hirnforschung im Allgemeinen sowie, last but not least, die Publikationsrate auf diesem Gebiet ausgewirkt und damit einen unmittelbaren wie mittelbaren Beitrag zur inhaltlichen und personellen Zusammensetzung auch der von mir beobachteten Forschungsgruppe geleistet haben.

4.2 Der Group-Talk und seine Binnenstruktur

Einige Elemente der Außenstruktur (Abschnitt 4.1) lassen sich direkt an der Binnenstruktur des Group-Talks ablesen. An sich ist die Binnenstruktur aber besonders eng mit der situativen Realisierung (Abschnitt 4.3) verknüpft, da das, was konkret gesagt und gezeigt wird, gemeinsam mit dem Wie des Sagens und Zeigens (Binnenstruktur), in der Struktur der beobachtbaren Interaktion (situative Realisierung) i. d. R. präsenter ist, als der außenstrukturelle Rahmen (obgleich dieser Erstere inhaltlich maßgeblich präfiguriert). Alle drei Ebenen verbindet allerdings eine Kausalkette, die aufgezeigt werden kann und dabei verdeutlicht, wie eng Situationen und Kommunikationsweisen auf Mikroebene mit den sozialen Sinnzusammenhängen verknüpft sind, die auf Meso- und Makroebene der Außenstruktur rekonstruiert werden können.
In diesem Sinn dient die Binnenstruktur des Group-Talks seinen Teilnehmer/-innen als variable Toolbox, die alle kommunikativen Werkzeuge enthält, die notwendig sind, um die organisationalen Tatsachen, die als struktureller Rahmen von ‚außen‘ auf der Kommunikation lasten, bewältigen zu können. Dabei ist die Binnenstruktur, wo die entsprechende kommunikative Gattung oder Form, wie z. B. der Group-Talk, Weiterentwicklung und Improvisation gestattet (Wilke und Lettkemann 2018, 83), der ständigen Anpassung und Entwicklung im Rahmen der situativen Realisierung unterworfen. Soziale Akteure erschließen sich ihre soziale Wirklichkeit interpretativ und sind, in entsprechenden Situationen, überaus erfinderisch darin, Lösungen für kommunikative Probleme zu finden, zu installieren und weiterzuentwickeln.
Ein einfaches Beispiel hierfür ist die Hinzufügung des Englischen als ‚Lingua Franca‘ (im Folgenden ELF) des Group-Talks zu diesem binnenstrukturellem ‚Werkzeugkasten‘. Die Umstellung wurde vom Gruppenleiter initiiert, um dem multilingualen Kommunikationshemmnis durch die zunehmend internationale Zusammensetzung seiner Forschungsgruppe zu begegnen, die maßgeblich durch die außenstrukturellen Förderbedingungen (siehe Abschnitt 4.1) angestoßen wurde. Unseren Beobachtungen zufolge stellte diese Umstellung für die Teilnehmer/-innen allerdings keine große Herausforderung dar. Alle Teilnehmer/-innen beherrschten ELF gut genug, um am Talk teilnehmen zu können.19 Als Kontaktsprache war Englisch die Grundlage dafür, dass die Gruppe um Wolf sich überhaupt internationalisieren konnte.
Zwar ließen sich die unterschiedlichen kommunikativen Rollen, die sich in der Gruppe entwickelt haben und die ich empirisch zeigen konnte (Abschnitt 4.1.2.1), mit unterschiedlich weit gespannten Englischkenntnissen begründen. Für diese Interpretation hat sich in unserer Beobachtung allerdings kein Hinweis ergeben. Im Gegenteil erwies sich, wie an gleicher Stelle gezeigt werden konnte, dass mangelnde Deutschkenntnisse der internationalen Forscher/-innen zum Problem werden konnten, wenn in Präsequenzen oder Seitengesprächen statt Englisch, als ‚formale‘ Sprache des Group-Talks, ausnahmsweise Deutsch gesprochen wurde. So waren auch wir, häufig selbst dann, wenn wir es mit einem deutschsprachigen Mitglied der Gruppe zu tun hatten, gezwungen, Englisch zu sprechen, wenn wir im Englischen angesprochen wurden oder unsere Gesprächspartner/-in ins Englische wechselte, um beispielsweise einer Beisteher/-in den Einstieg in unsere Kommunikation zu ermöglichen.
ELF hat sich in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg unzweifelhaft als die Kommunikationssprache („language of communication“, (House 2003, 559 ff)) in Wirtschaft, Politik und in der Medienöffentlichkeit etabliert. Diese Entwicklung wird von einer großen Zahl linguistischer Arbeiten begleitet, analysiert und kommentiert. Zentral sind dabei häufig die Fragen, ob ELF, nicht zuletzt im Kontext der Globalisierung, die Hegemonie des Westens bzw. der USA repräsentiere bzw. befördere und ob durch ELF der Verlust von sprachlicher und damit kultureller Diversität drohe (Dewey 2007, Tardy 2004, House 2003, Xue und Zuo 2013). Jenseits solch kritischer Reflexionen, die nicht im Interesse der vorliegenden Arbeit liegen sollen, spielt Englisch für die Wissenschaft (Kamadjeu 2019) eine zentrale Rolle. Dies zeigte sich sehr deutlich auch in der beobachteten Forschungsgruppe.
ELF stellt im Feld der Wissenschaft ein kulturelles Kapital von vitaler Bedeutung dar, eine inkorporierte Kapitalsorte (Bourdieu 2005), die einen hohen Marktwert besitzt. Neben der englischen Schrift als wissenschaftliches Rezeptions- und Publikationsinstrument, das in der CNS, wie in den meisten anderen Disziplinen auch, den Zugang zum wissenschaftlichen Diskurs heute überhaupt erst ermöglicht, ist ELF in der Wissenschaft auch für die hier insbesondere fokussierte Face-to-face-Kommunikation, z. B. auf internationalen Konferenzen oder in international besuchten Seminaren, als Kontaktsprache, unabdingbar. Wolf, der sowohl wissenschaftlich als auch in Form von Renommee und Aufmerksamkeit für seine Arbeit von der Internationalisierung seiner Forschungsgruppe profitierte, setzte auf diese ‚Sprach-Währung‘, um seine Gruppe für internationale Gäste öffnen zu können. Während umgekehrt, die internationalen Gastwissenschaftler/-innen ihr ELF dafür einsetzen, um zur Teilnahme an der Gruppe eingeladen werden zu können.
Schon komplexere Beispiele für die Instrumente der erweiterbaren binnenstrukturellen ‚Werkzeugkiste‘ des Group-Talks stellen sprachliche und visuelle Register dar, die sich für die ungleich spezifischere, inhaltliche Kommunikation elaborierter und heterogener wissenschaftlicher Forschungsansätze, -methoden und -ergebnisse entwickelt haben. Zwar zeigte sich im Feld, dass vieles von dem, was im Group-Talk gesagt wurde, an einer möglichst alltagsweltlichen Sprech- und Argumentationsweise orientiert war. In der Kommunikation entpuppte sich diese niederschwellige Ausdrucksweise aber sehr häufig als zu unterkomplex, um nicht hinterfragt zu werden. Vor diesem Hintergrund erwies sich die Einfachheit der Sprache oder der visuellen Kommunikation also als trügerisch. Andererseits war dieses alltagsweltliche Ausdrucksregister der Kommunikation im Group-Talk zentral dafür, um auch sehr fachspezifische Zusammenhänge allgemein, d. h. für die Vertreter/-innen der unterschiedlichen Disziplinen verständlich, erläutern zu können.
Neben der Alltagssprache dominierte außerdem die Anwendung der unterschiedlichen, hochkomplexen Fachsprachen der Neurobiologie, Hirnanatomie, Computerwissenschaft, Physik, Psychologie oder Mathematik, die zwar sehr elaborierte gegenstandspezifische Ausdrucksschemata darstellen, dabei aber nicht das im vorliegenden Fall so zentrale Kriterium der Allgemeinverständlichkeit erfüllen.20 Fachsprachen sind keine Kontaktsprachen. Dies zeigte sich auch in der beobachteten Forschungsgruppe. Hier stellte sich der Gegensatz zwischen kommunikativ notwendiger Vereinfachung und wissenschaftlicher Erfordernis einer formalen Darstellungsweise als geradezu charakteristisch für den dialogischen Verlauf des Group-Talks heraus.
Beiden Redeweisen, der allgemeinverständlichen sowie der formalen, war im Group-Talk stets der Bezug auf Bilder, das Zeigen, gemein. Es stellte sich, wie ich im Folgenden zeigen werde, in Form der Orchestrierung von Objektivierung und (digitaler) Objektivation mittels entsprechender Technik als integraler, medialisierter Bestandteil des kommunikativen Handelns dar. Die Hauptsprecher/-innen nutzten für ihre Group-Talks stets Digitalfolien, die zumeist viele Bilder beinhalteten. Wir konnten dabei beobachten, dass drei verschiedenen Visualisierungstypen (Alltagsbilder, Kollagen und statistische Bilder) besondere Rollen zukamen. Da die Redeweisen und diese drei Bildtypen sich jeweils ineinander widerspiegeln, werde ich sie, im Sinne einer Kommunikation mit Bildern bzw. einer Bild-Kommunikation im Folgenden im wechselseitigen Kontext analysieren.

4.2.1 Bild-Kommunikation I: Alltagssprache und -bilder

Sehr häufig verwendeten die Forscher/-innen der beobachteten Forschungsgruppe, um ihren Beitrag zum Group-Talk einzuleiten, illustrative, metaphorisch gebrauchte oder im Sinne einer Analogie verwendete Alltagsbilder (häufig aus Google Images), um ihre Forschungsfelder abzustecken, ihre Forschungsfragen zu erläutern oder um die grundlegenden Begriffe oder Konzepte zu exemplifizieren, auf denen ihre Arbeiten basierten oder auf die sie zurückgriffen. Entsprechend setzte z. B. die Bio-Physikerin Sabine solche Bilder ein. Sabine ist uns, in ihrer Selbstbeschreibung als ‚Computational Cognitive Neuroscientist‘, bereits kurz in der Einleitung zu dieser Arbeit begegnet. Sie nutzte in ihren Group-Talks Alltagsbilder, wie sie den meisten Menschen aus Massenmedien bekannt sind, um auf ihre kognitiv-neurowissenschaftliche Forschungsfrage, auf das in ihrer Forschung entwickelte neurobiologische Modell und schließlich auf ihre klinischen und theoretischen Forschungsergebnisse hinzuführen.
Bevor ich einen ihrer Group-Talks ausführlich analysiere, gebe ich an dieser Stelle eine kurze Zusammenfassung von Sabines Arbeit, aus der sie zu diesem Anlass berichtete: Sabine kooperierte mit einer externen Forschungsgruppe. In Zusammenarbeit mit diesen Wissenschaftler/-innen, hatte sie ein kognitionspsychologisches Experimentalsetting entworfen und entsprechende Experimente durchgeführt, in denen Proband/-innen standardisierten Entscheidungstests unterzogen wurden. Während die Proband/-innen Aufgaben lösten, wurden ihre Hirnaktivitäten mittels funktionaler Magnetresonanztomografie (fMRT) aufgezeichnet. Die Aufgaben umfassten das schnelle optische Erfassen von jeweils zwei gleichzeitig angezeigten Gegenständen auf einem Computerbildschirm (z. B. Saft und Brot), die Zuordnung dieser Gegenstände zu unterschiedlichen Kategorien (z. B. Getränke und Nahrung), die Auswahl einer der beiden Gegenstände (z. B. Saft oder Brot) sowie das Anklicken des entsprechenden, angezeigten Bildes (z. B. Brot). Während der Tests sollten die Proband/-innen außerdem Anreiz-basiert lernen, dass eine der jeweils zwei auf dem Bildschirm vertretenen Kategorien mit höherer Wahrscheinlichkeit als die andere eine Belohnung nach sich zieht.
In der Auswertung der Daten stellte sich u. a. heraus, dass das Lernverhalten der Proband/-innen, abhängig von Alter, Neurotransmitterniveaus und anderen Personen-bezogenen Faktoren, insbesondere aber hinsichtlich der Neuheit der Kategorien in den Tests, stark variierte. (Bei neuen Kategorien konnten die Proband/-innen noch nicht wissen, ob es sich lohnen könnte, sie anzuklicken). In Sabines Modell bzw. dem Teilaspekt, den sie in der folgenden Situation erörterte, ging es schließlich darum, unter Einbeziehung zahlreicher neurobiologischer Variablen, eine Erklärung für diesen Unterschied zu finden.
Vor dem Hintergrund dieses hier kurz zusammengefassten Projekts nun zunächst eine Zusammenfassung der konkreten Sequenz: Sabine erläutert hier zwei Begriffe von ‚Unsicherheit‘ („expected uncertainty“ und „unexpected uncertainty“). Diese spielen in ihrem neurowissenschaftlichen Entscheidungs-Modell eine wesentliche Rolle. Sie veranschaulicht die maßgebende Differenz dabei anhand von zwei aufeinanderfolgenden digitalen Folien, die beide Begriffe parallel gegenüberstellen und dabei zusätzlich zu den (foto-)grafischen Elementen auch Text beinhalten (siehe Abbildung 4.7): Neben einer These („claim“) auf der zweiten Folie, finden sich jeweils auf beiden Folien die gleiche Überschrift („The Uncertainty framework: different forms of Uncertainty“), eine Definition des jeweiligen Begriffs (known inherent variability bzw. sudden changes), Literaturangaben sowie je ein sprachliches Beispiel für beide Begriffe („weather forecast“ und „unpredictable flood“). Diese Beispiele sind es, die Sabine auch durch die (foto-)grafischen Elemente auf ihren Folien visualisiert.
Im Folgenden werde ich den Abschnitt, in dem Sabine sich dieser beiden Folien bedient, detailliert analysieren. Dabei steht die visualisierte Analogie, anhand derer sie die Begriffe erläutert, im Vordergrund. Der Fokus ist dabei diesem Kapitel geschuldet, in dem es um die Bild-Kommunikation als Werkzeug auf der Binnenstruktur des Group-Talks geht. Die Betonung des Visuellen ist aber vor allem dem Datum selbst, als typisches Beispiel aus der ersten Phase des dreigliedrigen Aufbaus des Group-Talks, zu eigen. Nicht nur sind die beiden Folien, derer sich Sabine hier bedient, durch (foto-)grafische Elemente dominiert. Auch ihre Präsentation fokussiert ganz auf die Folie als digital-bildliche Objektivation ihres Redegegenstands, wobei ihr mündlicher Vortrag in den Hintergrund zu treten scheint.
Vollständiges Transkript21: VID_7_Seq_1
Hier füge ich wieder zunächst das vollständige von mir erstellte Transkript des entsprechenden Abschnitts aus dem Videodatum von Sabines Group-Talk ein. Voran stelle ich außerdem die Abbildungen der von Sabine hier genutzten Folien, deren Inhalte ich oben bereits zusammengefasst habe (Abbildung 4.7). (Der Auszug ist ca. 1:27 min. lang. Für die Transkriptionszeichen, die ich verwende, verweise ich abermals auf Tabelle 1.​1.)
Wenn wir uns diese Sequenz zunächst unter konversationsanalytischen Gesichtspunkten ansehen, so fällt auf, dass es sich um einen Monolog handelt. Sabine wird während ihrer Ausführungen nicht unterbrochen, es werden keine Fragen gestellt und es kommen keine Kommentare aus dem Publikum. Dies ist durchaus nicht selbstverständlich. In der Beobachtung hat sich gezeigt, dass gerade die einleitenden Teile des Group-Talks, d. h. erstens die Erläuterung grundlegender Begriffe und Konzepte sowie zweitens des eigenen Modells, im Gegensatz zum dritten und letzten typischen Abschnitt, der Ergebnisdarstellung anhand statistischer Bilder, sehr anfällig für Rückfragen, Widersprüche und Dissens sind. Gerade vor diesem Hintergrund erklärt sich allerdings auch, warum die Teilnehmer/-innen des Group-Talks gerade für diese einleitenden Teile ihres Talks viel Mühe in ihre Präsentation investieren. Sabine ist mit der Analogie ihrer Begriffe zu Wetterereignissen, den parallelgeführten Folien sowie den (foto-)grafischen Elementen, derer sie sich bedient, offenbar sehr gut vorbereitet. Die Veranschaulichung der unterschiedlichen Begriffe von Unsicherheit, die sie sich vorgenommen hatte, um darauf aufbauend ihr Modell und seine Vorzüge erläutern zu können, wird von ihrem Publikum angenommen und nicht weiter hinterfragt. Vor diesem Hintergrund kann man im vorliegenden Fall von einer gelungenen Wissenskommunikation sprechen. (Im Kontext der Analyse der situativen Realisierung werde ich zeigen, wie anderenfalls kurze oder sehr umfangreiche Einschubsequenzen dazu dienen, kommunikative Krisen im Group-Talk zu reparieren (4.3).)
Betrachtet man nun interaktionsanalytisch Sabines Blickrichtung während ihres Talks genauer, so fällt auf, wie auch dem Transkript deutlich anzusehen ist, dass sie, während des hier wiedergegebenen Monologs, zum überwiegenden Teil auf ihre beiden Folien schaut. (Das Verhältnis von grau unterlegten Passagen des Transkripts zu solchen, die nicht farblich unterlegt sind, vermittelt einen ungefähren Eindruck davon.) Dabei steht sie auf der typischen Position der Hauptredner/-in im Group-Talk (vgl. Abbildung 1.​5) in Körperformation (Knoblauch 2007, 128 ff) zwischen dem Publikum und der Projektion ihrer Digitalfolien. Zugleich mit ihren eigenen Blicken lenkt sie dabei performativ auch die Blicke der anderen im Raum auf die von ihr hergestellten Objektivationen des Wissens, das sie in dieser Situation vermitteln möchte. Hierbei stellt sie die Folien bzw. deren Inhalte deutlich in den Mittelpunkt des von ihr unter Einbeziehung von Kommunikationstechnik und Interaktionsarchitektur hergestellten gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus. Wenn man ihre Blickrichtung nun mit den Inhalten vergleicht, die sie gleichzeitig bespricht, so wird deutlich, dass Sabine ihre Augen vor allem dann zur Folie richtet, wenn sie deren Inhalte bloß reproduziert, umgekehrt blickt sie dann häufiger zum Publikum, wenn sie die Folieninhalte spontan ergänzt. Gleichzeitig mit der Blickrichtung wechselt Sabine auch ihren „Redestatus“ (Goffman 2005b, 18 f.). Während sie beim Anblick der Folie vor allem abliest, beginnt sie mit der Hinwendung zu den anderen mit (scheinbar) freier Rede.
Diese Momente der Hinwendung zum Publikum nutzt Sabine eines Teils für kurze Ergänzungen, d. h. dafür, den Anwesenden zusätzlich fachliche Informationen zu geben, die sich nicht auf den Folien finden, es den anderen aber ermöglichen, Sabines Arbeit zu kontextualisieren. So erläutert sie vor allem eingangs, wobei sie das Publikum ansieht und scheinbar frei spricht, dass Neuheit eine Form von Unsicherheit sei (Z. 3: „novelty is“), dass es verschiedene Formen von Unsicherheit gebe (Z. 7: „different types of“) und dass ein Teilbereich der Entscheidungstheorie (Z. 9: „probabilistic decision“) den Hintergrund dieser Unterscheidung darstelle. Die Blickzuwendung an das Publikum und der entsprechende Wechsel des Redestatus lassen sich anderen Teils dann beobachten, wenn Sabine ihr Publikum direkt adressiert. Die beiden entsprechenden Passagen (Z. 23: „All you can know is…“; Z. 30: „But you don’t really know…“) finden sich im Kontext ihrer Analogie zwischen Wettervorhersagen und ihren Begriffen von Unsicherheit. Diese beiden Beispiele sind jeweils mit direkter Ansprache bzw. Adressierung verbunden. Dafür verwendet Sabine neben der „Faceformation“ (Kendon 1990, 210 ff und passim) und dem Blickkontakt mit dem Publikum zusätzlich das Personalpronomen („you“), wodurch sie ihre Kolleg/-innen an ihrem Beispiel der Wettervorhersage direkt beteiligt, sie in die gedankliche Situation einfügt und mit Bezug auf die grafischen Elemente auf der Folie, auf die sie sich dabei bezieht, buchstäblich ‚ins Bild setzt‘. Mit dem „you“ versetzt sie ihre Kolleg/-innen in die Situation, die ihr dazu dient, „expected uncertainty“ zu erklären.
Goffman bezeichnet die Wechsel des Redestatus als „zentrale Schaltstellen“ (Goffman 2005b, S. 19 f.), als „Verbindung zwischen dem Text und der Situation seiner Vorführung“ (ebd., S. 20). Entsprechend kommt diesen Momenten auch in Sabines Präsentation eine besondere Rolle zu. Während sie sich in ihren monologischen Redeteilen eines ‚textlichen Selbst‘ (ebd., S. 21) zu bedienen scheint, öffnet sie ihren Vortrag hier in Richtung eines Sprechens in Interaktion, an dem das Publikum weitaus direkter beteiligt ist als auf die wesentlich grundlegendere Weise, dass es während der vorgängigen Textproduktion bereits als Adressat antizipiert wurde. Obgleich ihm hier zwar keine Redezüge zufallen, wird es doch gedanklich aktiviert, in dem es eine explizite ‚Rolle‘ in Sabines Beispiel zugewiesen bekommt. Das Publikum wird von ihr dabei selbst in eine Situation von ‚erwarteter Unsicherheit‘ geführt: Einerseits weiß es etwas („you can know“), nämlich die Regenwahrscheinlichkeit aufgrund einer Vorhersage, andererseits kann es sich aber nicht sicher sein („but you don’t really know“), da die Angaben Wahrscheinlichkeiten enthalten. Mit dem Wechsel des Redestatus moduliert Sabine das Beteiligungsformat der Präsentation: Von Rezipient/-innen werden die anderen dabei zu Beteiligten, die, gleichsam am eigenen Leib nachempfinden können, was „expected uncertainty“ meint.
Mit der stärkeren Beteiligung ihres Publikums in diesen Momenten ihres Talks kommt zugleich, neben der intellektuellen, auch eine emotionale Aktivierung zum Ausdruck. Diese ist schon mit dem Blickkontakt und der Verwendung des entsprechenden Pronomens verknüpft. Noch stärker kommt sie darin zum Ausdruck, dass Sabine an diesen Stellen scheinbar frei spricht, sich also persönlich und nicht als abstraktes Text-Selbst an die anderen wendet und sie narrativ in die Situation versetzt, selbst ‚gedanklich‘ eine Unsicherheitssituation zu durchlaufen (und sich evtl. daran zu erinnern, wie es ist, z. B. selbst im Regen zu stehen). Dass mit der Blickzuwendung eine besondere Emotionalität verbunden ist, zeigt sich auch an den drei weiteren Passagen, die durch diese visuelle Hinwendung gekennzeichnet sind. Dabei handelt es sich erstens um eine explizite adverbiale (Z. 38: „in contrast, is a very surprising“), zweitens um eine implizite persönlich-forschungsbiografische Verknüpfung mit Emotionalität (Z. 5255: eigene These) sowie drittens, an einer Stelle, wo Sabine sich wieder ihrem Vergleich zuwendet, erneut um eine rhetorisch-gedankliche Involvierung der anderen (Z. 40–41: „which we were not expecting at all“).
All diese Momente der Blickzuwendung von Sabine zu ihrem Publikum erweisen sich als durch ein besonderes Engagement für die Situation bzw. den gemeinsamen Augenblick in der Kommunikation charakterisiert. Dies kommt einerseits durch Sabine, ihre Blickzuwendung, das freie Reden sowie die explizite und implizite emotionale Verknüpfung durch ihre Ausführungen zum Ausdruck. Andererseits erstreckt sich dieses besondere Engagement aber auch auf das Publikum, das durch die Aktivierung, die Sabine durch den Wechsel ihres Redestatus’ erzeugt, gedanklich und emotional an der Präsentation beteiligt ist. Sowohl Sabines Commitment als auch ihre Anstrengungen, die anderen zu aktivieren, lassen sich dabei, last but not least, auch an ihrer Gestik erkennen bzw. ablesen. Während Sabine ihre Gestik angesichts der Folien nämlich scheinbar vor allem dazu einsetzt, sich mit einer ihrer Hände die Rhythmik ihres Sprechens zu signalisieren, setzt sie gegenüber dem Publikum häufiger beide Hände ein. Während diese beidhändigen Gesten den anderen anzeigen, dass Sabine sich emotional und körperlich vollständig in die Kommunikation einbringt, verweisen sie zugleich auf die Zeit und den in ihrem Verlauf getätigten Fortschritt in der gemeinsamen Kommunikation.22
Betrachten wir nun das das Vokabular, das Sabine für ihre Erläuterungen gebraucht, dann fällt auf, dass sie hauptsächlich Alltagssprache, d. h. solche Worte verwendet, die dem Alltagsmenschen, der gut informierten Bürger/-in, geläufig sind. Dies überrascht nicht, denn Sabine hat sich extra eine alltagsweltliche Analogie zurecht gelegt, um ihre fachspezifischen Begriffe von „expected“ und „unexpected uncertainty“ einleitend zu erläutern. Im Folgenden geht sie so vor, dass sie, im Sinne absteigender begrifflicher Komplexität, vom Definiendum zu den Definientia zum Beispiel und schließlich zur Visualisierung fortschreitet. Dieses Verfahren lässt sich anhand des Begriffs “expected uncertainty” aufzeigen:
“There is the expected kind of uncertainty, which is like the inherent variability of the environment, that remains even if the contingencies are fully known” (Z. 13–17).23
Zunächst nennt Sabine hier den Begriff, den sie definieren möchte. Er lautet „expected uncertainty“ (‚erwartete Unsicherheit‘). Darauf erfolgt die sprachliche Gleichsetzung durch das Verb „is“. Sie definiert also im Sinne einer Gleichsetzung. Anschließend folgt der Teil ihrer Definition, mit dem sie den Begriff erklären möchte: ‚Erwartete Unsicherheit ist‘ demnach ‚die inhärente Variabilität der Umwelt, die auch dann erhalten bleibt, wenn die Kontingenzen vollständig bekannt sind‘. In diesem ersten Schritt ist ihr bereits eine entscheidende Vereinfachung gelungen. Während der ursprüngliche Begriff einen kognitionspsychologischen Fachbegriff darstellt, setzen die gewählten Definientia diesen in den erweiterten Kontext einer allgemeinen System- oder Lerntheorie. Das Definiens besteht hier zudem aus einem ganzen Satz, der bereits eine basishermeneutische Interpretation durch alltägliches Wissen ermöglicht. Eine ähnlich alltägliche Dimension weist auch ein weiterer Begriff aus der psychologischen Entscheidungstheorie auf, den Sabine zugleich als Definiens der Definientia bzw. als Synonym anbietet:
„Which is also called risk“ (Z. 17–18).
Mit dem Begriff ‚Risiko‘ ist die Vereinfachung einen erheblichen Schritt fortgeschritten. Zwar handelt es sich nun wieder nur um ein einziges Wort. Allerdings ist es ungleich lebensnäher als der Ausgangsbegriff. Risiko ist einerseits ein Begriff, der in zahlreichen wissenschaftlichen Disziplinen eine ähnliche Bedeutung aufweist. Andererseits ist sich auch die gut informierte Bürger/-in der Bedeutung des Begriffs Risiko bewusst: Er bezeichnet die erwartbaren Nebenfolgen eines Handelns.
In einem weiteren Schritt vereinfacht sie die Erklärung ihres Begriffs von „expected uncertainty“ noch weiter. Nun bedient sie sich nicht mehr einer Definition, sondern eines Beispiels, das sie einer buchstäblich alltäglichen Erfahrung entlehnt, der Wettervorhersage:
„So, a good example would be the uncertainty of the weather forecast“ (Z. 18–20).
Mit diesem Beispiel übersetzt sie schließlich den wissenschaftlich-theoretischen Ausgangsbegriff (bzw. seine durch die Definitionen gewonnene Adäquanz bzw. sein Synonym) in eine Alltagserfahrung, die eng mit der menschlichen Leiblichkeit bzw. dem körperlichen Empfinden verknüpft ist. Tatsächlich sieht schon Schütz den Alltag, als Welt des Pragmas (2003, 118 f.), unmittelbar mit der Leiblichkeit verbunden. Anders als die Sphäre der theoretischen Einstellung des denkenden Ichs (Schütz 1981, 110 ff), ist die Alltagswelt von der leiblich-körperlichen Bewältigung bestimmt und daher eng mit entsprechenden Erfahrungen verknüpft. Beispiele, die den Alltag auf diese Weise berühren, wie das Beispiel der Wettervorhersage, können daher besonders leicht nachempfunden werden. In dem folgenden Teil führt Sabine ihre Kolleg/-innen nun buchstäblich, anhand einer Grafik (Abbildung 4.12, oben), in diese alltägliche, körperlich konnotierte Erfahrung hinein:
“So, if you will see on the tv that the chance of rain is twenty percent, all you can know is, that it’s very likely, a probability of eighty percent, that it will not rain, so that you will have sun. And [a] twenty percent chance, [that] it will rain. But you don’t really know, if it will rain. There is just a chance. So, and this is expected uncertainty” (Z. 18–32).
Mit diesem Abschnitt beendet Sabine schließlich ihre im Sinne absteigender begrifflicher Komplexität konzipierte Erklärung des Begriffs der „expected uncertainty“. Wenn man die einzelnen Abschnitte miteinander vergleicht, so fällt auf, dass die Komplexität des Ausgangsbegriffs und die Wortanzahl der endgültigen alltagsweltlichen Erklärung dieses Begriffs in einem umgekehrten Reziprozitätsverhältnis zueinander stehen oder mit anderen Worten: Ist die Komplexität der Sprache hoch, so braucht es wenige Worte, sinkt der Komplexitätsgrad, so sind wesentlich mehr Worte notwendig, um denselben (bzw. einen adäquaten oder synonymen) Sachverhalt zu beschreiben. Dies entspricht sicherlich der allgemeinen Bedeutung wissenschaftlicher Begriffe, dass sie, vor dem Hintergrund eines elaborierten Fachwissens, starke Verdichtungen darstellen, für deren Explikation, im Sinne einer alltagsweltlichen Verständlichkeit, häufig weitschweifende Erklärungen notwendig sind. (Wobei natürlich nicht gesagt ist, dass eine derartige Übersetzung überhaupt bzw. in welchem Maß etc. gelingen kann.) Gleichzeitig wird deutlich, dass und wieso der Kommunikationsbedarf in Interdisziplinarität steigt.
Vor diesem Hintergrund zeigt sich, dass der überwiegende Gebrauch von alltäglichem Vokabular im Group-Talk weder Zufall noch Selbstzweck darstellt. Vielmehr ist er die unintendierte Nebenfolge einer der zentralsten Zielsetzungen des Group-Talks, nämlich Wissenskommunikation über die fachdisziplinären Grenzen hinaus zu ermöglichen, die die CNS als multi-disziplinären Ansatz kennzeichnen, und dabei ein allgemeines Verständnis für die je eigenen Ansätze der einzelnen Wissenschaftler/-innen innerhalb der Gruppe zu ermöglichen. Dabei stellt sich die Alltagssprache als der vitalste Kode der Binnenstruktur des Group-Talks dar. Sie ist, wenn man so will, die eigentliche Lingua Franca und Kontaktsprache innerhalb der Gruppe.
Im Folgenden werde ich vor allem die visuellen Elemente betrachten, derer sich Sabine zum Zweck ihrer Analogie bedient. Auf der ersten Folie erläutert sie den Begriff „expected uncertainty“, den sie explizit mit der Unsicherheit von Wettervorhersagen vergleicht (Z. 18–20). Ihre Analogie nutzt dabei grafische Elemente, die sie einer Wetter-App (Abbildung 4.9) entnommen haben könnte und die sie zu einer Kollage (Abbildung 4.8) ergänzt hat. Auf der linken Seite ihrer ersten Folie ist ein stilisiertes TV-Gerät zu sehen, auf dem eine Wettervorhersage unter Angabe einer genauen Regenwahrscheinlichkeit zu sehen ist. Im Vortrag bezieht sie sich ausdrücklich darauf: (Z. 20–22: „If you will see on the tv that the chance of rain is twenty percent“). Daneben sehen wir die Silhouette eines Kopfes, in die ein Fragezeichen eingefügt ist. Silhouette und Fragezeichen scheinen einen nachdenkenden Menschen zu symbolisieren. Der im Kopf verortete Intellekt („?“), versetzt den Menschen in die Lage zu denken. Über dem ‚denkenden Kopf‘ befindet sich entsprechend eine Gedankenblase (‚stilisierte Wolke‘). Sie enthält ähnliche Angaben wie die Wetterangaben auf dem TV-Bild. Offensichtlich ist dieser Kopf es, in den die Anwesenden sich hineinversetzen sollen (Z. 20–22), um, auf Grundlage der Analogie mit der Wettervorhersage, nachzuvollziehen, was eine Situation charakterisiert, die sich durch das auszeichnet, was Sabine „expected uncertainty“ nennt.
[Kontext: Der Zusammenhang zu Sabines Experimenten liegt darin, dass (gute) Lerner/-innen, aufgrund vorangegangener Testdurchläufe, die Wahrscheinlichkeit positiver Sanktionen ihrer Klick-Entscheidungen erlernen. Durch dieses Wissen erhöht sich ihre ‚Treffsicherheit‘ in Folgedurchläufen, sodass durch fortgesetztes Lernen ‚unerwartete Unsicherheit‘ in Entscheidungsprozessen nur dann auftritt, wenn neue Kategorien erstmals in den Test eingeführt werden und deren wahrscheinlicher Wert daher noch unklar sein muss.]
Auf der zweiten Folie erläutert Sabine den Begriff „unexpected uncertainty“, um den es ihr vorrangig geht. Diese Form der Unsicherheit ist, wie sie erläutert, durch gänzliche Unvorhersehbarkeit gekennzeichnet (Z. 35–38). Das Bild, das sie zeigt (Abbildung 4.10), ist das einer Flutkatastrophe: Offenbar handelt es sich um eine Luftaufnahme, die aus einem Helikopter aufgenommen worden sein könnte. Sie zeigt Verwüstungen, die nach einer Naturkatastrophe eingetreten sind: Zu sehen ist ein stark überschwemmtes Wohnviertel. Aus den hellgrün leuchtenden Wassermassen ragen nur noch vereinzelt höhere Gebäudeteile hervor, darunter Dächer und Mauerelemente von Wohnhäusern und anderen Immobilien. Straßen und Brachen, wie Gärten oder Grünflächen, sind unter den großen ‚Wasserfeldern‘ bzw. ‚-wegen‘ zu erahnen. Sabines mündlicher Kommentar besteht hier, wie während der gesamten Sequenz, vor allem aus Paraphrasen oder wörtlichen Wiedergaben der textlichen Folienelemente. Sie bestätigt uns dabei implizit, dass es sich bei dem Foto auf ihrer Folie tatsächlich um das Bild einer Naturkatastrophe handelt. Offensichtlich symbolisiert es die „sudden, totally unpredictable flood“, von der sie spricht (Z. 41–42) und von der wir im gleichen Wortlaut auf der Folie lesen können. Explizit Bezug nimmt sie auf das Bild allerdings nicht, vielmehr scheint sie es für selbsterklärend zu halten, sodass sie sich auf seine visuelle Wirkung voll verlässt. Folgen wir ihr in diesem visuellen Imperativ, so mutmaßen wir, welche Bedeutung das Foto für ihre Argumentation hat: Offenbar zeigt es ein Ereignis, das in Übereinstimmung mit der Definition, die Sabine etablieren möchte, gänzlich unvorhersehbar eingetreten ist: Ereignisse, wie das abgebildete, suggeriert das Foto im vorliegenden Kontext, können nicht vorhergesehen werden, da kein Vorwissen existiert, um ihre Ursachen zu antizipieren.
[Kontext: Der Zusammenhang zu Sabines Experimenten liegt hierbei nun darin, dass, wenn den Proband/-innen in den Tests, aufgrund der Neuheit einer Kategorie, kein Wissen über die Folgen von zuvor getroffenen Entscheidungen zur Verfügung steht, diese auch die zu erwartenden Sanktionen von aktuellen bzw. zukünftigen Entscheidungen nicht einschätzen können. In diesem Sinn spricht Sabine von „unexpected uncertainty“, wenn der Stimulus in ihren Tests neu ist, sodass vorangegangene Entscheidungsfolgen nicht erinnert werden können. Diese Formulierung entspricht ihrer These: „Novelty is a form of Unexpected Uncertainty“.]
Analysieren wir das von Sabine ausgewählte Foto (Abbildung 4.10) genauer, so wird deutlich, dass sie es mit großem Bedacht und keineswegs willkürlich ausgewählt hat: Mittels einer umgekehrten Bildersuche im Netz erwies es sich als Reproduktion einer Flutaufnahme der u.s.-amerikanischen Katastrophenschutzbehörde Federal Emergency Management Agency (FEMA). Sie datiert auf den 07. September 2005 und zeigt konkret ein Gebiet rund um einen Abschnitt des Michoud Canal-Dammes, der New Orleans vor Hochwasserkatastrophen schützen soll(te). Am 29. August desselben Jahres, also nur wenige Tage vor dem Aufnahmedatum des von Sabine genutzten Fotos, versagte dieser Schutz allerdings. An diesem Tag war der Wirbelsturm Katrina über die Stadt gezogen und hatte dabei eine der größten Naturkatastrophen in der Geschichte des Landes ausgelöst. Unter anderem war an der Stelle, die die Abbildung zeigt, der Michoud Canal-Damm gebrochen, sodass sich die Wassermassen in die Wohnviertel New Orleans’ ergossen und 80 Prozent der Stadtfläche überfluteten.
Wichtige Wissenselemente, auf deren Grundlage Sabines visuelle Analogie mit der „unexpected uncertainty“ ihres Modells aufbaut, erweisen sich vor dem Hintergrund dieser Explikation als von Sabine selbst unerwähnt. Ihre Analogie entfaltet die intendierte Wirkung daher erst durch die Interpretation der Betrachter/-innen und auf Grundlage der Ikonographie (Panofsky 1975[1955]) des gezeigten Bildes: Welches Motiv zeigt es, was soll es uns sagen und welches Ereignis dokumentiert es? – Erst in diesem Prozess wird den Betrachter/-innen deutlich, dass es sich bei dem verwendeten Bild nicht um das Dokument irgendeiner Flut handelt, sondern um die Flut von New Orleans im Jahr 2005. Diese Naturkatastrophe ging als Medienereignis in ikonischen Bildern in unser kommunikatives Gedächtnis (Assmann 1988, 10) ein. Als visuelle Erinnerung repräsentieren ihre Bilder ein Ereignis, das mit Emotionen der Verunsicherung und Machtlosigkeit verknüpft ist: Selbst Klima- und Wetterexpert/-innen konnten, anders als z. B. bei saisonal bedingten Hochwassern, das Unglück von New Orleans (mit weit über 1000 Toten) (vermeintlich) nicht vorhersehen. Durch die Wahl speziell dieses Ereignisses für ihre Analogie macht sich Sabine so auch die Emotionen zunutze, mit denen Ikonen des zerstörten New Orleans nach Katrina verbunden sind und die diese Katastrophe als „completely unpredictable flood“ im Gedächtnis vieler Menschen fest verankert haben.
Die Analyse des Bildkontexts zeigt auch, dass die situativ-richtige Interpretation des Bildes sich nicht, im Sinne eines (intrinsischen) Bildakts (Bredekamp 2007, 231 ff), unmittelbar aus ihm selbst heraus ergibt, da Fluten tatsächlich nicht generell unvorhersehbar sind. Vielmehr handelt es sich bei ihnen i. d. R. um kalkulierbare (häufig periodisch wiederkehrende) Wetterfolgen und somit, in Sabines Analogie, um das Gegenteil von „expected uncertainty“. Das Foto irgendeiner Flut würde diesen Widerspruch geradezu provozieren (siehe 4.3.2). Die Widerspruchslosigkeit, mit der Sabines Analogie hier aufgenommen wird, kann daher nicht der Abbildung allein zugerechnet werden, sondern muss vielmehr, im Sinne einer visuellen Identifikation, als Verknüpfung des Bildes mit dem richtigen Wissen erklärt werden. Die Appräsentation ist wesentlich für die Wirkung von Sabines Analogie. Erst durch die visuelle Identifikation, durch das Mitgegenwärtig-Machen, dass es sich bei dem Dammbruch in New Orleans nicht um eine ‚gewöhnliche Flut‘ handelte, wirkt das von Sabine gewählte Bild im Sinne der von ihr beabsichtigten Analogie (unexpected uncertainty). Eben durch diese besondere Wirkungsweise erweisen sich Bilder, wie das der Flut von New Orleans, als Alltagsbilder. Ihre Bedeutung erschließt sich dem „bona-fide collectivity member“ (Garfinkel 1984[1967], 57) auf Basis eines geteilten Wissens. Die Grundlage dafür ist erinnerter sozial abgeleiteter Sinn. Dieser soziale Sinn umfasst sowohl ein (mehr oder minder kohärentes) Wissen über die gemeinsame Welt, in der wir leben und über die wir u. a. aus den Medien erfahren, als auch solches Wissen, das alltägliche Sehgewohnheiten (Raab 2008, 306) und Sehtechniken (Raab und Soeffner 1998, 131) konstituiert, die uns das Erkennen, Verstehen und Identifizieren des Bildlichen mit dem Wirklichen erlauben, wenn wir Bilder oder Dinge in der physischen Welt betrachten.
Der Sinn von Alltagsbildern ist unmittelbar mit Effekten der Sozialisation verknüpft, mit der Wirkung von sozialen Sinn, der in einer gemeinsamen (Medien-)Umwelt geteilt und internalisiert wird (Abschnitt 2.​2.​2). Auf dieser Grundlage bilden (größere und kleinere) soziale Gruppen ‚richtige‘ Arten des Zeigens, Sehens und Erkennens aus, die dabei die Grundlage für ‚visuelle Reziprozität‘ bilden, auf der auch die beobachtete Verwendung von Alltagsbildern zur Erläuterung von Begriffen und Konzepten im Group-Talk fundiert. Der ‚objektive‘ Sinn basiert im vorliegenden Fall darauf, dass man Sabines Sozialisationshintergrund, dass man ihr Wissen über Fluten im Allgemeinen und die Flut von New Orleans im Besonderen sowie ihre Weise, Bilder in Kommunikationsprozessen zu verwenden, zu betrachten und zu erkennen, versteht.
Unterhalb dieser alltäglichen verbirgt sich in der von Sabine gewählten Analogie allerdings noch eine weitere Bedeutungsschicht, die sich nicht auf Grundlage von Alltagswissen offenbart, sondern sich vielmehr erst im Kontext des speziellen professionellen Wissens innerhalb der CNS-Gruppe entfaltet: Tatsächlich spielten bei Katrina bzw. bei der großen Flut, die der Dammbruch angerichtet hatte, Computermodelle bzw. ihr (vermeintliches) Versagen, eine große Rolle. So heißt es im Bericht der FEMA, in Bezug darauf, eine Erklärung dafür zu finden, wieso die Modelle die Katastrophe (vermeintlich) nicht vorherzusagen erlaubten:
The apparent lack of correlation between ground-based damage observations and the computer models in these areas may result from terrain effects, from construction variations, or from the uncertainty of the computer models. (Federal Agency of Emergency Management 2006, 2/16)
Andererseits hatte sich bereits kurz nach der Flut ein namhafter Hurricane-Experte in den USA, Ivor van Heerden, vom Louisiana State University Hurricane Center, in einem Interview mit dem Wissenschaftssender NOVA zu Wort gemeldet, der die Verantwortung für das große Desaster bei den Katastrophenschutzverantwortlichen der Behörde FEMA zu sehen scheint. Er verweist darauf, dass ein von ihm entwickeltes Computermodell, in das er in den Tagen vor dem Drama die Messdaten des heraufziehenden Hurricanes Katrina eingespeist habe, die Flut von New Orleans vorhergesagt und er den Verantwortlichen bei FEMA darüber kurzfristig Bescheid gegeben habe. In seinem Interview sagt er, mit Bezug darauf, wieso die Katastrophe dann nicht verhindert werden konnte:
I think that there is a real lack of appreciation for the science. I know from the exercises we’ve been involved in, certainly with FEMA officials, not all of them have been very responsive. You know, I think a lot of them are ex-military folk, and to them we may be geeks.24
Die hier kurz zusammengefasste Kontroverse zwischen Anwender/-innen und Produzent/-innen von Computer-Modellen verdeutlicht eine zweite, tiefere Sinnschicht, die mit dem von Sabine gewählten Foto verbunden ist. Dieser tiefere oder Hinter- Sinn lässt sich nicht ohne weiteres aus dem allgemeinen Alltagswissen herleiten (obgleich auch die Massenmedien von der Kontroverse berichteten). Während die Flut von New Orleans landläufig in lebendigen Bildern als unvorhersehbare Katastrophe erinnert wird, auf die Sabine sich mit dem Motiv ihres Fotos direkt beziehen konnte, spricht der Hintersinn des Fotos vielmehr die Sinnfransen (Schütz 1993[1932], 176) an, von denen das abgebildete Ereignis im Kontext des speziellen Sonderwissens von Expert/-innen für Computermodellierung umgeben ist. Dabei ist es für die Analyse an diesem Punkt von untergeordneter Bedeutung, ob die einzelnen Forscher/-innen innerhalb der Gruppe, die Sabine zuhören, detailliert über die kurz dargestellte Kontroverse informiert sind, ob sie die Meinung vertreten, der FEMA sei Recht zu geben, dass die Modelle nicht real-weltlich genug waren („terrain effects“) oder eher glauben, ihr Kollege sei von den Vertreter/-innen der FEMA tatsächlich als „geek“ verunglimpft worden. Jedenfalls ist ihnen aus der allgemeinen Berichterstattung über den Fall und im Kontext ihrer professionellen Beschäftigung mit Computermodellierung der Zusammenhang zwischen Vorhersagen von Extremwetterlagen zum Katastrophenschutz und Computermodellen, die solche Vorhersagen ermöglichen sollen, besonders präsent.25 Das Foto bietet ihnen daher ganz spezifische Anknüpfungspunkte an ihre eigene Arbeit und Fragestellungen, die sich vor dem Hintergrund des in der Gruppe geltenden Anspruchs, plausibel zu modellieren und dabei nicht zu stark zu vereinfachen, auch für sie selbst ergeben.
In der Wahl des Bildes dokumentiert sich so, zugleich mit dem erläuterten ‚Hintersinn‘, der sich auf die Praxis der Computermodellierung und die Bedeutung ihrer realweltlichen Adäquanz bezieht, auch ein spezifisches Rezipient/-innen-Design, Dieses ist ganz besonders kennzeichnend für die (Bild-)Kommunikation im Group-Talk. Die Gelegenheit eines Interviews mit Sabine nutzten wir daher auch dazu, um sie ganz konkret auf ihre Nutzung entsprechenderalltagsweltlicher Bilder (und anderer Bildtypen) im Group-Talk hin zu befragen. Während dieses Gesprächs zeigte sich die Forscherin, typisch für die Forschungsgruppe, als ausgesprochen reflektierte Wissenskommunikatorin, die die Wirkung ihrer Präsentationen nicht dem Zufall überlässt und deren Einsatz von Sprache und -bildern einem klaren Konzept von Wissenskommunikation folgt:26
In dem Interviewauszug bestätigt sich, dass Sabine die Visualisierungen ihrer Präsentationen mit Bedacht auswählt und dass die anderen dabei die zentrale Rolle spielen: Oberflächlich betrachtet schließt sie dabei zwar scheinbar (!) schlicht von sich auf andere, diese Schlussweise umfasst allerdings, wie bereits oben mit Bezug auf Schütz erläutert wurde, die Reziprozität der Perspektiven (Schütz und Luckmann 1984, 95) bzw. die Analogieschlusstheorie des alter ego27 (Schütz 2003, 116). In diesem Sinn stellt sich Sabines Rezipient/-innendesign als Ergebnis eines Austauschs der Standpunkte dar, den Schütz und Luckmann so formulieren:
Wäre ich dort, wo er jetzt ist, würde ich die Dinge in gleicher Perspektive, gleicher Distanz, Reichweite erfahren wie er; und wäre er hier, wo ich jetzt bin, würde er die Dinge in gleicher Perspektive erfahren wie ich. (Schütz und Luckmann 1979, 88 f.)
Wenn man diese räumliche Metapher auf die Standortgebundenheit des Wissens überträgt, so erweist sich die Personenvertauschung (Schütz 1993[1932], 159) bzw. Rollenübernahme (G. H. Mead 1968/1973[engl. 1934], 113), die Sabine mit ihrem Publikum vornimmt, als ein komplexer Aspekt des Fremdverstehens, der sich auf die Verstehensprozesse der von ihr antizipierten Rezipient/-innen ihres Talks bezieht. Im Rahmen dieser Reziprozität entsteht die subjektive Perspektive der anderen gleichsam in Sabine (transformierender Bewusstseinsprozess), sodass sie dazu in der Lage ist, die von ihr vorentworfene Kommunikation, die sie maßgeblich anhand der von ihr verwendeten Bilder strukturiert, auf die Bedürfnisse der Verstehensprozesse ihrer Zuhörer/-innen bzw. Mitdiskutierenden zuzuschneiden. Dadurch berücksichtigt sie explizit, dass, im Gegensatz zu ihr, als studierter Physikerin, nicht jeder ihrer Zuhörer/-innen die mathematische Darstellungsweise ihrer unterschiedlichen Formen von Unsicherheit geläufig sein würde.
An dieser Stelle möchte ich noch einmal einen Blick auf Sabines Lautsprache werfen: Ihre Alltagsilder begleitet Sabine, wie ich oben zeigen konnte, mit einer alltagsweltlich vereinfachenden Sprechweise. Sie ist dabei offenbar bedacht, so wenige Fachbegriffe wie nötig zu verwenden. Sie hält sich in ihrem Verbalkommentar dabei maßgeblich an die Begriffe bzw. kurzen Sätze, die sie auch schriftlich auf ihren Folien vermerkt hatte. Ihre gesprochenen Erläuterungen gehen kaum darüber hinaus, diese Textbausteine zu vertonen. Dabei hält sie die Beispiele, mit denen sie ihre Analogie visuell veranschaulicht, sprachlich bewusst einfach, um die intendierte Wirkung der Bilder, die Plausibilisierung ihrer unterschiedlichen Begriffe von Unsicherheit, nicht zu gefährden. Die gewählten Analogien (Wettervorhersage/unvorhersehbares Katastrophenereignis) sollen es ermöglichen, bereits vor der formal-mathematischen Darstellung ein basales Verständnis von ihrer Arbeit zu erlangen.
Im Group-Talk, aber auch bei formaleren Vorträgen, dient eine solche Kommunikationsweise mit Bildern, die Bezug auf geteilte Kenntnisse nimmt, sehr häufig als Mittel der Wahl, um den anderen, dem Publikum, auf Grundlage von Alltagswissen, feldübergreifenden (visuellen) Kompetenzen oder basierend auf fachspezifischen Sehgewohnheiten (Fleck 1980[1935]), die eigene Arbeit zu erläutern. Das präsentationale Wissen (Wilke, Lettkemann und Knoblauch 2018), das hierfür die Kernkompetenz der Vortragenden darstellt, verknüpft die Fähigkeit, Forschungsansätze und -ergebnisse in Wort und Bild plausibel zu präsentieren (und diese Präsentationsweise evtl. selbst zu thematisieren) und gleichzeitig die (visuellen) Kompetenzen der Adressat/-innen, im Sinne eines „recipient designs“ (Sacks, Schegloff und Jefferson 1974, 727), zu antizipieren, um so die Aufgabe der kommunikativen Übersetzung zwischen unterschiedlichen Wissenskulturen in der CNS bzw. der Forschungsgruppe zu bewältigen (Abschnitt 4.2.3). Sabine erzählte uns:
Auch in diesem Auszug zeigt Sabine sich sehr aufmerksam hinsichtlich der jeweils anderen Teilnehmer/-innen von Wissenskommunikation. Ihr Zuschnitt auf die Rezipient/-innen ihres Vortrags bezieht dabei ausdrücklich Bilder und Sprache mit ein, die sie möglichst „intuitiv“ wählen möchte, damit alle anderen Teilnehmer/-innen ihrem Beitrag folgen und sie so „verstehen“ können: Alltagssprache und -bilder dienen Sabine, wie ich oben bereits zeigen konnte, als Übersetzungen in alltagsweltliche Erfahrungen, und nehmen dabei für die Kommunikation ihrer Arbeit eine zentrale Rolle ein. Dies betonte Sabine später in unserem Gespräch auch in Bezug auf Modelldarstellungen (siehe Abschnitt 4.2.2), einen, neben den Alltags- und statistischen Bildern, weiteren wichtigen Bildtyp der Kommunikation im Group-Talk. Auf Nachfrage erläutert sie uns, wieso sie diese ‚kybernetischen‘ Visualisierungen, die auch von Kolleg/-innen gerne verwendet werden, sowohl auf externen Konferenzen nutze, deren Publikum (evtl. noch) heterogener ist als im Group-Talk, als auch im engeren Kreis der eigenen Forschungsgruppe:
In dieser Passage zeigt sich erneut Sabines feldtypische Reflektiertheit bzgl. des Einsatzes von Visualisierungen in der Kommunikation. Dieser bewusste Ausdruck ihres präsentationalen Wissens kulminiert in ihrer Spekulation, die von ihr gewählte Darstellungsweise könne in einem Ausmaß als allgemeinverständlich angesehen werden, dass man sie evtl. als „natürliche Darstellung“ begreifen könne. Jedenfalls aber als eine, „wo Leute das einigermaßen verstehen können, ohne viele Vorkenntnisse“. Ähnlich äußerten sich auch viele weitere Expert/-innen im Feld. Bezogen auf die Bedeutung der Visualisierungen für die Kommunikation ihrer Forschungsergebnisse formulierte z. B. die bereits oben zitierte u.s.-amerikanische Expertin, die wir im Nachgang eines vom NNCN organisierten Vortrags interviewen konnten: Well, I think that is the only way. That’s how we explain our work (EXP_6, o.Z.).
Diese Expertin machte während des Interviews sehr deutlich, dass Visualisierungen unabdingbar dafür sind, in der CNS einem größeren Publikum Forschungsergebnisse zu präsentieren. Noch deutlicher wird diese Bedeutung in der Kommunikation von Forschungsergebnissen in einem Interview mit einem Kollegen von Sabine, dem Informatiker Axel. Dieses Zitat von Axel ist uns bereits im Kontext der Interaktivierung (Abschnitt 2.​2.​3.​2) begegnet. Axel beschäftigt sich, wie wir noch sehen werden (Abschnitt 4.2.2), mit Modellen der KI-Forschung. In dem Zitat äußert er sich u. a. zu Vorträgen und dem Schreiben von Forschungsanträgen:
In Axels Ausführungen wird sehr deutlich, welche Bedeutung er dem Visuellen in Bezug auf seine Arbeit, insbesondere hinsichtlich der Kommunikation von Forschungsergebnissen, beimisst. Er geht dabei so weit, dass er die Anschlussfähigkeit seiner Forschung danach bemisst, ob sie sich in einer Form visualisieren lässt, die überzeugt und per Augenschein den Eindruck erweckt, dass sie förderungswürdig ist. Dieser Anspruch an die Bild-Kommunikation wird in Axels Group-Talk konkret sichtbar, weshalb ich im Folgenden (Abschnitt 4.2.2 und 4.2.3) zwei videographierte Sequenzen aus seinem Beitrag zum Group-Talk analysieren werde.

4.2.2 Bild-Kommunikation II: Komplexe Modelldarstellungen

Ebenso häufig wie dazu, allgemeine Konzepte oder spezielle Begriffe anhand von Alltagsbildern zu erläutern (siehe Abschnitt 4.2.1), bedienten sich Forscher/-innen in der beobachteten Gruppe auch typischer Darstellungsweisen, um ihre konkreten Modelle zu beschreiben, die dabei, in Form von Grafiken, kybernetischen Regelkreisläufen, kurzen Bewegtbildsequenzen oder Bildkollagen, neurobiologische Prozesse oder die Struktur von entsprechenden Computerprogrammen repräsentieren. Im folgenden Fall verwendete Axel eine aufwendige multi-dimensionale Visualisierung, die es ihm erlaubte, sein Modell, das sich im Bereich der an neurobiologischen Prozessen der Wahrnehmung orientierten KI-Forschung bewegt, zugleich auf drei Ebenen darzustellen (Abbildung 4.11, unten): neurologisch (neuronale Informationsverarbeitung), informatisch (Software) und mathematisch (Gleichungen). Im Folgenden werde ich mich in der Analyse zunächst auf diese Visualisierung konzentrieren. Die Analyse des sprachlichen Vorgangs derselben Sequenz betrachte ich gesondert unten (4.3.2).  
Komponiert in Form einer digitalen Bildkollage finden sich in Axels aufwendiger, mehrdimensionaler Visualisierung seines Modells sowohl textliche und mathematische als auch bildliche bzw. grafische Elemente: Prominent fällt (links oben in Abbildung 4.11) ein zur bewussten Reflexion fähiger Organismus (Schimpanse) ins Auge. Die Fotografie des Affen zeigt das Tier im Stil eines klassischen Renaissance-Portraits (Seitenansicht), wobei der Schimpanse eine Denkerpose eingenommen zu haben scheint: Mit versonnenem Blick hält er sich mit der rechten Hand das Kinn und schaut dabei leicht nach oben. Durch diese Darstellungsweise stellt der Schimpanse ein Element dar, das sich äquivalent auch auf Sabines Folie findet (Abschnitt 4.2.2). Das Bild des Schimpansen auf Axels Folie korrespondiert mit der Grafik eines Augapfels, die die aktive Wahrnehmung einer ‚Intelligenz‘ (Affe oder KI) versinnbildlicht und dabei zentral ist, da es bei Axels Ansatz um automatisierte computergestützte und kamerabasierte Verkehrssteuerung geht, wobei dieses KI-Modell sich am menschlichen Prozess der visuellen Wahrnehmung orientiert (biologische Plausibilität). Zwischen das Tier und den Augapfel ist die Grafik einer Floppy Disk angeordnet, die sowohl das organische Gehirn als auch eine KI zu symbolisieren vermag. Auf der Disk, die zugleich Festplatte (Gedächtnis) als auch Arbeitsspeicher (Verarbeitung von Wahrnehmung) repräsentiert, findet sich die Variable für den Funktionswert f(x) mehrfach textlich eingefügt, wodurch angezeigt werden soll, dass sich hier sowohl der Langzeitspeicher bzw. das Gedächtnis befindet als auch sich die Berechnung oder mit anderen Worten: die Reflexion von Sinneseindrücken vollzieht (Hirn-Computer-Metapher). Die Floppy Disk besitzt daher strukturell eine vergleichbare Bedeutung wie die Gedankenwolke in Sabines Kollage, die sich dort oberhalb des Kopfes findet.
Rechts neben diesen (alltags-)bildlichen Elementen seiner Kollage befinden sich weitere visuelle Elemente auf Axels Folie. Zunächst ist dort eine vertikal angeordnete Reihe rechteckiger Kartuschen zu sehen, in die sowohl neurologische Prozesse (recognition) als auch mathematische Variablen, Funktionsgleichungen und Koeffizienten eingetragen sind. Diese Kartuschen sind sowohl mit den bildlichen Elementen auf der linken Seite der Darstellung als auch untereinander mit Pfeilen verbunden, die eine schrittweise Abfolge der jeweils symbolisierten Elemente als neurologischen (links) bzw. informatischen Regelkreis (rechts) aus Wahrnehmen, Erkennen, Bewerten, Integrieren etc. beschreiben. Mit der Gesamtdarstellung visualisiert Axel so zugleich mehrere Aspekte seiner Forschungsarbeit. Primär geht es darum, zu zeigen, dass er, auf Grundlage von neurologischen Modellen, den Prozess visueller Wahrnehmung digitisiert (siehe Abschnitt 2.​2.​3.​1) und mathematisch modelliert hat, um ihn so, in Computercode übersetzt, schließlich in ein technisches System zur automatisierten Verkehrsraumsteuerung implementieren zu können.
Gleichzeitig dient ihm die Visualisierung aber noch zu einem weiteren sehr wichtigen, kommunikativen Zweck: Während nämlich sein Modell langfristig als Grundlage für eine KI zur technischen Steuerung von Fahrzeugen im öffentlichen Straßenverkehr dienen soll, ist es Axels kommunikatives Anliegen, den Zusammenhang seines Ansatzes mit dem zugrunde gelegten psychologischen bzw. neurobiologischen Prozess der visuellen Wahrnehmung besonders hervorzuheben. Dies ist für ihn so wichtig, da er, vor dem Hintergrund von deren Normen und Erwartungen (Abschnitt 4.1.2), in der Gruppe nur dann reüssieren kann, wenn sein KI-Modell tatsächlich auf plausiblen Theorien neuronaler Informationsverarbeitung fundiert. Diese Orientierung markiert er in der Visualisierung daher sehr deutlich: Durch das (menschliche) Auge und den räsonierenden Schimpansen. Zusätzlich zu diesen visuellen Elementen seiner Modellrepräsentation auf der Digitalfolie betont er bereits einleitend auch mündlich, noch bevor er sich der schrittweisen Erläuterung seiner Visualisierung zuwendet, dass sein Modell daher ‚interessant‘ sei, da es eine ‚biologische Interpretation‘ erlaube (Abschnitt 4.3.2):
Mit diesen Worten, die ich an dieser Stelle ohne Transkriptionszeichen wiedergebe, erklärt Axel, wieso er gerade diesen Teil seiner Arbeit für die Vorstellung im Group-Talk ausgewählt hat. Er nennt dafür genau genommen zwei Gründe: Zunächst deshalb, weil dieses Modell Teil eines Projekts sei, dessen Förderung durch die DFG nach drei Jahren Laufzeit nun auslaufe und das Projekt beendet werden müsse. Diesen formalen Grund konterkariert er allerdings zugleich mit einem weiteren Satz, den er interessanterweise mit einem ‚Aber‘ („but“) einleitet: Neben der Deadline für das Projektende weise sein Modell aber auch ‚ein paar interessante‘ Aspekte auf. Axel möchte damit offenbar (durch das aber scheinbar „en passant“) auf neurobiologische Thesen seines Modells rekurrieren, die er als besonders interessant für seine Zuhörerschaft im Group-Talk betrachtet. Er konkretisiert daher noch, in dem er die Natur dieser Interessantheit angibt: Sein Modell verfüge über eine ‚stärker biologische Interpretation‘, womit er markiert, es sei für die stark an biologischer Plausibilität ihrer Modelle gekennzeichnete CNS und sein Publikum in der CNS-Forschungsgruppe besonders interessant (Rezipient/-innendesign). Später erläutert er noch, dass für dieses spezielle Problem der visuellen Wahrnehmung in der Neurobiologie selbst kein elaboriertes Modell existiere und impliziert damit, dass diese von seinem KI-Modell ihrerseits lernen könne.
Durch diese Rahmung grenzt Axel sich zugleich von ingenieurwissenschaftlichen Ansätzen der KI-Forschung (Machine Learning) ab, da diese Ansätze zwar ebenfalls technischen Systemen Autonomität ermöglichen wollen, dabei aber nicht daran orientiert sind, dass deren interne Funktionsweise biologische Prozesse nachbildet. Entsprechend werden diese Ansätze in der Forschungsgruppe weniger geschätzt. Als Informatiker sieht Axel diese Abgrenzung seiner Arbeit von anderen Ansätzen der KI-Forschung als notwendig, um sich innerhalb der CNS-Forschungsgruppe, nicht zuletzt vor dem Hintergrund von Wolfs Anspruch, ‚es mehr biologisch zu machen‘, erfolgreich positionieren zu können. Dieses Bestreben ist uns auch seitens anderer Gruppenteilnehmer/-innen begegnet, die wie Axel nicht aus den Bereichen der Neurobiologie, Psychologie oder Hirnanatomie stammten. Diese Mitglieder stehen fortlaufend vor der Aufgabe, ihre Modelle biologisch plausibel zu entwickeln und entsprechend zu kommunizieren. Andersherum besteht, wie wir noch sehen werden (Abschnitt 4.3.1), für all jene Teilnehmer/-innen, die nicht aus der Mathematik, der Physik oder der Informatik stammen, wie z. B. den Psychologen Björn, die Aufgabe darin, ihre Arbeit formal genug zu repräsentieren (vgl. Abbildung 4.12).
Dieser Aspekt wird u. a. auch darin sehr deutlich, wenn man die Argumentationsstruktur von Sabine und Axel vergleicht. Es zeigt sich, dass, neben den bereits erwähnten inhaltlichen und strukturellen Parallelen (Affenkopf/Silhouette eines menschlichen Kopfs, Gedankenwolke/Floppy Disk), die den letztgültigen Legitimationshintergrund der CNS, die Hirn-Computer-Analogie, symbolisieren, auch noch weitere Gemeinsamkeiten auftreten. Besonders typisch ist, dass und auf welche Weise beide darum bemüht sind, ein jeweils spezifisches Interesse seitens der Gruppe zu erzeugen: Während Sabine diese Rahmung dadurch implizit gelingt, dass sie ein Beispiel nutzt, das alltagsweltlich bekannt ist, dabei aber zugleich (konnotativ) auch von konkretem beruflichem Interesse für ihre Kolleg/-innen ist (Computermodellierung), weist Axel explizit darauf hin, dass sein Modell Aspekte aufweist, die für die anderen, d. h. hier: die stärker neurobiologisch arbeitenden Kolleg/-innen, von Relevanz sein könnten (biologische Plausibilität).
Die Gegenüberstellung der beiden zeigt, wie mit ihren jeweils spezifischen Argumentationsweisen zugleich die außenstrukturellen Einflüsse der Normen und Erwartungen auf die Inhalte im Group-Talk zum Ausdruck gelangen, und zwar in Form ihrer typischen wechselseitigen Verschränkung. Mit wechselseitiger Verschränkung meine ich dabei, dass Sabine, die umfangreiche klinische Studien unternommen hat und dabei auf empirische Befunde zurückgreifen kann, das Interesse ihrer Kolleg/-innen mit einem Beispiel weckt, das immanent mit der ‚anderen Seite‘ der CNS-Gruppe, nämlich dem stärker informatisch informierten Modellierungsaspekt verknüpft ist, während Axel, der als Informatiker ohnehin zu ‚dieser Seite‘ gerechnet wird, explizit mit der biologischen Interpretierbarkeit seines Modells um Aufmerksamkeit wirbt. In der hier gewählten ersten Sequenz aus Axels Group-Talk kommt dabei, wie zuvor bei Sabine, nicht zuletzt das Hauptcharakteristikum des Group-Talks zum Ausdruck, nämlich die ständige Übersetzungsarbeit, die durch das präsentationale Wissen der Forscher/-innen geleistet wird.

4.2.3 Bild-Kommunikation III: statistische Visualisierungen

An dieser Stelle komme ich zu dem dritten und letzten Bildtyp, der in der CNS-Forschungsgruppe bzw. während des Group-Talks besonders häufig eingesetzt wurde. Dabei handelt es sich um statistische Bilder (wie Graphen, Heatmaps oder fMRT-Bilder), die i. d. R. dazu genutzt wurden, um ein Forschungsergebnis evident zu machen. Statistische Bilder zeichnen sich dadurch aus, dass sie statistische Verteilungen in großen numerischen Datenkorpora anschaulich zu visualisieren erlauben. Die Bildpunkte, ihre Form und Farbe, entsprechen dabei Zahlenwerten, die zuvor im Laufe von empirischer oder theoretischer Forschung erhoben wurden. Dabei kann es sich um so unterschiedliche Daten wie z. B. sozialwissenschaftliche Umfragewerte, geografische Klimawerte oder die Messdaten von Blutflüssen in den Hirnen von Proband/-innen handeln. Derartige Visualisierungen haben gegenüber den numerischen Datenkorpora, die sie visualisieren, den entscheidenden Vorteil, dass sie nicht nur für andere, sondern, wie uns die Expert/-innen im Feld wiederholt bestätigten, auch für die erhebenden Forscher/-innen selbst, die inhärente Beweisstruktur der Daten von einer abstrakten Zahlenkolonne, vom Reich der Mathematik also, in einen visuell erfassbaren und in die Lebenswelt des Pragmas integrierbaren Gegenstand verwandeln, der sich aus verschiedenen Perspektiven oder Blickwinkeln (anders) betrachten lässt und dabei unmittelbar jeweils unterschiedliche Erkenntnisse vermittelt. Als virtuelles Ding, als Gegenstand, der seiner (visuellen) Wirkung nach in der alltäglichen Raum-Zeit-Welt verortbar ist, wird der Datenkorpus so direkt erfahr- und erforschbar.
Wo in der Medizin mit (f)MRT-Bildern gearbeitet wird, ist es so, dass die numerischen Datenkorpora, die während des bildgebenden Verfahrens anfallen, überhaupt nicht mehr betrachtet werden, sodass die Mediziner/-innen sich allein auf die visuelle Evidenz der Bilder verlassen. Möglich ist diese Methode durch die computergestützte Visualisierungstechnik moderner Tomografen, die Messwerte in Farbpunkten darstellt und auf ein ‚Standardhirn‘, eine digitale Form des klassischen Hirnatlas, projiziert (Rijcke und Beaulieu 2014, Beaulieu 2002). Auch in der klinischen Forschung mit fMRT (vgl. Alać 2008) ist es häufig so, wie uns u. a. Sabine bestätigte, dass nur mehr die aggregierten Resultate in Form der Bilder angesehen würden (EXP_11, Z. 566–596). (Statistische Zusammenfassungen von Daten lassen sich zwar auch in Form von Tabellen generieren. Wissenschaftler/-innen im Feld bestätigten uns aber, dass im Zweifelsfall stets die Bilder zu Rate gezogen würden.)28
Im Folgenden werde ich, wie angekündigt anhand einer weiteren Sequenz aus Axels Group-Talk, erläutern, welche Bedeutung statistische Bilder, als Bestandteil des binnenstrukturellen Werkzeugkoffers, für den dritten und finalen Teil des Group-Talks besitzen, nämlich die abschließende Evidenzerzeugung für die Ergebnisse der individuellen Forschungsarbeit. Bei der im Folgenden betrachteten Sequenz des Group-Talks von Axel handelt es sich um den abschließenden und daher typischerweise stark monologischen Teil des Group-Talks, der sich „sequenziell schon dadurch auszeichnet, dass ihm nicht mehr widersprochen wird“ (Wilke, Lettkemann und Knoblauch 2018, 266). Wie ich im Kapitel zur situativen Realisierung (Abschnitt 4.3) noch genauer zeigen werde, ist der Group-Talk in seinen früheren Teilen (Erläuterung des Forschungsansatzes und des eigenen Modells) maßgeblich durch einen dialogischen Charakter geprägt. Während Einleitung und Explikation der eigenen Modelle befinden sich die Hauptredner/-innen häufig in einer Art Kreuzverhör, in dem die Vertreter/-innen der einen oder anderen Domäne, z. B. des mehr informatischen einer- und des stärker biologisch geprägten ‚Flügels‘ andererseits, die Ausführungen hinterfragen und offensiv kritisieren bzw., gleichsam im Namen der Hauptredner/-innen, erläutern, erklären oder legitimieren (vgl. Abschnitt 4.3). In der typischen dritten und letzten Phase des Group-Talks (Ergebnisdarstellung) verstummen diese kontrovers geführten Dialoge häufig zugunsten einer formaleren Zurückhaltung. Dies entspricht dem Gegenstand dieser Phase des Talks, in dem die ‚harte Fakten‘ präsentiert werden. (Dass auch in diesem dritten Teil des Group-Talks Einsprüche erfolgen können, dokumentiert die im folgenden Abschnitt (4.3.1) analysierte Sequenz aus dem Group-Talk des Psychologen Björn.)
In den folgenden Ausführungen von Axel geht es ihm darum, die Güte eines von ihm entwickelten Kompressionsalgorithmus zu belegen, der, für die Effektivität seines zuvor erläuterten Modells (Abschnitt 4.2.2) elementar ist. Im Kern geht es dabei um die Frage, wie sich die Flut von visuellen Wahrnehmungsdaten reduzieren lässt, sodass ein videogestütztes Computersystem dazu in die Lage versetzt werden kann, wesentliche von unwesentlichen Daten zu unterscheiden, um die gewünschten Operationen effektiv und effizient prozessieren zu können. Hierfür schlägt Axel die Kompression der Messdaten vor, wobei er der Logik einer Regressionsanalyse folgt. Hierzu habe er einen eigenen Algorithmus entwickelt, der es erlaube, die Datenmenge auf Hauptkomponenten zu reduzieren, die denselben Informationsgehalt aufwiesen, wie die ursprünglichen, nicht komprimierten Rohdaten. Den Nachweis darüber, dass sein Algorithmus tatsächlich in der versprochenen Weise funktioniert, führt Axel in der folgenden Sequenz anhand einer Beispielfunktion, die er zur Testung seines Algorithmus der Fachliteratur entnommen hat. Diese von ihm gewählte Datengrundlage habe er mittels seines Kompressionsalgorithmus auf zwölf Hauptkomponenten reduziert, deren lineare Kombination, so Axel, die ursprüngliche Funktion näherungsweise abbilde. Auch dieses abschließende Ergebnis wird von ihm keineswegs nur sprachlich vollzogen. Vielmehr bezieht sich Axel auch hier wieder auf Visualisierungen. Dazu dienen ihm Bilder, die er mittels eines Statistikprogramms (MATLAB) erzeugt hat und die er in der Sequenz präsentiert (siehe Abbildung 4.13).
Um die gattungstypische Verschränkung seiner Argumentationsweise mit den Visualisierungen bzw. statistischen Bildern, die er in seiner Präsentation zeigt, nachvollziehen zu können, muss man Axels Verbalkommentar im Wortlaut ebenso berücksichtigen wie seinen performativen Stil während der entsprechenden Sequenz. Aus diesem Grund stelle ich der Analyse hier wieder ein vollständiges und zusammenhängendes Transkript voran. Für die Transkriptionszeichen, die ich verwende, verweise ich abermals auf Tabelle 1.1.29
Nachdem Axel auf die entsprechende Folie (Abbildung 4.13) gewechselt ist bzw. diese auf die Wand projiziert wird, erläutert er:
Vollständiges Transkript: VID_1_Sequenz 3
In der transkribierten Sequenz (Z. 1–22), die einen Monolog darstellt, da Axel keine Nachfragen gestellt bekommt und nicht unterbrochen wird, erklärt er sein Vorgehen bei der Komprimierung und die Wirkung des von ihm zu diesem Zweck entwickelten Kompressionsalgorithmus, den er als Resultat seiner Arbeit präsentieren möchte. Dazu bedient er sich statistischer Heatmaps, einer Visualisierungsweise, „die an das Bild einer Wärmebildkamera erinnert und zweidimensionale Korrelationen mittels unterschiedlicher Farben leicht einsichtig macht. Entsprechend dem Vorbild des Wärmebilds werden Rottöne i. d. R. für hohe, Blautöne dagegen eher für niedrige Werte gebraucht. Eine verbindliche Konvention gibt es innerhalb der CNS aber nicht“ (ebd., S. 266).30 Schauen wir uns, bevor wir zu Axels Ausführungen kommen, zunächst seine Folie noch etwas genauer an: In der oberen Hälfte befinden sich zwei große sowie zwölf kleinere Wärmebilder (Abbildung 4.14). Das linke große Bild stellt eine Heatmap der ursprünglichen Funktion dar. Die kleineren Wärmebilder in der Mitte bilden die zwölf Hauptkomponenten ab, die Axel durch seinen Kompressionsalgorithmus gefunden hat. Das große Bild oben rechts schließlich repräsentiert die Linearkombination der zwölf komprimierten Hauptkomponenten, Axels Ergebnis.
Die Schluss-Sequenz aus Axels Group-Talk weist eine dreigliedrige Struktur auf: Im ersten Abschnitt (Z. 1–13) objektiviert Axel die relevanten Elemente seiner Argumentation in gesprochener Sprache. Im Vergleich zu vorangegangenen Sequenzen dominiert dabei durchgängig ein mathematisch geprägter fachlicher Kode. Axel nimmt Bezug auf Termini aus der Statistik, genauer aus der Regressionsanalyse bzw. der linearen Algebra. Einzeln geht er so die Begriffe „value functions“ (Wertfunktionen), „original function“ (Ursprungsfunktion), „features“ (Merkmale/ Komponenten) und „linear combination“ (Linearkombination) durch, wobei er sein methodologisches Vorgehen in knappen Sätzen beschreibt.31 Im zweiten Abschnitt der Sequenz (Z. 13–15) nimmt Axel auf einen statistischen Kennwert Bezug („l-squares-error“), den er hinsichtlich seiner regressionsanalytischen Schätzung (Least Squars Method) dazu gebraucht, um näherungsweise die Abweichung der von ihm gewählten Funktion (Linearkombination aus den zwölf Wertfunktionen) von den tatsächlichen Datenpunkten (Ursprungsfunktion) zu bestimmen. Dieser Wert, der „l-square error“, sei sehr klein. Das bedeutet, seine Funktion ist „really, really close“ in Bezug auf die Ursprungsfunktion. Im dritten und letzten Abschnitt der Sequenz (Z. 16–22) wendet sich Axel wieder den Visualisierungen selbst zu und thematisiert an ihnen ausführlich die visuelle Evidenz, die seine Heatmaps in Bezug auf die methodologische Güte seiner Kompression liefern.
Betrachten wir zunächst Axels Performanz während dieser drei Abschnitte etwas genauer: Zu Beginn seiner Ausführungen steht er vom Publikum aus gesehen links neben der an die Wand projizierten Digitalfolie. Während der ersten Sätze blickt er das Publikum so noch frontal an (face formation). Mit dem Bezug auf die inhaltlichen Aspekte seines Vortrags wendet er sich für einen Augenblick vollständig seiner Folie zu (Z. 4–6). Dabei hält er einen Laserpointer in seiner rechten Hand und weist damit auf die jeweils seinen Worten entsprechenden digital visualisierten Objektivationen auf der Folie. Während er so schrittweise die relevanten Begriffe durchgeht, bedient er sich zahlreicher Pronomen („these“, „they“, „this“). Die Hinwendung zur Folie löst er erst wieder auf, als er zum Höhepunkt des ersten Abschnitts der vorliegenden Sequenz gelangt, zu seinen Resultaten („features“ und ihre „linear combination“). An dieser Stelle nimmt er die für Präsentationen typische Körperformation (Knoblauch 2007, 126–133) ein, „die den Körper in eine Halbstellung bringt“ (ebd., S. 127). „Er weist mit seiner Vorderseite zwischen das Publikum und die Leinwand“ (ebd.) und tritt so als Vermittler zwischen sich, die anderen und die visuellen Objektivationen, die er in der Präsentation zeigen möchte (Triade des kommunikativen Handelns; Abschnitt 2.​2.​1). Im zweiten und dritten Abschnitt der Sequenz bleibt Axel in Körperformation, sodass er fortgesetzt den Konnex zwischen den Objektivationen seiner Arbeit und den anderen performativ herstellt. Hierbei wechseln auch seine Blicke und Gesten laufend zwischen den Visualisierungen auf der Folie und dem Publikum hin und her.
Anhand der visuellen Repräsentationen macht er das Ergebnis seiner Arbeit für die anderen Teilnehmer/-innen des Group-Talks so buchstäblich evident: Er weist im Wortsinn darauf hin, dass sein Kompressionsalgorithmus, dem bloßen Augenschein nach (Z. 21: „with the eye“), gemäß seinen Ausführungen funktioniere. Den letztgültigen Beweis der Güte führt er dabei maßgeblich anhand der visuellen Übereinstimmung der linken mit der rechten Datenrepräsentation, also den Heatmaps der ursprünglichen und der komprimierten Daten. Er macht die anderen, während er die Visualisierungen mit ihnen betrachtet, sprachlich auf diese ‚Gleichheit‘, auf die visuelle Ununterscheidbarkeit aufmerksam und fordert sie dazu auf, sich selbst zu überzeugen: „when you really? compare those things here“ (Z. 17–18). Mit diesen Worten formuliert Axel mit gesprochenen Worten den Imperativ, dem er auch mit seinen hin- und hergleitenden Blicken und Gesten Ausdruck verleiht, nämlich seine Kolleg/-innen mögen seine Argumentation selbst unmittelbar visuell überprüfen.
Dabei nimmt er das Ergebnis der Überprüfung, zu der er so energisch auffordert, vorweg: Mit seinem ‚wenn ihr wirklich‘ („when you really“) im Kontext von „compare those things“, insinuiert er, dass, wenn man es (den Vergleich: „compare“) richtig anstelle, zu keinem anderen Urteil gelangen könne wie er selbst. Dass es sich bei den Worten „when you really? compare those things here“ (Z. 17–18) um etwas anderes als eine Einladung zum selbstständigen Nachvollzug seiner visuellen Beweisführung handelt, wird zudem durch die darauf folgenden Worte von Axel deutlich: Er fährt zunächst mit ‚es gibt wirklich‘ („there is really“; Z. 18–19) fort, korrigiert sich dann aber zu „you can’t find a difference with the eye“ (Z. 21). Es hat dabei den Anschein, als habe er ursprünglich damit fortfahren wollen, zu sagen, dass es wirklich keinen visuell zu erkennenden Unterschied zwischen beiden Visualisierungen gibt („there is really“). Dann unterbricht er diesen Satz allerdings, sodass die Aussage Fragment bleibt. Spätestens aber durch den vollständigen Zusatz: „You can’t find a difference with the eye“ (‚Ihr könnt mit bloßem Auge keinen Unterschied finden‘, Z. 21), entpuppt sich die anfängliche Aufforderung zur Überprüfung als geschickte Rhetorik: Axel gibt das Ergebnis der Überprüfung, zu der er seine Kolleg/-innen auffordert, gemeinsam mit dieser Aufforderung sogleich vor und schließt sein Publikum dabei in seiner Bild-Kommunikation an das eigene Urteil an. So nutzt er im Rahmen seines präsentationalen Wissens die Überzeugungskraft des Visuellen (Latour 1990), der er sprachlich und performativ Ausdruck verleiht: Er ist sich bewusst, dass die Objektivation seiner Argumentation, in Form der von ihm erstellten und nebeneinander arrangierten Heatmaps auf der von ihm vorbereiteten und an die Wand projizierten Digitalfolie, buchstäblich ‚im Raum steht‘ und daher von niemandem bestritten werden kann.
Mit den Worten „The l-square-error is somewhere in the range of ten to minus nine or so. And it is really, really close“ (Z. 13–16) nimmt Axel zusätzlich auf einen statistischen Koeffizienten Bezug, der bei linearen Regressionen dazu dient, die Abweichung zwischen einem wahren und einem vorausgesagten Wert zu ermitteln. Durch das Datenbeispiel wird daher auch deutlich, dass Axel die Güte seines Kompressionsalgorithmus nicht allein durch einen Bildervergleich und seine sprachliche Ausführung kommuniziert. Dass es nicht zu Einsprüchen und Dissensmarkierungen kommt, liegt vielmehr auch daran, dass unter den Teilnehmer/-innen der Forschungsgruppe, insbesondere bei Wolf, ein priorisiertes Formalwissen besteht, auf das Axel in der Sequenz ausdrücklich Bezug nimmt und auf das die visuellen Darstellungen lediglich hinweisen. Die Bedeutung der Kennziffer, die Axel der Aufforderung zum Vergleich vorausschickt, wird erst vor dem Hintergrund eines weitgehend geteilten bzw. vorausgesetzten Wissens (hier: um quantitative Datenanalyseverfahren) ‚objektiv‘. Sie stellt dabei die mathematische Grundlage dafür dar, wieso die in Form von Heatmaps präsentierten Funktionen optisch nicht zu unterscheiden sind und untermauern diesen Befund so mit formaler Autorität (vgl. Abschnitt 4.2.1).
Typisch für die Bild-Kommunikation im Group-Talk ist (vgl. Abschnitt 4.2.1 und 4.2.2), dass, neben der digitalen Repräsentation von Forschungsansätzen, -modellen und -ergebnissen, ein entsprechendes präsentationales Wissen erforderlich ist, durch das sich das intersubjektive Verstehen visuell erst einstellen kann. Dieses Wissen, als wesentlicher Bestandteil der Binnenstruktur des Group-Talks, umfasst sowohl die Fähigkeiten, visuelle Kompetenz, fachspezifische Repräsentationsordnungen und Sehgewohnheiten der jeweils anderen Anwesenden zu antizipieren, als auch entsprechende Formen auswählen zu können (Rezipient/-innendesign).
In Axels Schlusssequenz zeigt sich, dass die Visualisierungen, die er gewählt hat, selbst Visualisierungen von Repräsentationen (numerisches Korpus) und keineswegs, wie in den vorangegangen Beispielen, Abbildungen von Gegenständen sind. Statistische Bilder, die für die Ergebnisdarstellung im Group-Talk der beobachteten CNS-Forschungsgruppe typisch sind, werden, im Gegensatz zu den in der Regel analogisch eingesetzten Alltagsbildern zur Erläuterung von Forschungsansätzen, von den Akteuren im Feld, wie auch hier von Axel, selbst hergestellt, wodurch ein weiterer Aspekt des präsentationalen Wissen (Herstellung entsprechender Visualisierungen) zum Ausdruck kommt. Bilder müssen also nicht nur ausgewählt oder zusammengestellt, sondern auch produziert werden, sodass sie dem Zweck der Bild-Kommunikation im Group-Talk genügen. Während die Hauptsprecher/-innen des Group-Talks immer dann vor besonderen Herausforderungen stehen, wenn sie mit ihren Ausführungen zu ihren Forschungsansätzen und -modellen den interdisziplinären Kontext der CNS und damit der Forschungsgruppe adressieren müssen (Abschnitt 4.2.1 und 4.2.2), kann sich die Darstellung von Ergebnissen dabei auf einen Bildtyp verlassen, der mit in der Gruppe priorisiertem formalen Wissen verknüpft ist (Statistik).
Sowohl in der Nutzung und Herstellung von Bildern als auch in der richtigen Auswahl und Zusammenstellung von Visualisierungen sowie nicht zuletzt in der sprachlichen Adressierung des richtigen Wissens kommt in der CNS präsentationales Wissen zum Ausdruck. Gelingende Wissenskommunikation entspringt dabei jeweils aus dem Zusammenspiel unterschiedlicher Wissensformen (Alltagswissen, visuelles Wissen, formales Wissen). Wie diesen letzten Abschnitt des Group-Talks, zeichnet auch seine typischerweise vorangegangenen Abschnitte (Einleitung und Modell) aus, „dass hier ein von Wissen geleitetes Sehen relevant wird, dessen Wissensgrundlage von allen geteilt wird“ (Wilke, Lettkemann und Knoblauch 2018, 267). Dabei zielt präsentationales Wissen in der Ergebnisdarstellung zwar häufig auf die Integration von visuellem Wissen und Statistik ab, ist aber, wie wir in den Analysen der vorangegangen Episoden sehen konnten, keineswegs darauf beschränkt. In allen Fällen erweist sich das präsentationale Wissen für die Wissenskommunikation im Group-Talk als essenziell: Es zielt “nicht auf die Abbildung eines epistemischen Objekts”, sondern erlaubt „Wissen auf eine Weise auf[zuzeigen; R.W.], die es für andere verwendbar macht“ (ebd., S. 246). Vor dem Hintergrund dieser Zweckbestimmung ist das präsentationale Wissen daher elementar für die Wissenskommunikation der beobachteten CNS-Forschungsgruppe und von vitaler Bedeutung für die binnenstrukturelle Verknüpfung des Group-Talks zu einem gattungsanalytischen Gesamtmuster.

4.2.4 Resümee

Die Binnenstruktur umfasst die zeichenhaften linguistischen und visuellen Elemente des Group-Talks, einschließlich des Wissens, diese gattungstypisch anzuwenden. In der Analyse zeigte sich, wie stark der Group-Talk binnenstrukturell, auf Grundlage der englischen Sprache als Lingua Franca (ELF) und dem unentwegten Übersetzen zwischen verschiedenen Fachjargons, von präsentationalem Wissen geprägt ist. Die drei typischen, konsekutiv aufeinanderfolgenden Episoden des Group-Talks, erstens Erläuterung der Bedeutung von eigenen Ansätzen, zweitens von Modellen und drittens die Evidenzerzeugung von Forschungsergebnissen, hängen maßgeblich von dem Wissen ab, welche Visualisierungsformen gewählt, welches (Visualisierungs-)Wissen und welche Sehgewohnheiten bei den Rezipient/-innen antizipiert werden und schließlich, ob ein spezifischer Ansatz oder ein Forschungsergebnis überhaupt (bild-)kommunikativ darstellbar ist. Entsprechend haben sich für die typischen drei Teilepisoden des Group-Talks jeweils korrespondierende Bildtypen, nämlich Alltagsbilder, die für Analogien eingesetzt wurden (Ansätze), kybernetische Darstellungsweisen (Modelle) sowie statistische Visualisierungen (Ergebnisse) etabliert. Das Rezipient/-innendesign, als Teil des präsentationalen Wissens, umfasst dabei nicht nur die Auswahl und die Herstellung von Visualisierungen, sondern bezieht auch die Sprache mit ein. Dazu gehört sowohl die schrittweise Erläuterung eigener Ansätze im Sinne absteigender begrifflicher Komplexität als auch die Verwendung von Alltags- und Fachsprache (z. B. Statistik).
Das präsentationale Wissen darum, wie Wissen kommuniziert werden kann, sodass andere es verstehen und nutzen können, die korrespondierenden Objektivierungen und Objektivationen in Form von intelligent vereinfachender Sprache und unterschiedlichen Visualisierungstypen, stellen das markanteste Merkmal der Binnenstruktur des Group-Talks dar. In den Interviews belegen die Forscher/-innen, dass dieses Wissen explizit ist, d. h. dass sie es bewusst in ihrer Bild-Kommunikation zum Einsatz bringen. Die derart angeleitete Kombination von visuellen und sprachlichen Registern ist das wesentliche Tool in der Bewältigung der feldtypischen Herausforderungen und daher im Feld tief verankert. Das kam auch anekdotisch, z. B. in einem Nebengespräch mit zwei Feldteilnehmerinnen zum Ausdruck, die uns irritiert berichteten, einmal hätten sie eine interdisziplinäre Konferenz besucht, auf der auch Sozialwissenschaftler/-innen ihre Arbeiten vorstellten. Allerdings seien deren Vorträge, wie sie schmunzelnd eingestanden, äußerst ‚langweilig‘ („boring“) gewesen, da diese keine Bilder gezeigt und im Übrigen schlicht ihre vorbereiteten Manuskripte vom Papier abgelesen hätten. Für die beiden Forscherinnen in der CNS dokumentierte diese Praxis offensichtlich einen Mangel, eine Schlichtheit in der Ausstattung des zum Einsatz gekommenen binnenstrukturellen Werkzeugkastens, die sie zu erstaunen schien.

4.3 Der Group-Talk und seine situative Realisierung32

Nach der empirischen Analyse der Binnenstruktur folgt in diesem Kapitel abschließend die Analyse der Merkmale der situativen Realisierung des Group-Talks. Dazu werde ich zwei im Rahmen unserer Videographie aufgezeichnete Einschubsequenzen genauer betrachten. Die Episoden wurden von mir in Hinblick auf ihre exemplarische Typizität für die situative Realisierung des Group-Talks ausgewählt. Sie bringen die beschriebenen, charakteristischen Eigenarten der Gattung in situ auf den Punkt. Aus Anonymisierungsgründen wurden auch die im Folgenden wiedergegebenen Momentaufnahmen aus der Videographie nachzeichnend bearbeitet (Wilke 2018).

4.3.1 Talk in Interaction I: Die kollektive Erzeugung von Konsens

(VID_2: Sequenz 41:08–44:05)
Björn, der Hauptsprecher des Group-Talks aus dem die kurze Sequenz stammt, die zunächst betrachtet werden soll, ist Psychologe und Neurowissenschaftler, der vor seiner Partizipation an Wolfs Forschungsgruppe bereits in den USA und Frankreich an CNS-Forschungsgruppen beteiligt war. Björn ist uns bereits kurz in Abschnitt 4.1.2.2 begegnet. Er arbeitete als Postdoktorand mit experimentellen Daten in der beobachteten Forschungsgruppe. Im Vorlauf der Einschubsequenz hat er bereits den Rahmen seiner Forschung skizziert: Mittels eines statistischen Verfahrens (Principal Component Analysis, kurz PCA) re-analysiert er verhaltensexperimentelle Daten, die mit Hilfe von Zellableitung (cell recording) im visuellen Kortex von wachen Affen erhoben wurden. Technisch basiert diese Form der Datenerhebung auf sehr feinen Elektrodenleitern, die in das Hirngewebe eingebracht werden. So ist eine Messung im Bereich der fraglichen Neuronen theoretisch Zell-genau möglich. Im Rahmen der Datenerhebung wurden die Erregungszustände von ca. 100 Zellen je Versuchstier gleichzeitig gemessen. Den Versuchstieren wurden während der Experimente visuelle Stimuli präsentiert. Wegen der hohen Datenrate der neuronalen Informationsverarbeitung (gemessen in spikes) wurden pro Versuchslauf ca. 6000 Messpunkte erhoben. Der Datensatz umfasst je 400 Versuche an zwei unterschiedlichen Versuchstieren. Das statistische Verfahren dient also auch hier, wie bereits im Fall der zuvor analysierten Sequenz aus dem Group-Talk des Informatikers Axel (Abschnitt 4.2.3), der Datenreduktion, mit dem Ziel aussagekräftige Werte zu extrahieren. Als Ergebnis der PCA zeigt Björn schließlich eine zweidimensionale Visualisierung von drei komprimierten Hauptkomponenten des ursprünglichen Datensatzes von insgesamt 4,8 Millionen Datenpunkten. Diese Art von statistischen Visualisierungen ist erfahrungsgemäß schwer zu lesen. Mit der nächsten Folie seiner digitalen Präsentation möchte er daher eine andere Visualisierung der bereits durch die PCA ‚geglätteten‘ Daten vorschlagen. Die folgende Einschubsequenz beginnt, als Björn eine Taste auf seinem Laptop bedienen möchte, um die Folie seiner digitalen Präsentation zu wechseln (siehe Abbildung 4.15). Wegen einer Nachfrage stoppt Björn allerdings und seine Präsentation verharrt auf der zuvor besprochenen Folie. (Hier füge ich das von mir erstellte Transkript aus dem Videodatum abschnittsweise ein. Der Auszug ist ca. 2:57 min. lang. Für die Transkriptionszeichen, die ich verwende, verweise ich wieder auf Tabelle 1.1.)
Zu Beginn der Einschubsequenz wendet Björn, der soeben die Folie wechseln wollte, seine Aufmerksamkeit dem Forschungsgruppenleiter Wolf zu, da der eine Nachfrage an ihn richtet (Z. 1–3). Dabei zeigt sich der Werkstattcharakter des Group-Talks sogleich in zweierlei Hinsicht: Erstens wird dieser in Wolfs unvermittelter Nachfrage deutlich, für die dieser sich an Björns Performanz, d. h. dem körperlichen Vollzug seines Talks orientiert. (Interaktionsanalytisch ist die Wahl des Zeitpunkts dabei kein Zufall. Tatsächlich nutzt Wolf eine ikonische Körperhaltung von Vortragenden bei PowerPoint-Präsentationen (Wilke und Hill 2019), die Björn in diesem Moment einnimmt und die uns auch später (Abschnitt 4.3.2) noch einmal begegnen wird). Die gattungstypische Symmetrie von Sprecher/-innen- und Zuhörer/-innenrolle zeigt sich zudem darin, dass auch der Informatiker Axel sich unangekündigt selbst zum nächsten Sprecher kürt (Z. 9) und anstelle von Björn das Wort ergreift, um das Problem zu lösen. Dass dies keine reparaturbedürftige Störung des Ablaufs darstellt, sondern es sich um eine typische ‚Werkstattsituation‘ handelt, zeigt Björn zweitens dadurch, dass ihn die Zwischenrufe nicht zu irritieren scheinen. Vielmehr nutzt er seinerseits die Gelegenheit, um an das Whiteboard zu treten und die betreffenden Punkte auf andere Art zu repräsentieren (Abbildung 4.16). Spontan öffnet er dabei die vorentworfene lineare Produktionsweise der digitalen Präsentation zugunsten einer dynamischeren Darstellungsweise am Whiteboard und illustriert so, gleichsam die Black Box seiner bisherigen Darstellungsweise öffnend, ein typisches Strukturmerkmal der situativen Realisierung des Group-Talks als ‚CNS-Werkstatt‘.
Nachdem Björn zum Whiteboard gegangen ist (Z. 13) wendet sich die Gruppe seitlich, um ihn bei der Aufschrift einer Matrix betrachten zu können (Abbildung 4.16, oben rechts). Allerdings liefert auch diese neue Darstellung (Z. 14–29) nicht unmittelbar die von Wolf eingeforderte Erklärung des Vorgehens von Björn bei der PCA. – In einem Elizitationsinterview, das wir im Anschluss an die hier videographierte Episode mit Björn durchführten, erläuterte er, dass sich seine Darstellung an einer in seiner Ursprungsdisziplin (Psychologie) geläufigen sozialwissenschaftlichen Konvention orientierte, die dem Physiker Wolf ad hoc nicht geläufig war: Je nach Lehrbuch, sagte uns Björn, würden unterschiedliche Informationen in die Hauptkomponenten („principal components“) einfließen, sodass, je nach Fachhintergrund, unterschiedliche Interpretationen, sowohl des Begriffs als auch der Matrix möglich seien. – Abermals, nachdem Wolf zwei weitere Verständnisfragen stellt (Z. 30–31, 35) wählt sich Axel selbst zum nächsten Sprecher:
Axel ‚springt‘ Björn im Wortsinn zur Seite (Z. 36–37) und fordert ihn höflich auf (Z. 37: „may i?“), die Hauptkomponenten ‚mathematischer‘ zu definieren (Z. 38–39) (Abbildung 4.17). Zu diesem Zweck schreibt er daraufhin, mit einem anderen Stift, da der noch über die Matrix nachdenkende Björn nicht schnell genug auf seine Geste reagieren kann, zwei Funktionen an das Whiteboard (Z. 39–40), die unterschiedliche Interpretationen der Hauptkomponenten repräsentieren. Er fragt hierauf Björn, welche Interpretation die richtige sei (Z. 40–41). Auf Grundlage dieser mathematischen Reformulierung der ursprünglichen Fragestellung von Wolf übernimmt Axel in dieser Situation spontan die Rolle des Übersetzers zwischen den unterschiedlichen fachlichen Herangehensweisen. Indem er sein Vorgehen einer der beiden von Axel vorgeschlagenen Funktionen zuordnen kann (Z. 43), gelingt es Björn nun auch tatsächlich, Wolfs Frage zu beantworten, welche Größen in die PCA eingeflossen sind. Das Ende der Einschubsequenz markiert eine kurze Abfolge von Redezügen zwischen Axel und Björn (Z. 45–50). Axel rekonstruiert dabei aus Björns Klarstellung das zur Diskussion gestandene Vorgehen von Björn und leitet daraus eine positive Implikation seiner Methodik ab (Z. 48), was dieser jeweils mit einem kurzen „yeah“ (Z. 50) ratifiziert.
Typisch an der ausgewählten Sequenz ist ihre hochgradig dialogisch-argumentative Struktur, die es den Teilnehmenden des Auditoriums erlaubt, jederzeit und unangekündigt Nachfragen an die Hauptredner/-in zu stellen oder Kritik zu äußern und so Einschubsequenzen zu initialisieren. Ebenso typisch für den Group-Talk als Werkstatt der CNS ist zudem, dass Björn die Nachfragen nutzt, um erstens spontan ein neues Repräsentationsmedium (Whiteboard) zu wählen und dabei zweitens die ‚Oberflächenversiegelung‘ seiner auf PowerPoint-Folien vorentworfenen Forschungsergebnisse für die Nachfragenden in situ nochmals zu öffnen.
An dieser Stelle möchte ich den Group-Talk erneut, anhand Goffmans Arbeit zu den Forms of Talk (1981), mit dem Vortrag (Abschnitt 3.​1.​5) vergleichen, der ein Kommunikationsereignis darstellt, das Ähnlichkeiten, wie sich hier allerdings zeigt, auch erhebliche Unterschiede zum Group-Talk aufweist. Goffman zufolge ist Aufgabe des Vortrags die Herstellung eines „calmly considered understanding“ und nicht etwa „emotional impact, or immediate action“ (ebd., S. 165):
A lecture, then, purports to take the audience right past the auditorium, the occasion, and the speaker into the subject matter upon which the lecture comments. (ebd., S. 166)
Im Zentrum des Vortrags steht demnach die Narration der Vortragenden, in deren Verlauf das Publikum ganz in deren Sinnwelten eintauchen soll. Dies entspricht unseren Beobachtungen eines zur Kontrastierung videographisch erhobenen geisteswissenschaftlichen Kolloquiums. Für den Vortrag ist vor allem die stimmliche Vortragsweise, eine möglichst geschliffene Stimmproduktion, zentral. Ganz in diesem Sinne bezeichnet Goffman ihn folgerichtig als ein ‚Sprechereignis‘ (ebd.). Als solches, so Goffman, sei der Inhalt dem Vortrag völlig äußerlich (ebd., S. 172). Der Text, der zum Zweck des Vortragens auswendig gelernt würde, könne nämlich, so argumentiert er, grundsätzlich auch als Druckerzeugnis rezipiert werden. Spezifisch für die situative Realisierung des Vortrags sind demnach vielmehr die Unabwägbarkeiten, die durch die Face-to-face-Situation entstünden und so zur Textreproduktion der Vortragenden hinzutreten würden (ebd., S. 172 f.). Das Besondere, das die Teilnehmenden des Auditoriums im Vortrag erhielten, sei daher auch, wie Goffman sich ausdrückt, die Verpackung und nicht der Kuchen: „the box, not the cake“ (ebd., S. 173).
Betrachtet man zum Vergleich die zerklüftete Ablaufstruktur des vorangegangenen Beispiels aus einem typischen Group-Talk, so liegt evtl. die Frage nahe, wieso die Gruppe nicht eine andere Kommunikationsform, etwa den klassischen Vortrag, wählte. Die GA liefert hierauf eine klare Antwort. Vergleicht man Group-Talks und Vorträge hinsichtlich ihrer Funktion, dann wird deutlich, dass die beobachtbaren Unterschiede auf den jeweiligen außen- und binnenstrukturellen Kontext (Abschnitt 4.1 und 4.2) hindeuten: Vor diesem Hintergrund erweisen sich die Merkmale (Dialogizität, Spontanität, Werkstattcharakter), die sich in der oben analysierten typischen Sequenz zeigen, als höchst funktionale Elemente des Group-Talks. Rekapituliert man im Kontrast dazu die Auszüge aus Goffmans Analyse des Vortrags, so wird deutlich, dass dieser eine maßgeblich repräsentative Funktion hat, die sich für die Zuhörenden in Form einer gelungenen Darbietung, für die Vortragenden (sowie die ausstattende Institution) als Prestigegewinn bezahlt machen kann. Goffman nennt zahlreiche Techniken, wie etwa das „textual self“ (ebd.), derer sich Vortragende in ihrer Redeweise bedienten, um die Teilnehmenden des Auditoriums, bis auf weiteres, in die Rolle stiller Zuhörer/-innen zu bannen:
[T]he textual self, that is, the sense of the person that seems to stand behind the textual statements made and which incidentally gives these statements authority. Typically this is a self of relatively long standing, one the speaker was involved in long before the current occasion of talk. This is the self that others will cite as the author of various publications, recognize as the holder of various positions, and so forth (ebd., S. 173 f).
Die Rolle des Text-Selbst ermöglicht die Erzeugung und Aufrechterhaltung einer Asymmetrie zwischen dem oder der Vortragenden und dem (stillen) Auditorium. Im Text-Selbst spricht eine hochgradig idealisierte Person, die Legitimität, Wissenschaftlichkeit und die diskursive Autorität der Wissenschaft besitzt und in situ praktisch behauptet:
Their speaking presupposes and supports the notion of intellectual authority in general: that through the statements of a lecturer we can be informed about the world. Give some thought to the possibility […] that after a speech, the speaker and the audience rightfully return to the flickering, cross-purposed, messy irresolution of their unknowable circumstances (ebd., S. 195).
Gegensätzlicher könnten Ablauf und Funktion des Group-Talks sich hierzu kaum darstellen. Er dient, wie wir sehen konnten, keineswegs dem Ziel ‚ruhiges‘ oder gar ‚beruhigendes‘ Verstehen zu erzeugen, bevor die Teilnehmenden wieder in ihre „flickering, cross-purposed, messy […] circumstances“ entlassen werden. Im Gegenteil: Der Group-Talk ist zuweilen selbst Ort und Zeit der systematischen Verunsicherung, in Goffmans Worten eine ‚flimmernde, sich überkreuzende, chaotische Situation‘. Indem die Hauptsprecher/-in, den Merkmalen der situativen Realisierung des Group-Talks ‚gehorchend‘, den weiteren Teilnehmenden eine aktive Rolle in der Kommunikation einräumt, kommt das in der Gattung institutionalisierte Ziel zur Realisierung, Wissenskommunikation zu ermöglichen, d. h. Behauptetes in Frage stellen zu können, um so geteiltes Wissen herzustellen. Der Konsens ist daher idealiter Produkt des Talks, nicht, wie für den Vortrag, seine Voraussetzung. Dieses Charakteristikum des Group-Talks wird in der folgenden Episode besonders deutlich, wo es, im Gegenteil zur raschen Ratifizierung der Einschubsequenz aus dem Beispiel im Rahmen von Björns Group-Talk (wechselseitiges „Yeah!“), konsekutiv zu mehreren Expansionen bzw. Dissensepisoden kam. Der Fall illustriert dabei besonders eindrücklich, vor welchen Hürden die Hauptsprecher/-innen im Group-Talk stehen und welche Bedeutung die situative Realisierungsebene für die Gattungsförmigkeit des Group-Talks besitzt. Hauptsprecher ist abermals Axel (vgl. Abschnitt 4.2.2). (Da der Datenausschnitt sehr lang ist (ca. 06:29 min.) und nicht alle besprochenen Inhalte für das Verständnis der hier angestellten Analyse relevant sind, bediene ich mich im Folgenden zunächst einer stark zusammenfassenden Wiedergabe der Redebeiträge.) 

4.3.2 Talk in Interaction II: Dissens33

(VID_1: 12:05–18:34; gekürzte Wiedergabe)
Axel ist uns im Rahmen dieser Arbeit bereits aus vorangegangenen Kapiteln bekannt. Im heterogenen Kontext seiner Forschungsgruppe scheint allerdings nicht allen seinen Kolleg/-innen klar zu sein, woran er forscht bzw. worin der thematische Zusammenhang seiner Arbeit zur Gruppe besteht. Offensichtlich hat er diese Unklarheit im Vorfeld seiner Präsentation antizipiert. Er verwendet gleich zu Beginn seines Talks, zur Erläuterung seines Forschungsansatzes, eine Analogie, mittels derer er seine Arbeit im Kontext der CNS verorten möchte.34 Die Analogie veranschaulicht er anhand von zwei Visualisierungen auf einer Folie seiner Powerpoint-Präsentation (Abbildung 4.18). Im Fall der oberen Visualisierung (V1) auf Abbildung 4.18 handelt es sich um eine Kollage. Diese setzt sich aus der Grafik einer befahrenen Autostraße und der Grafik eines LKW zusammen. Letztere überlappt die rechte obere Ecke der Verkehrsabbildung nach Art eines vergrößernden Ausschnitts. Die untere Visualisierung (V2) auf Abbildung 4.18 ist ein Screenshot. Er zeigt die Benutzeroberfläche eines Computerspiels, bei dem es sich um ein Strategiespiel handelt.35
Rhetorisch führt Axel die Analogie mit einer expliziten Einladung an die Teilnehmer/-innen seiner Forschungsgruppe ein, die sich eher mit Anwendungen und Problemen der ‚echten Welt‘ beschäftigten (Axel: „if you like looking to real-life scenes“). Direkt im Anschluss beginnt er die Erläuterung der Visualisierungen und der mit ihnen verbundenen Analogie. Er fordert seine Kolleg/-innen dabei auf, die technische Leistung eines intelligenten elektronischen Verkehrsleitsystems (V1 in Abbildung 4.18), dem sein Algorithmus (vgl. Abschnitt 4.2.3) dienen könnte, mit der menschlichen Aktivität beim Vollzug eines PC-Strategie-Spiels (V2 in Abbildung 4.18) gleichzusetzen (Axel: „take this as an analogy“). Hierauf erläutert er einige seiner theoretischen Vorannahmen, die seiner Gleichsetzung zugrunde liegen. Zum einen betrachte er sowohl Verkehrssituationen als auch Computerspiele als ‚komplexe Zustandsräume‘. Zum anderen könne hier wie dort keinem Objekt (z. B. einem PKW bzw. einer virtuellen Spielfigur) eine spezifische Identität zugesprochen werden (Axel: „the objects itself do not have any identity“). Jedes mögliche Einzelereignis in beiden Zustandsräumen sei deshalb einzigartig, sodass sowohl diese Zustandsräume als auch die jeweiligen Wahrnehmungs- und korrespondierenden Entscheidungsprozesse vergleichbar seien. Beide Prozesse, so Axel, unterliegen einem strukturell homologen Datenverarbeitungsprozess. Im Kern behauptet er also, sein Algorithmus stelle eine Funktion dar, die dem biologischen Prozess bei der visuellen Wahrnehmung in einem vergleichbaren Zustandsraum entspreche. Eine Gleichsetzung, die von einem Biologen aus der Gruppe nicht unwidersprochen bleibt. Die besondere Form des Group-Talks kommt, wie bereits erwähnt, vor allem darin zum Ausdruck, dass jede Zuhörer/-in ohne besondere rituelle Vorrede den nächsten Redezug ergreifen kann. Diese Gelegenheit nutzt nun der Postdoktorand Will für einen Einspruch, der eine argumentative Episode (Dissens) auslöst:
Mit Wills Formulierung, die von einem anderen Mitglied des Publikums, dem Biologen Ern, Zustimmung erfährt („ye::ah“), kommt Axels Analogieversuch ins Wanken. Entscheidend dafür sind die gewählten Visualisierungen, denn Will bezieht sich offenbar auf die Identifizierbarkeit der Objekte, die Axel bestritten hatte, denn Nummernschilder leisten genau dies. Diese Interpretation wird auch von Axel bestätigt, der im Gegenzug eine rhetorische Frage stellt, die sich ebenfalls konkret auf die entsprechende Visualisierung bezieht:
Dass diese Frage rhetorisch gemeint ist, zeigt sich sogleich an dem allgemeinen Lachen im Publikum. Offenbar ist es evident, dass die Fahrzeuge nicht identifizierbar sind. Axel macht sich für die Pointe seiner Antwort zunutze, dass die Auflösung der Visualisierung auf der Digitalfolie zu gering ist, um überhaupt entscheiden zu können, ob die Fahrzeuge Nummernschilder tragen oder nicht. Dass auch Axel seine Erwiderung als rhetorische Frage versteht, zeigt sich darüber hinaus daran, dass er nun keine Antwort abwartet, sondern selbst eine Erläuterung produziert, die, durch den Bezug auf seine zuvor formulierte Analogie, als Begründung für die von ihm behauptete Ununterscheidbarkeit der Einzelobjekte dient:
Nun nutzt Axel die zweite Visualisierung (V2) dazu, seine theoretischen Vorannahmen, die seiner Analogie zugrunde liegen, sprachlich evident zu machen. Im Rahmen einer ersten kleinen „Expansion“ (Jacobs und Jackson 1981) nennt er eine Reihe von Merkmalen der Objekte in dem PC-Spiel von dem der Screenshot (V2) stammt, wobei er die Behauptung der Ununterscheidbarkeit, die Will zuvor anhand von V1 in Frage gestellt hatte, in diesem Kontext überzeugend zu erläutern vermag. Tatsächlich erfolgt zunächst auch keine Nachfrage mehr, allerdings verdeutlicht der weitere Verlauf, dass dieser erste Einschub, die ich an dieser Stelle gekürzt und teilweise in Paraphrasen darstelle, lediglich den Auftakt zu weiteren, größeren Einschubsequenzen darstellt. Als an einer Stelle zunächst wieder kein weiterer Einspruch mehr erfolgt, greift Axel zum Laptop, um die Folie zu wechseln (Abbildung 4.19). (Im Folgenden werde ich die Auszüge des vollständigen Transkripts abschnittsweise wiedergeben. Bzgl. der Transkriptionszeichen, wie zuvor.)
Während Axel die Folie wechseln möchte, resümiert er seine einleitenden Ausführungen (Z. 1–2: „so this is the kind of functions i like to talk about.“). Dabei markiert seine Prosodie zum Satzende (Z. 2: „i like to talk about.“), dass er nun zu einem weiteren Punkt seiner Präsentation fortschreiten wird. Doch just bevor er dazu kommt, die Folie tatsächlich zu wechseln und damit den Übergang zu seinem nächsten Punkt abzuschließen, wendet sich Will, der Axels Körperhaltung und Prosodie entsprechend interpretiert, mit einer neuen Nachfrage an ihn:
Noch bevor Will mit seiner Frage, die er mit einem vorangestellten „Axel“ (Z. 3) sehr direkt adressiert, fertig ist, beginnt der Angesprochene bereits zu antworten (Z. 9: „no, i want“). Als er dies bemerkt, hält er inne und wendet sich dem Fragenden zu. Während er sich Wills Frage zu Ende anhört, läuft er, vehement kopfschüttelnd, auf Will zu und versucht, im Rahmen einer weiteren Expansion, sich zu erklären (Z. 6–9). Zu diesem Zweck beendet Axel an dieser Stelle seine in der Eingangssequenz eingeführte analogische Sprechweise und wendet sich direkt dem statistischen Kern (Z. 8–9: „regression, basically“) seiner Arbeit, seinem mathematischen Modell (siehe auch Abschnitt 4.2.2) zu. Damit aber verlässt er zugleich die (neurobiologisch plausible) Anwendungsorientierung, die er zuvor anhand der Visualisierungen und der gewählten Analogie für seine Arbeit etablieren wollte und auf die Will ihn nun festzulegen versucht. Dass Axel sich durch seine Antwort aber noch weiter von dem entfernt hat, was Will eigentlich von ihm erfahren möchte, verdeutlicht dieser durch seine Replik, die nun klar einen Dissens markiert und dabei die Frage nach der Anwendbarkeit des Modells mit der Frage nach der Angemessenheit von Axels Sprache verknüpft:
Will fordert Axel auf, in klaren Worten zu beschreiben, was er praktisch mit seinem Modell vorhabe. Mit seinem „NO“ verdeutlicht er, dass er sich mit Axels bisheriger Antwort auf diese Frage noch nicht zufrieden gibt und markiert den Dissens: Während er verlangt zu erfahren, wozu der von Axel bislang nur mittels Analogie vorgestellte Ansatz zu gebrauchen sei (Z. 3: „practically speaking“), antwortet dieser, gleichsam von der Einleitung weg und in das Zentrum seiner geplanten Präsentation hinführend, dass er „basically“ (Z. 9) eine Regression, also ein statistisches Standardverfahren durchführen möchte, um sein Modell zu testen.
Daher widerholt Will seine Forderung, Axel solle ‚praktisch gesprochen‘ davon berichten, was er mit seinem Modell vorhabe und verleiht diesem Anspruch noch erheblichen Nachdruck, indem er in gedehnter Sprechweise und mit starker Emphase hinzufügt, als spreche er zu jemanden, der ihn aufgrund einer Sprachbarriere nicht zu verstehen vermag: „in eng:::lish.“ (Z. 10). Damit verdeutlicht Will, dass er das Gefühl habe, beide, also Axel und Will, würden in unterschiedlichen Sprachen zueinander sprechen. Mit seinem Bezug auf das Englische insinuiert er zudem, dass Axel, offensichtlich ganz im Gegenteil zu ihm, wiederholt in Kauderwelsch oder einer jedenfalls ganz und gar unverständlichen und damit auch unangemessenen Sprache auf seine klaren (auf Englisch vorgetragenen) Nachfragen geantwortet habe.
Dabei scheint es durchaus kein Zufall zu sein, dass er dem von Axel vorgebrachten „basically“ nun erneut das lautlich verwandte „practically“ entgegensetzt. Damit ist nicht nur das Thema des Widerspruchs benannt, denn Will möchte ja darauf hinaus, ob es für Axels Ansatz ein praktisches Anwendungsbeispiel gibt, was im Rahmen von Wolfs CNS-Gruppe ein legitimer Anspruch ist. Vielmehr deutet sich in der Wahl dieser Adverbien zugleich die fachliche Zuständigkeit an, denn Axel ist Informatiker und deckt damit in der CNS eher den Bereich der Theorie ab, wohingegen Will als Neurobiologe den Wolf so wichtigen Aspekt der biologischen Plausibilität der Modellierung repräsentiert. Axel scheint sich dem bewusst, was sich daran zeigt, dass er nicht mit dem von ihm geplanten Verlauf, sondern weiterhin im Rahmen der begonnenen Expansion, mit einer sehr präzisen, praktischen Erläuterung dessen fortfährt, was er „basically“, also im Grunde, mit seinem Modell beabsichtigt:
Offenkundig adressiert Axel hier mit „you“ (Z. 11 und 12) jeweils Will; seine Äußerung bezieht sich dann, erneut anhand einer seiner Visualisierungen, auch tatsächlich sehr ‚praktisch‘ darauf, was er von Will ‚möchte‘ (Z. 12: you give me) und was er ihm dafür ‚gibt‘ (Z. 11: i give you). Mit dieser Äußerung greift er einerseits die von Will eingebrachte maximal-vereinfachende Sprechweise auf und bemüht sich andererseits um eine formale Schließung der Expansion, indem er mit seiner Formulierung, eingeleitet durch eine Einverständnismarkierung (okay), Wills erste allgemeine Frage ganz konkret beantwortet:
Axel impliziert hier zudem eine inhaltliche Schließung, indem er Will rhetorisch in seine Arbeit einbezieht. Dabei spricht er den Kooperationsgedanken zwischen den autonomen Forschungsprojekten innerhalb der Gruppe an. Mit seiner Wortwahl (i give you/ you give me) bedient er schließlich auch das versöhnliche Prinzip des Gebens-und-Nehmens und entschärft so, offensichtlich auf Heilung des Dissens abzielend, Wills Kritik (Interaktionsordnung). Dabei bindet er Will sprachlich in einer Weise in seine Arbeit ein, die diesen von einem kritischen außenstehenden Kommentator zu einem involvierten Kooperationspartner umrahmt. Tatsächlich stellt Will im Fortgang des Talks keine weiteren Nachfragen.
Damit sind die Hürden der Evidenzerzeugung für Axel in diesem Group-Talk allerdings noch immer nicht überwunden. Einleitend hatte er vor allem die neurobiologische Bedeutung seines mathematischen Modells stark gemacht. Zu diesem Zweck hat er sich einer Analogie und zweier Visualisierungen bedient, die die Brücke zu eher anwendungs- und biologisch orientierten Perspektiven innerhalb der CNS schlagen sollten (Abschnitt 4.2.2). Auf der nächsten Digitalfolie fährt Axel nun damit fort, sein mathematisches Modell aus dem Bereich des Maschinenlernens stark biologisch zu verorten. Die daraus hervorgehende dritte große Einschubsequenz wird dieses Mal von Wolf, dem Gruppenleiter, eingefordert. Bevor ich allerdings mit dieser weiteren Dissensepisode in Axels Talk fortfahre, möchte ich zunächst, anhand der bislang analysierten Einschubsequenzen, deren in mehrerlei Hinsicht große Typizität für die situative Realisierung des Group-Talk zusammenfassen:
Erstens ist die frühe kritische Einwendung aus dem Publikum, wie sie die oben analysierten Sequenzen illustrieren, kein Einzelfall, sondern im Group-Talk die Regel. Als wissenschaftliche Diskursgattung lässt der Group-Talk sich u. a. dadurch charakterisieren, dass er, wie wir bereits in Björns Talk sehen konnten, jederzeit Spielraum für unangemeldete Einsprüche und Fragekaskaden gewährt, sodass sich typischerweise erst im Fortschreiten eines ‚Kreuzverhörs‘ herausstellt, ob das in subjektiver Abgeschiedenheit erlangte ‚neue Wissen‘ der Hauptsprecher/-innen tatsächlich der intersubjektiven Validierung durch die Gruppe standhält.
Zweitens haben die Teilnehmer/-innen des Group-Talks sprach- und bildrhetorische Formen und Muster ausgebildet und etabliert, um ihre Ansätze und Erkenntnisse, trotz der Hürden interdisziplinärer Kommunikation, intersubjektiv evident zu machen. Die visuell illustrierte Analogie, derer sich auch Axel hier bedient, ist eines der am häufigsten verwendeten Stilmittel, das, wie wir bereits bei Sabine erfahren haben, dazu genutzt wird, einleitend geteiltes Verständnis über einen gewählten Forschungsansatz zu erzeugen (vgl. Abschnitt 4.2.1).
Drittens spielen, wie in dem hier behandelten Beispiel, sehr häufig Alltagsbilder eine hervorgehobene Rolle, die dabei nicht selten aus der Bildersuche von Google Images stammen. Deren Bedeutung wurde bereits in den Abschnitten 4.2.1 und 4.2.2 ausführlich thematisiert.
Viertens verdeutlicht das hier aus Axels Eingangssequenz gewählte Beispiel, dass Visualisierungen im Group-Talk nicht allein für die ‚stumme‘ Illustration Bedeutung haben, sondern dass sie auch für den argumentativen Fortgang der Kommunikation sehr wichtig sind. Nicht nur die Hauptsprecher/-innen bedienen sich des Einsatzes der Bilder, um die Begründetheit ihres Ansatzes oder die Güte ihrer Forschungsergebnisse evident zu machen, sondern auch die weiteren Teilnehmer/-innen beziehen sich in der situativen Realisierung des Talks auf diese Visualisierungen, um gegebenenfalls das Gegenteil zu veranschaulichen.
Nun zur angekündigten dritten Einschubsequenz. (Um das Verständnis der sehr theoretischen Auseinadersetzung an dieser Stelle zu erleichtern, wird das vollständige Transkript der Analyse hier wieder vorangestellt. Um die Übersichtlichkeit zu wahren, wird es mit einigen Kürzungen wiedergegeben, worauf eckige Klammern in doppelten runden Klammern (([…])) hinweisen. Die Analyse der bildlichen Aspekte wird hier ausgespart, da sie bereits in Abschnitt 4.2.2 vorgenommen wurde. Transkriptionszeichen, wie zuvor.)
In dieser leicht gekürzten Sequenz, die die dritte und umfangreichste Expansion der ursprünglich vorgesehenen Argumentation von Axel umfasst, beginnt dieser nun damit, sein Modell schrittweise, anhand der komplexen Visualisierung (Abbildung 4.20) zu erklären (Z. 2–35), deren detaillierte Analyse bereits in Abschnitt 4.2.2 erfolgte. Wie bereits in der Bildanalyse klar geworden ist, ist Axel dabei insbesondere bemüht, sein auf mathematischen Formeln basierendes Modell, das die Basis für eine darauf abgebildete informatische Datenverarbeitungsarchitektur darstellt, visuell und sprachlich (Z. 3–4) mit dem biologischen Wahrnehmungsprozess zu verknüpfen. Dabei bedient er den in der beobachteten Forschungsgruppe leitenden Imperativ, die Forschung „biologisch zu machen“ (INT_1, Z. 200).
Entsprechend sagte er uns in einem Interview (INT_2), das wir unabhängig von dem videographierten Group-Talk mit ihm führten, dass er sich in Vorbereitung auf Präsentationen stets die Frage stelle, welcher Teil seiner Arbeit sich überhaupt visualisieren ließe, sodass er für ein interdisziplinäres Publikum interessant wirke (ebd., Z. 622–625). Axel folgt also dem in der Gruppe verbreiteten Anspruch eines gezielten Rezipient/-innendesigns, um seine Forschung als Informatiker im Kontext der Gruppe relevant erscheinen zu lassen. Nun aber, angesichts der Modellvisualisierung (Abbildung 4.20), stellt vor allem der Physiker und Gruppenleiter Wolf wiederholt Nachfragen (Z. 36, 40, 48) bzgl. der Details des mathematischen Grundlagenmodells (Wolf Z. 48: „sorry, i don’t understand this. i thought you compose a function as a linear combination of phis?“). Im Kontext der zuvor analysierten Eingangssequenz illustriert die Erfordernis der auf diese Nachfrage folgenden Expansion, vor welchen Hürden die interdisziplinäre Wissenskommunikation in der Gruppe steht und welche Herausforderungen vor diesem Hintergrund für ein gezieltes Rezipient/-innendesign bestehen.
Wie uns ein externer Experte im Rahmen eines Elizitationsinterviews bestätigte, verwendet Axel die Visualisierung seines Modells hier vor allem dazu, seine Arbeit im Kontext der CNS zu verorten, die zwar KI-Forschung beinhaltet, aber nicht im Sinne der, wie Axel uns im Interview bestätigte, wenig an biologischer Plausibilität interessierten Machine-Learning-Ansätze. Tatsächlich droht Axel im Rahmen der Forschungsgruppe nämlich mit diesen Ansätzen identifiziert zu werden. Er bemüht sich daher stark, diesen Eindruck zu vermeiden. Für die CNS-spezifische Kontextualisierung seines im Grunde unspezifischen mathematischen Modells bedient er sich daher visueller (Auge, Affe, Floppy Disc) und rhetorischer Mittel (Analogie, ausdrückliche Gleichsetzung, ‚biologische Interpretation‘).
Für diese visuell und sprachlich erzeugte Nähe zu den neurobiologischen Ansätzen seiner Forschungsgruppe nimmt Axel in seiner Präsentation allerdings gleichzeitig die Unterkomplexität der Darstellungsweise des mathematischen Grundlagenmodells in Kauf, die nun, nicht zufällig seitens eines Fachvertreters der Physik, moniert wird. In diesem Sinn hat Axel den Versuch, seine Arbeit als anwendungsorientiert und biologisch plausibel zu rahmen, mit mathematischer Uneindeutigkeit bezahlt. Diese Entscheidung, die notwendig war, um in der Präsentation dem interdisziplinären Charakter der CNS gerecht zu werden, kostet ihn daher nun zusätzliche Kommunikationsarbeit, um die aus dem gewählten Rezipient/-innendesign resultierenden Unklarheiten situativ zu reparieren.
Nach einigen Minuten und wiederholten Nachfragen entscheidet sich Axel daher schließlich dazu, eine weitere Folie zu zeigen (Z. 58–59: „maybe i give you the equations first“)36. Axel sieht sich also, wie zuvor in der Diskussion mit Will, dazu gezwungen, von dem vorentworfenen Ablauf seines Talks abzuweichen. Nun zeigt er die mathematische Detailstruktur seines Modells, bevor er dessen biologische Interpretation voll entfalten konnte. Die neue Folie zeigt nun nur noch eine Reihe von mathematischen Gleichungen. Nachdem er auf sie gewechselt ist, geht er die Terme innerhalb der Gleichungen im Einzelnen durch (Z. 63–69). Dabei begleitet er die inhaltlich nun unbestimmten mathematischen Symbole mit Pointergesten. Diese verleihen seinen indexikalen sprachlichen Ausdrücken (z. B. „this“ und „here“), in Verbindung mit der näheren Bestimmung der jeweils gezeigten Terme als Elemente der zuvor gezeigten Modelldarstellung (z. B. „the xa“, „the functional expanding of it“, „the matrix“), kontextuellen Sinn.
Erst anhand dieser Folie und der begleitenden sprachlichen Erläuterung (einschließlich der performativen Herstellung der Beziehung zwischen beidem) treten die ersten Konsensmarkierungen auf. Wolf formuliert nun eine Verstehensmarkierung, die durchaus als Zustimmung verstanden werden kann (Z. 73: „okay“), und bietet einen Schluss, der eine Formulierung von Axel aufnimmt (Z. 71: „pointwise“). Dem stimmt Axel zu, was Wolf ausdrücklich ratifiziert. Schließlich thematisieren beide die Form der Visualisierung und bestätigen sich wechselseitig, dass die visuelle Repräsentation des Modells schwerer zu verstehen sei als die Gleichungen (Z. 80–81).
Unausgesprochen bleibt in der Situation, dass diese finale Feststellung vermutlich nicht von allen Teilnehmer/-innen des Group-Talks getroffen worden wäre. Denn vergleicht man diese Schließung mit den vorangegangenen Dissensepisoden, so wird der strukturelle Zwiespalt in dem sich die Forscher/-innen in der CNS befinden, überaus deutlich: Als ‚Computational Neuroscientist‘ ist Axel um die interdisziplinäre Perspektive seiner Forschungsgruppe auf den Gegenstand der neuronalen Datenverarbeitung bemüht. Um die Güte seiner Forschungsarbeit evident zu machen, bedient er sich deshalb sowohl sprachlicher als auch visueller Register, die es ihm erlauben, seine Arbeit mittels multidisziplinär geteilter Marker in den jeweiligen Fachgebieten der einzelnen Forschungsgruppenteilnehmer/-innen zu verankern. Doch die hybriden Darstellungsformen, die für das Feld typisch sind, garantieren nicht, dass wirklich allen evident wird, was gezeigt werden soll.
So konnte in dieser Sequenz kein Konsens über die Visualisierung des Modells erlangt werden, die als Abbildung gleichsam auch das interdisziplinäre Feld selbst repräsentiert, sondern lediglich über die Plausibilität des mathematischen Grundlagenmodells, das Axel ursprünglich gar nicht als Hauptgegenstand seiner Präsentation gerahmt hatte. Ähnlich erging es zuvor auch Björn (Abschnitt 4.3.1), der allerdings davon profitieren konnte, dass Axel ihm am spontan zur Hilfe genommenen Whiteboard zur Seite sprang und ihm einen Weg aufzeigte, wie er das Problem, das seine Darstellung bis dahin aufwarf, ‚mathematischer‘ („more mathematical“) und damit für Wolf leichter interpretierbar darstellen konnte.
Neben dem Zwiespalt der Interdisziplinarität illustrieren die beiden Datenbeispiele von Björn und Axel auch, dass bei aller alltäglichen Sprech- und analogischen Visualisierungsweise, die eben dieser Interdisziplinarität geschuldet ist, das zusätzliche Erfordernis, die eigene Forschung auch in Form formal-mathematischer Darstellungsweisen kommunizieren zu können. In toto zeigen die hier analysierten Sequenzen aus Axels Group-Talk daher das Dilemma, in dem sich alle seine Teilnehmer/-innen grundsätzlich befinden. Einerseits muss sich ihre Forschung an neurobiologischen Prozessen messen lassen, andererseits muss sie auch mathematisch plausibel sein. Einerseits muss sie allgemeinverständlich kommuniziert werden, andererseits darf sie nicht auf die formal-richtige Darstellungsweise verzichten.

4.3.3 Resümee

Der Inhalt des Group-Talks erweist sich in den hier analysierten Sequenzen, ganz im Gegensatz zum Vortrag, als sehr wesentlich für die Gattung, insbesondere in ihrer situativen Realisierung. Was zum Gegenstand des Group-Talks wird kann mitnichten durch die Rezeption eines Texts eingeholt werden, eben weil die Gattung für die Ermöglichung von beidseitigem Erkenntnisgewinn in Kopräsenz ausgelegt ist. Im Group-Talk wird neues Wissen ausprobiert und verhandelt. Gegenstand und „Liveness“ (Auslander 2008) sind deshalb, anders als beim Vortrag, untrennbar miteinander verknüpft. Im Group-Talk geht es, um Goffmans Sprache aufzugreifen, um den ‚Kuchen‘. Im Rahmen seiner situativen Realisierung begegnen sich die Sinndeutungen formal verschieden aber strukturell gleich kompetenter Sprecher/-innen, wodurch sich an diesem Kreuzungspunkt zugleich entscheidet, ob das im Forschungsprozess z. T. einsam erarbeitete subjektive Wissen der jeweiligen Hauptredner/-in der intersubjektiven Validierung durch die Gruppe standhält. Der Group-Talk stellt daher einen ‚Zwischen-Raum‘ dar, der weder einer ‚Hinterbühne‘ (Ort der Präparation) noch einer ‚Vorderbühne‘ (Ort der Präsentation) allein vollständig angehört.
Zwar gibt es im Group-Talk vorformulierte Inhalte, doch werden diese nicht in Form einer geschliffenen Inszenierung dargebracht, ihre Ambivalenz noch nicht restlos getilgt. Vielmehr ist erst der Group-Talk Ort und Zeit der wechselseitigen Auseinandersetzung über Wahrheit, Wissen und die Darstellungsweise von wissenschaftlicher Erkenntnis. Zum anderen ist er auch in dem Sinn ein Zwischen-Raum, als dass er als Werkbank spezifischer Kommunikationsweisen betrachtet werden kann. Als solche wird er von der Gruppe auch zum Erlernen, Erproben und Verfeinern solcher ‚Bühnenfertigkeiten‘ genutzt, die im Vortrag bereits vorausgesetzt und routiniert behauptet werden (müssen). Dass das „textual self“ (Goffman 1980, S. 173), das im Vortrag die dominante Form der Relation der Vortragenden zu ihrem Text darstellt (footing), im Group-Talk nur selten auftritt, liegt daher nicht an der Unsicherheit unerprobter Darstellung, sondern vielmehr an der institutionellen Rahmung der Gattung als kommunikativer Begegnungsort einer interdisziplinären Forschungsgruppe. Im Text-Selbst stellen die Vortragenden ihre eigene Autorität in den Vordergrund, wohingegen, durch die dezidiert argumentativ-dialogische Struktur des Group-Talks, eine solche Einstellung in den CNS-Gruppentreffen keinen Raum hat: Im Group-Talk begegnen sich – in Abgrenzung zum idealisierten Text-Selbst – authentische(re) Akteure: Dabei kommt es ebenso regelmäßig wie häufig zu Unterbrechungen der Hauptsprecher/-in und damit zum Wechsel von deren Einstellung gegenüber den Inhalten des Gesagten. Dies darf aber nicht als Störung oder Ablenkung vom eigentlichen Zweck der Kommunikation betrachtet werden. Vielmehr handelt es sich dabei im Wortsinn um den eigentlichen Kern der Veranstaltung.
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Fußnoten
1
Zugunsten des Leseflusses habe ich mich dazu entschieden, anstatt zu anonymisieren, Pseudonyme zu wählen, die es einfacher machen sollen, einzelne Charaktere, auf die ich mehrfach rekurriere, wiederzuerkennen.
 
2
Als wir selbst uns, zum Vergleich, die Erhebung und Auswertung videographischer Daten eines geisteswissenschaftlichen Kolloquiums vornahmen, stellte sich allerdings heraus, dass dieses, in Übereinstimmung mit unseren allgemeinen Erfahrungen, stark Goffmans lecture (siehe 3.1.5) entsprach und für uns kein Forschungsresiduum darstellte. Dass der von Wolf etablierte Group-Talk sich tatsächlich völlig anders präsentierte als das Kolloquium, weckte mein ursprüngliches Forschungsinteresse und ließ mich die Arbeitshypothesen zu dieser Arbeit formulieren. Offenbar war der Unterschied zwischen beiden Formaten der besonderen Verschränkung von formaler und lokaler Organisation, von situierenden und situativen Aspekten des Group-Talks, geschuldet. Die besonderen Voraussetzungen der Forschungsgruppe im Feld, sowohl die Heterogenität der Teilnehmer/-innen als auch die Komplexität des gemeinsamen Ziels, interdisziplinäres Verstehen zu ermöglichen, hatten dazu geführt, dass das ursprünglich vorgegebene Format lokal angepasst und ausdifferenziert werden musste. Der Group-Talk, in seiner beobachteten Realisierung (Abschnitt 4.3), stellt das Ergebnis dieses Prozesses dar.
 
3
Die folgenden Abschnitte (4–4.1.2) bauen teilweise auf einer frühen Version eines Aufsatzes auf, den ich als Erstautor mit Eric Lettkemann verfasst habe (Wilke und Lettkemann 2018). Alle Übernahmen stammen ursprünglich von mir. Wenn ich Textelemente des Zweitautors verwende, sind diese als Zitat kenntlich gemacht.
 
4
Der Ansatz, der heute unter der Bezeichnung Neuronale-Netze geläufig ist, geht auf das Perzeptron-Modell von Frank Rosenblatt (1958) zurück. Es stellt einen Vorläufer der CNS dar. Über diesen Ansatz geht die CNS hinaus, da sie nicht bloß, gleichsam als Teilgebiet der Informatik, neurobiologisch inspirierte Modelle künstlicher Intelligenz entwickelt. Vielmehr versucht die CNS, auf der Grundlage von Computermodellen organischer Intelligenz, das biologische Gehirn und seine Funktionsprinzipien zu verstehen und in KI nachzubilden.
 
5
Dies wurde uns u. a. bestätigt, als wir die Gelegenheit hatten, eine u.s.-amerikanische Expertin während eines feierlichen Vortrags auf Einladung der NNCN zu videographieren.
 
6
Folgend übernehme ich analytische Rohtexte, die ich erstellt habe und die in eine gemeinsame Publikation eingeflossen sind (Lettkemann und Wilke 2016). Alle übernommenen Analysen stammen von mir.
 
7
Um das Vorgehen auch in der folgenden Detailanalyse zu verdeutlichen, habe ich zudem, zu deren Beginn (erste Paarsequenz; Z. 1–4), eine sukzessive Darstellungsweise gewählt, die es den Leser/-innen ermöglichen soll, meine jeweiligen Interpretationen den zugrundeliegenden Analyseverfahren (Interaktions- oder Konversationsanalyse) bzw. Daten (audio-visuelle oder ethnographische Daten) im Detail zuzuordnen und auf dieser Grundlage die Güte meiner ‚integrativen Schlüsse‘ beurteilen zu können.
 
8
Diese Darstellungsweise ist daher Nachvollzug und Beleg verpflichtet. Zugunsten einer besseren Lesbarkeit werde ich nach der ersten Paarsequenz der Analyse aber auf diese Darstellungsweise verzichten.
 
9
Die Transkription habe ich an den Konventionen der CA (Rendle-Short 2006) angelehnt, ohne jedoch dieses sehr elaborierte Verfahren vor dem Hintergrund meines eigenen Erkenntnisinteresses voll auszuschöpfen.
 
10
Dieses Dokument stellt eine Analysenotiz dar, die nicht zu repräsentativen Zwecken erstellt wurde. Ihre Wiedergabe hier dient dazu, einen Einblick in meine Arbeitsweise zu geben. Die bislang unbekannten Abkürzungen in der Titelzeile stehen für ethnographisches Wissen (EW) und Basishermeneutik (BH). E in der Spalte IA steht für Expert/-in. Im folgenden Analyseteil habe ich, um ein möglichst natürliches Lesen zu ermöglichen, diese Chiffren durch Pseudonyme ersetzt.
 
11
Die Abbildungen zeigen das Datum als Bild-im-Bild-Montage. Gezeigt werden beide Kameraperspektiven, wobei die Kameraperspektive aus der Perspektive des Vortragenden, jeweils nicht nachzeichnend bearbeitet wurde. Für die Montage bedanke ich mich bei unseren studentischen Hilfskräften.
 
12
Personennamen oder Institutionen auf der Folie wurden durch XXX ersetzt.
 
13
Ex steht für ‚unbekannte Stimme eines Experten‘, dessen Identität anhand des Datums nicht geklärt wurde.
 
14
In den folgenden Abschnitten werde ich auf die sukzessive Wiedergabe der analytischen Teilergebnisse zugunsten der integrativen Gesamtdarstellung verzichten.
 
15
Die konversationsanalytische Betrachtung profitiert hier klar von der Interaktionsanalyse auf Grundlage des Videodatums.
 
16
In einem Artikel des New Yorker ist von 30 Millionen Bänden die Rede (Wu 2015), Google selbst spricht von über acht Millionen Büchern oder sechs Prozent aller Bücher, die jemals publiziert wurden (Lin, et al. 2012).
 
17
Der Ngram-Korpus wurde 2011 zuletzt ergänzt. Der englischsprachige Korpus ist laut Yin Lin et al. (2012, S. 170) inzwischen auf über 4,5 Millionen Bücher oder „close to half a trillion words“ (ebd., S. 170) angewachsen.
 
18
Der deutschsprachige Ngram-Korpus umfasst laut Yin Lin et al. (2012, S. 170) ca. 660000 Bücher.
 
19
Dies kann allerdings nur für die Teilnehmer/-innen ausgesagt werden, die zu den Wortführer/-innen zählten. Unter dieser Voraussetzung war es, anders als für uns, scheinbar auch kein Problem für sie, den Ausführungen in der muttersprachlichen Betonung zu folgen. Wir hatten damit bei der Videoanalyse größere Schwierigkeiten. Aus diesem Grund konnten wir die Transkription auch nicht an Dritte abgeben. Daher habe ich die Transkription der Videosequenzen vollständig selbst übernommen und z. T. in gemeinsamen Datensitzungen überprüfen lassen.
 
20
Das interdisziplinäre Fachwissen, das in der Gruppe verhandelt wurde, stellte mich selbst sicherlich vor eine teilweise unlösbare Aufgabe, wodurch insbesondere die folgenden Analysen (Abschnitt 4.2 und 4.3) auch von dem „resignierten Bewusstsein belastet“ (Weber 1919, 10) sind, das Weber als unumgängliche Begleiterscheinung soziologischer Forschung überhaupt betrachtet, die aufgrund ihres Gegenstands notwendigerweise sehr häufig „auf Nachbargebiete übergreif[t]“.
 
21
Das Transkript lässt sich auf mehrere Weisen lesen: Zur besseren inhaltlichen Verständlichkeit habe ich die transkribierte Lautsprache hervorgehoben (fett). Die so markierten Textteile können daher als Fließtext gelesen werden. Nicht hervorgehoben sind die Analysekommentare in Doppelklammern, die sich auf Blickrichtung und Gestik beziehen. Grau unterlegt sind zudem alle Passagen, in denen Sabine auf die jeweilige Folie blickt.
 
22
Hier kann nur von einer Häufung gesprochen werden. Tatsächlich sind nicht-deiktische bzw. nicht-ikonische Handgesten schwer zu interpretieren, nicht zuletzt daher, weil ihnen keine ‚objektive‘ bzw. gleichbleibende Bedeutung zugeordnet werden kann. Eine klare Zuordnung von ein- bzw. beidhändiger Gestik zu einer der beiden Blickrichtungen ist hier aber vor allem daher nicht möglich, da Sabine sehr häufig zwischen Folie und Publikum hin und her wechselt und es dabei, in Bezug auf ihre Faceformation, sowohl zu Vorzeitigkeit als auch zur Nachträglichkeit von händischen Gesten gekommen sein kann. Ich neige aber dazu, diese webende Bewegung der Hände als körperliche Sichtbarmachung des unsichtbaren Prozesses der kommunikativen Konstruktion zu deuten.
 
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Das Definiendum habe ich hervorgehoben (fett), das verbindende bzw. gleichsetzende Verb unterstrichen und das Definiens kursiv gesetzt. (Der Form nach handelt es sich also um eine Äquivalenzdefinition.)
 
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Tatsächlich hat der Fall Katrina dazu geführt, dass in den USA zusätzliche Mittel in Aufbau und Weiterentwicklung von Zentren geflossen sind, die sich dem Computer-Modell-basierten Katastrophenschutz widmen.
 
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Die Fragen in diesem Interview wurden von Eric Lettkemann (I2) und mir selbst (I1) gestellt.
 
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Hier bezieht sich Schütz vermutlich (Schütz 2003, 168) auf Max Schelers Essay Wesen und Formen der Sympathie (Scheler 1973[1913]).
 
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Das folgende Beispiel wir auch in einem Aufsatz behandelt, den ich als Erstautor gemeinsam mit Eric Lettkemann und Hubert Knoblauch publiziert habe (Wilke, Lettkemann und Knoblauch 2018, 264 ff). Ich beschränke mich hier darauf Textelemente aufzugreifen, für die ich allein verantwortlich bin. Die Passagen, die nicht ursprünglich aus meiner eigenen Feder stammen, werde ich als Fremdzitate kennzeichnen.
 
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Die Transkription lehnt abermals an Rendle-Short (2006) an. Die formale Gestaltung des Transkript wie zuvor: Die Rede ist hervorgehoben und Passagen der Zuwendung zur Folie sind grau hinterlegt.
 
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Später erläuterte Axel, die Farbe Rot stünde für höchste Werte, die Farbe Blau hingegen für Werte von fast Null bis Null. Allerdings spielten diese Werte keine Rolle, da es sich lediglich um Beispieldaten handle. Tatsächlich habe er diese aus ästhetischen Gründen ausgewählt, da er die spiralförmige Anordnung, die sich bei der Darstellung der Daten als Heatmap ergibt ‚kind of beautiful‘ fand.
 
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In Regressionsmodellen dient die Auswahl von speziellen Komponenten („features“) aus der ursprünglichen Datengrundlage dazu, die mathematische Komplexität des Modells zu verringern.
 
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Der folgende Abschnitt basiert z. T. auf der frühen Version eines Textes, den ich als Erstautor gemeinsam mit Eric Lettkemann publiziert habe (Wilke und Lettkemann 2018). Selbstredend verwende ich an dieser Stelle ausschließlich solche Textelemente aus dieser frühen Textversion, die ausschließlich von mir selbst verfasst wurden. Übernahmen aus anderen Passagen werde ich als Zitate kennzeichnen.
 
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Der Folgende Abschnitt basiert auf Auszügen eines Textes, den ich als Erstautor gemeinsam mit Eric Lettkemann und Hubert Knoblauch (Wilke, Lettkemann und Knoblauch 2018) publiziert habe. An dieser Stelle habe ich ausschließlich Fragmente der empirischen Analyse übernommen, die ich selbstständig verfasst habe.
 
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Aus Axels Talk sollen im Folgenden zwei Sequenzen näher betrachtet werden. Um den Leser/-innen allzu lange Transkriptauszüge zu ersparen, bediene ich mich für die Betrachtung der ersten Sequenz einer komprimierten Wiedergabeweise. Für die zweite Sequenz ist die Kenntnis des zusammenhängenden Redetranskripts allerdings notwendig (siehe unten).
 
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Zur Illustration verwende ich hier die Abbildungen, wie ich sie aus der Videographie extrahiert habe. Ich bitte die Qualität daher zu entschuldigen. Mittels der jeweiligen Beschreibung sollen die relevanten Eigenschaften der beiden Abbildungen deutlich gemacht werden.
 
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Hierbei wird deutlich, dass diese Folie durch Axels deiktische Referenzen nicht einfach als „lineare“ Fortsetzung der vorherigen Folie erscheint, sondern als eine Erläuterung der Kästchen des Regelkreises (siehe Abb. 32). Zur Umgehung der vermeintlichen Linearität von Powerpoint-Folien vgl. Knoblauch (2013, S. 71 ff.).
 
Metadaten
Titel
Die Gattungsanalyse des Group-Talks
verfasst von
René Wilke
Copyright-Jahr
2022
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-36704-6_4

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