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1999 | Buch

Der Sozialstaat zwischen “Markt” und “Hedonismus”?

herausgegeben von: Siegfried Lamnek, Jens Luedtke

Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften

Buchreihe : Otto von Freising-Vorlesungen der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt

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Inhaltsverzeichnis

Frontmatter

Zur Einführung

Frontmatter
Sozialstaat — Sozialpolitik — Soziale Devianz
Zusammenfassung
Der Titel dieses Bandes und die Überschrift dieses Kapitels fragen sehr provokant: Wird der traditionelle bundesdeutsche Sozialstaat1 zerrieben zwischen der Scylla einer rein marktorientierten Entstaatlichung und der Charybdis eines unsolidarischen, den individuellen Nutzen und Konsumgenuss maximierenden Handelns von (individuellen) Akteuren? Damit wird bewusst ein bestimmter Ausschnitt aus der Vielzahl der Einflussgrößen betont und auf zwei unterschiedlichen Ebenen angesetzt: Die eine befasst sich mehr auf der Makroebene mit der Frage: wie soll der Sozialstaat (um-) gestaltet werden und wie soll staatliche Sozialpolitik konzipiert sein? Die andere bezieht sich auf der Meso- und Mikroebene auf den Umfang der Sozialen Devianz, auf die Motivationen der Akteure, auf devianzfördernde Strukturen und darauf, was gegen diese Handlungsformen unternommen werden sollte.
Siegfried Lamnek, Jens Luedtke

Der Sozialstaat — Auslaufmodell der 90er-Jahre?

Frontmatter
Der Sozialstaat — seine Entwicklung und seine Zukunft
Zusammenfassung
Wer für die Beantwortung der Frage nach der Zukunft des Sozialstaates auf nicht wissenschaftlich orientierte Medien angewiesen ist, könnte den Eindruck gewinnen, dass diese Frage entschieden ist. Nach der in diesen Medien vielfach veröffentlichten Meinung ist der Sozialstaat ein “Auslaufmodell”.1 Er stehe vor dem “Offenbarungseid”2, sei “unbezahlbar”, “überholt” und nicht mehr zeitgemäß.3 Für den “mündigen Bürger” sei eine “soziale Hängematte”, eine “Rundum-Versorgung” unangemessen und überflüssig. Der Sozialstaat beeinträchtige den “Wirtschaftsstandort Deutschland”. Auch das Studium der in der Betriebs- und Volkswirtschaftslehre seit Mitte der 70er Jahre geführten Sozialstaatsdiskussion verfestigt den Eindruck, der Sozialstaat stelle eine das Wirtschaftssystem gefährdende Fehlentwicklung dar.4 Nach meiner Einschätzung vernachlässigen viele derjenigen, die den Sozialstaat in dieser Weise beurteilen, die sozialgeschichtlichen Erfahrungen. Sie verkennen die faktischen Lebenslagen der Mehrheit der Bevölkerung und die Gefährdungen dieser Lebenslagen.
Heinz Lampert
Der Sozialstaat in der “zweiten Moderne”. Ambivalenzen und Zukunftsperspektiven des neuzeitlichen Individualisierungsprozesses
Zusammenfassung
Hat der Sozialstaat eine Zukunft? Hat er einen Platz in der zweiten Moderne, und wenn ja, welchen? Dieser Frage möchte ich in diesem Beitrag nachgehen. Zunächst ist grundsätzlicher zu fragen: Hatte der Sozialstaat einen Platz in der “ersten” Moderne? Denn die “zweite Moderne”, auch “reflexive Moderne” (Ulrich Beck) oder “Postmoderne” genannt, ist, wie ich sie verstehe, keine scharf abgegrenzte neue Phase gesellschaftlicher Entwicklung, sondern eine Zuspitzung, wenn auch mit qualitativen Sprüngen, der Formen und Tendenzen der Moderne. Deshalb möchte ich im Folgenden mit Anthony Giddens von “Hochmoderne”, “entwickelter Moderne” oder einfach von “Moderne” reden. Die Frage nach dem Platz des Sozialstaats in der ersten Moderne ist auch dadurch gerechtfertigt, dass, anders als bei Markt und Demokratie, es durchaus umstritten ist, ob Sozialstaatlichkeit eine legitimes Strukturelement moderner Gesellschaft ist. Einem empirisch orientierten Modernisierungstheoretiker wie Wolfgang Zapfgilt der Sozialstaat — oder allgemeiner, über den deutschen Fall hinausführend, der “Wohlfahrtsstaat” — jedenfalls als ein Strukturelement moderner Gesellschaften, neben Marktwirtschaft, Konkurrenzdemokratie und, was Zapf besonders hervorhebt und auch in den folgenden Ausführungen von Bedeutung sein wird, der Massenkonsum (Zapf 1994, S. 7). Zapf sprach übrigens auch von der “Modernisierung moderner Gesellschaften”, ging also ebenfalls von einer gewissen Kontinuität zwischen Moderne und zweiter Moderne aus.
Lutz Leisering
Wohlfahrtsstaaten im internationalen Vergleich: One Bad Way?
Zusammenfassung
Im Folgenden geht es um wichtige aktuelle Herausforderungen und künftige Entwicklungsperspektiven des modernen Wohlfahrtsstaates1, wobei ich den Begriff der Krise vermeide, weil ich
  • zum einen von einer Interdependenz des Wohlfahrtsstaats mit ökonomischen politischen und sozialen Faktoren ausgehe, denen sowohl problemerzeugende als auch problemlösende Funktionerr zukommen,
  • zum anderen gehe ich davon aus, dass faktisch der Wohlfahrtsstaat ein Konglomerat unterschiedlicher Elemente und Teilsysteme mit unterschiedlichen Finanzierungsmodi, Akteurskonstellationen und Herausforderungen darstellt,
  • und ich bin vorsichtig, weil die im internationalen Vergleich erkennbaren Varianzen in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik für erhebliche Gestaltungsspielräume und unterschiedliche historisch-politische Entwicklungspfade sprechen.
Josef Schmid
Aus Not oder Notwendigkeit? Der deutsche Sozialstaat kann sich nicht selbst rechtfertigen
Zusammenfassung
Sozialstaatlichkeit hat in Westeuropa eine große politische Wirkung: Sie stiftet kollektive Identitäten und bindet verschiedene soziale Gruppen aneinander — wenn schon nicht in jedem Fall verteilungspolitisch, so zumindest institutionell. Insbesondere amerikanische Wissenschaftler scheinen trotz aller Unterschiede den Sozialstaat als einen Kern der europäischen Sozialmodelle auszumachen (vgl. Leibfried/Pierson 1998). Diese Identitäts- und Legitimationsfunktionen stark zu betonen, dichtet den Sozialstaat allerdings auch gegen eine wirkliche Beweisaufnahme seiner Leistungsfähigkeit und Zielgenauigkeit ab. Ironischerweise erreichen daher möglicherweise diejenigen, die sich auf die zentralen Werte des Sozialstaates berufen, dass erst recht über diese Werte und ihre Konsequenzen debattiert wird.
Christoph Strünck
Zur Zukunftsfähigkeit der deutschen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung hinsichtlich ihrer Markt- und Sozialorientierung
Zusammenfassung
Der die Bundesrepublik Deutschland lange Jahre prägende sozialstaatliche Konsens, dessen Stabilität und Breitenwirkung zweifelsohne durch die Erfahrungen mit Faschismus und Krieg, aber auch durch die spezifischen Bedingungen der nachfolgenden Systemkonkurrenz zu erklären sind, fhat begonnen, sich in den letzten Jahren aufzulösen. Mit der Auflösung dieses Konsenses wurden angesichts bestehender Struktur- und Akzeptanzprobleme kontroverse Diskussionen über die Ausgestaltung der deutschen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung — nach dem Zweiten Weltkrieg ursprünglich als Soziale Marktwirtschaft eingefüihrt — wieder belebt. Die Frage, wie die deutsche Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zukünftig ordnungspolitisch ausgestaltet werden soll, gewinnt dabei den Charakter einer gesellschaftspolitischen Richtungsentscheidung. Die Neubestimmung der so genannten Sozialen Marktwirtschaft setzt aber auch ihre Reform voraus, also keinesfalls eine Kultivierung einer wie auch immer gearteten “Weiter-So Mentalität”.
Beate Kruse, Michael Schmidt
Die Zukunft der Alterssicherung. Gedankenexperimenteller Entwurf eines fiktiven Neuanfangs
Zusammenfassung
Als Gerhard Mackenroth im Jahr 1952 vor dem Verein für Sozialpolitik seinen auch heute noch oft genannten Vortrag “Die Reform der Sozialpolitik durch einen deutschen Sozialplan “ hielt, sagte er:
“Die soziale Umwelt, in der wir heute Sozialpolitik treiben, hat sich gegenüber früher total verändert. Und zwar handelt es sich dabei um grundsätzliche Wandlungen in der ganzen westlichen Welt, zu denen die besonderen Ereignisse der deutschen Nachkriegszeit nur noch dazukommen. Die Wirrnis kommt nämlich nicht zuletzt daher, dass wir z. T. noch immer die alte Sozialpolitik treiben in einer völlig veränderten Welt, dass wir die alten Konzeptionen beibehalten, die inzwischen zu reinen Fiktionen geworden sind, dass wir mit den alten Begriffen weiterarbeiten, die zur sozialen Wirklichkeit nicht mehr stimmen.” (Mackenroth 1957, S. 43)
Wir haben heute wieder Grund genug, uns an diese Worte zu erinnern, wenn es darum geht, die Zukunft der Sozialpolitik in Deutschland neu zu überdenken. Denn der gegenwärtige soziale Wandel bedeutet eine große Herausforderung für den Sozialstaat und zugleich die Ursache für eine künftig erwartbare Krise des bestehenden Systems der Alterssicherung.
Gerd Vonderach
Der europäische Sozialstaat im Zeitalter der Globalisierung
Zusammenfassung
Es ist nichts mehr so, wie es einmal war. Die Welt um uns herum verändert sich mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit und wir sind mittendrin. Die wirtschaftlichen Transaktionen haben sich in den letzten beiden Jahrzehnten wegen sinkender Transport-, Kommunikations- und Informationskosten überall drastisch verbilligt, die Güter- und Faktormärkte sind weltweit offener geworden sind. Das Volumen des internationalen Handels mit Gütern und zunehmend auch Diensten hat sich vervielfacht, das Finanzkapital ist mittlerweile hypermobil, die Direktinvestitionen sind geradezu explodiert. Allein die Arbeitnehmer leisten sich noch den Luxus einer gewissen Sesshaftigkeit. Die Länder der Europäischen Union reiten auf dieser Welle der Globalisierung: Mit dem “Binnenmarktprojekt 1992” wollen sie die “vier Grundfreiheiten” in die Tat umsetzen; mit der Einführung einer gemeinsamen Währung zünden sie einen regionalen Treibsatz der Globalisierung.
Norbert Berthold
Globalisierung und Wertewandel — die geborenen Feinde des Wohlfahrtsstaats?
Zusammenfassung
Wie uns nicht erst Gösta Esping-Andersen gelehrt hat, gibt es den europäischen Wohlfahrtsstaat nicht. Er begegnet uns institutionell und von seinen Zielsetzungen her in höchst verschiedenen Ausführungen. Dennoch lässt sich im großflächigen Vergleich von einem europäischen Wohlfahrtsstaat, genauer gesagt von einem westeuropäischen Wohlfahrtsstaat sprechen und zwar nicht nur, weil der Wohlfahrtsstaat eine genuin europäische Erfindung darstellt (Kaelble 1987; Flora 1993). Die europäischen Sozialausgaben sind nicht nur höher als in anderen, vergleichbaren Industriegesellschaften, sie sind zudem auf kollektive Risikoabsicherung ausgerichtet. Ferner unterscheidet sich die Einstellung der Europäer zu sozialer Ungleichheit und der Rolle des Staates deutlich von der der Japaner oder Amerikaner.
Stefan Immerfall

Arbeitslosigkeit und Armut im Sozialstaat

Frontmatter
Beschäftigungssysteme unter Anpassungszwang?
Zusammenfassung
“Es geht auf keinen Fall so weiter, wenn es so weiter geht” (Erich Kästner).
Ulrich Walwei
Wie normal sind Erwerbsverläufe?
Zusammenfassung
Normalitätsdefinitionen sind in der gesellschaftlichen Praxis unumgänglich, auch wenn sie unter Umständen riskant werden können. In der Sprechweise von Niklas Lu hmann liegt ihr entscheidender Vorteil darin, dass sie es ermöglichen, die nicht handhabbare Kontingenz sozialer Wirklichkeit zu strukturieren und in handhabbare Komplexität zu überfuhren. Aus der Fülle möglicher Ereignisse und Ereignisverläufe werden bestimmte Konstellationen ausgewählt und für ‘normal’ erklärt, weil sie, aus welchen Gründen auch immer, als typisch gelten und/oder statistisch vorherrschend sind. Andere soziale Tatsachen hingegen erscheinen als nachrangig, abweichend und vielleicht sogar als bedrohlich. Sie entsprechen nicht der vorherrschenden Erwartung und sind genau deshalb ‘anormal’ — eine durchaus naheliegende Wahrnehmung, die allerdings dann riskant wird, wenn das Abweichende in theoretischer wie empirischer Hinsicht an Bedeutung gewinnt und sich u. U. neue Normalitäten abzeichnen.
Wolfgang Bonß
Marginalisierung und Ausgrenzung durch Arbeitsplatzverlust? Für eine neue Diskussion des Verhältnisses von Verzeitlichung und Verfestigung der Arbeitslosigkeit
Zusammenfassung
Wie so viele Fragen, mit denen sich die Sozialwissenschaften auseinandersetzen, erfordert auch die im Titel aufgeworfene die entschiedene Antwort: Ja und Nein. Um mit dem Nein zu beginnen: Für die Mehrheit der Arbeitslosigkeitsfälle in einem bestimmten Zeitraum gilt auch heute in der Bundesrepublik, dass die Arbeitslosigkeit relativ bald durch die Rückkehr in Erwerbsarbeit beendet wird. Arbeitslosigkeit führt also nicht überwiegend, keineswegs immer und schon gar nicht mit Notwendigkeit in Marginalisierung oder Ausgrenzung. Diese Feststellung überrascht allerdings kaum. Denn es ist gewissermaßen das Wesensmerkmal der Arbeitslosigkeit, wie es bereits im 19. Jahrhundert im Begriff der “industriellen Reservearmee” eingefangen wurde, dass sie ein, in unterschiedlichem Maße ausgeschöpftes, Arbeitskräftereservoir für die Unternehmen bildet. Eine historische Besonderheit und deshalb bemerkenswert ist jedoch das Ausmaß, in dem es der Bundesrepublik und anderen westeuropäischen Ländern nach dem Zweiten Weltkrieg gelang, die Arbeitslosenzahlen für eine gewisse Zeit auf das Niveau der bloßen Fluktuationsarbeitslosigkeit herabzudrük-ken. Allerdings hatte auch diese in arbeitsmarktpolitscher Hinsicht problemlose Phase ihren sozialen Preis. Sie wurde in der Bundesrepublik mit versteckten — sozial aber tolerierten — Formen der Arbeitsmarktausgrenzung erkauft. Das gilt insbesondere für die niedrige Erwerbsbeteiligung der Frauen und seit den siebziger Jahren auch für die großzügige Frühverrentung von Männern, beide vom Staat finanziell unterstützt.
Martin Kronauer
Die Grenzen der Autonomie. Zur finanziellen Lage von Arbeitslosenhaushalten
Zusammenfassung
“Arbeitslosigkeit”: Wie ist das? Zunächst vielleicht eine literarische Annäherung:
  • “(...) Die Energie, der Kopf, der ganze Mann,
  • Sie sind verreist, und keiner weiß, bis wann.
  • Man sitzt und zählt sich zu den Arbeitslosen. (...)
  • Man steht herum und steht dem Glück im Lichte.
  • Und daß man lächelt, spürt man gar nicht mehr.
  • Vom Nichtstun wird nicht nur der Beutel leer...
  • Das ist das Traurigste an der Geschichte.”
  • (Auszug aus: Erich Kästner: “Fauler Zauber”)
So beschrieb Erich Kästner in seinem Gedicht “Fauler Zauber” die Arbeitslosigkeit und ihre Folgen für die Betroffenen. Gegenstand dieses Beitrages wird der “leere Beutel” sein, der durch das erzwungene “Nichtstun” in mehr als greifbare Nähe rückt.
Jens Luedtke
Armut in Deutschland: Prekärer Wohlstand oder die Entstehung einer “Underclass”?
Zusammenfassung
In diesem Beitrag werden Schlussfolgerungen aus einem DFG-Forschungsprojekt vorgestellt, das sich mit den Versorgungsstrategien privater Haushalte im unteren Einkommensbereich beschäftigt hat (Andreß 1999). Mit repräsentativen Bevölkerungsumfragen haben wir untersucht, wer von Armut betroffen ist, welche Belastungen sich daraus ergeben, wie groß die sozialen Netzwerke bzw. die daraus resultierende soziale Unterstützung ist und wie sie ihren Lebensunterhalt bestreiten bzw. alltägliche Probleme bewältigen. Die Ergebnisse werden auf zwei Fragen zugespitzt. Erstens: Auf weiche Einkommens- und Versorgungsquellen können arme Haushalte zur Sicherung ihrer eigenen Wohlfahrt zurückgreifen? Zweitens: Welche Strategien verwenden sie dabei, und unterscheiden sie sich in ihren Verhaltensweisen vom Rest der Bevölkerung? Dabei möchte ich die von einigen Autoren vertretene Ausgrenzungsthese diskutieren, wonach in der Bundesrepublik eine vom Rest der Bevölkerung abgegrenzte Armutspopulation am Entstehen sei, wie man sie etwa aus den Armutsghettos anderer europäischer Länder und vor allem aus den USA kennt.
Hans-Jürgen Andreß
Suchtrisiken (Alkohol, Tabak, Medikamente) und Behandlungschancen für Arbeitslose, Einkommensarme und Obdachlose
Zusammenfassung
In den 90er Jahren bewegte sich in Deutschland die Zahl allein der arbeitsamtlich registrierten Erwerbslosen zwischen 3 und 5 Millionen (Friedrich/Wiedemeyer 1998), die der Einkommensarmen erreichte 1995 die 10 Millionen-Grenze, wenn man als arm definiert, wessen Einkommen weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens der Bevölkerung beträgt (Hanesch 1998). Auch die Zahl der Ärmsten der Armen, der so genannten allein stehenden Obdachlosen, die zwischen Nachtasyl und Straße leben, zum Teil auch ständig in selbsterrichteten Schlafstellen im Freien übernachten und ihren Lebensunterhalt durch Sozialhilfe, Gelegenheitsjobs oder Betteln bestreiten, stieg in den letzten 15 Jahren infolge der Expansion der Arbeitslosigkeit, der Armut, der Wohnungsnot und der Erosion der sozialen Sicherungssysteme erheblich an. Lag ihre Zahl zwischen 1975 und 1985 noch bei 70.000 bis 85.000, so beträgt sie derzeit 180.000.1
Dieter Henkel

(Aus-)Nutzung des Sozialstaats

Frontmatter
Ist Schwarzarbeit ein Volkssport geworden? Ein internationaler Vergleich des Ausmaßes der Schwarzarbeit von 1970 bis 1997
Zusammenfassung
Aufgrund der stark gestiegenen Belastung des Faktors Arbeit durch Steuern und So-zialabgaben und einer steigenden Regulierungsdichte (zumindest in den meisten OECD-Staaten) stellt man fest, dass das Ausmaß und die Zunahme an Schwarzarbeit in den OECD-Staaten in den letzten 2 Jahrzehnten sehr stark zugenommen hat. Dies war ein weiterer Grund, dass sich viele Wissenschafter mit diesem Phänomen seit gut 18 Jahren auseinunder setzen.1 Es ist jedoch offensichtlich, dass die exakte Messung der Schwarzarbeit kein einfaches Unterfangen ist, da sie sich naturgemäß einer derar-tigen Messung entzieht. Das steigende Interesse an dem Phänomen der Schwarzarbeit kann auf mindestens drei Gründe zurückgeführt werden:
1.
Wenn die Zunahme der Schwarzarbeit hauptsächlich auf die steigende Belastung des Faktors Arbeit mit Steuern und Sozialversicherungsabgaben zurückzuführen ist und dieser durch die Schwarzarbeit ausgewichen wird, dann kann dies zu einer Ero-sion der Steuer- und der Einnahmenbasis fur die Sozialversicherungsträger führen. Dies führt unter Umständen zu einer weiteren Steuer- und Sozialabgabenbelastung mit der weiteren Erosion dieser Basen.
 
2.
Hat die Schwarzarbeit ein gewisses Ausmaß angenommen und wächst stetig weiter, dann sind viele Wirtschaftsindikatoren der offiziellen Statistik verfälscht, so z. B. die Zahl der Arbeitslosen, das gesamte Einkommen, die Nachfrage nach Konsumgütern etc. Werden aufgrund dieser offiziellen Indikatoren dann entsprechende wirtschaftpolitische Mßnahmen durchgesetzt, dann kann dies zu unerwünschten Auswirkungen führen, da z. B. aufgrund des Bestehens der Schwarzarbeit ein zusätzliches Beschäftigungsvolumen so ohne weiteres nicht mehr geschaffen werden kann.
 
Friedrich Schneider
Schwarzarbeit im Handwerk Erscheinungsformen — Dimensionen — Ursachen
Zusammenfassung
Folgt man der neueren öffentlichen Diskussion über Schwarzarbeit im Hundwerk, so gewinnt der unbefangene Beobachter den Eindruck, dass diese in jüngster Zeit stark zugenommen habe und eine wesentliche wirtschaftliche Bedrohung der Existenz-grundlagen des Hundwerks darstelle. Überdies wird die unterstellte Zunahme der Schwarzarbeit häufig als Indiz für ein Versagen der Wirtschaftspolitik gedeutet, die einerseits solche Rahmenbedingungen für die wirtschaftliche Betätigung der Hund-werksunternehmen geschaffen habe, die zur Schwarzarbeit animieren und es zum underen versäume, wirkungsvoll gegen die Schwarzarbeit vorzugehen. Hiermit ist vor allem die Position der Hundwerksorganisationen angesprochen, die das Thema “Schwarzarbeit” regelmäßig im öffentlichen Raum zur Sprache bringen (vgl. Macias 1995, Macias 1996, o. V. 1998). Hundwerkskritiker sehen dagegen in der Schwarzar-beit vor allem ein Resultat ordnungspolitischer Gängelung hundwerklicher Fachkräfte in Gestalt der Hundwerksordnung (HWO) bzw. des in dieser verankerten großen Be-fähigungsnachweises. Ein nicht zu unterschätzender Faktor im Diskurs über die Schwarzarbeit ist zugleich die Tatsache, dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung (Niessen 1986, S. 169 ff., S. 177 ff.) schon einmal mit Schwarzarbeit in Kontakt gekommen ist bzw. selbst solche Leistungen in Anspruch genommen hat, seine sub-jektiven Erfahrungen mit einerseits beanspruchter regulärer Hundwerksleistung, undererseits Schwarzarbeit — bewusst oder unbewusst — in die Diskussion einbringt.
Bernhard Lageman
Illegale Beschäftigung — Aussagen über das Hellfeld
Zusammenfassung
Illegale Beschäftigung in ihren verschiedenen Erscheinungsformen stellt eine erhebli-che Bedrohung für einen fairen Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt dar zu Lasten der legal tätigen Unternehmen. Leistungsmissbrauch ist unsolidarisches Verhalten zu Las-ten der ehrlichen Beitragszahler.
Bernhard Weber
Missbräuchliche Inanspruchnahme von Sozialhilfe? Auswirkungen von Zugangs- und Verbleibsregeln auf zeitliche Muster des Sozialhilfebezugs
Zusammenfassung
Es ist das erklärte Ziel von Sozialhilfeprogrammen, Hilfeempfänger zu befähigen, ih-re Hilfebedürftigkeit so weit und so rasch wie möglich zu überwinden. Mitunter wird jedoch vermutet, dass Sozialhilfeprogramme stattdessen geradezu eine Abhängigkeit von den Hilfeleistungen erzeugen. Bezieher von Sozialhilfeleistungen wären danach durch die Inanspruchnahme von Leistungen dem Risiko ausgesetzt, ihr Selbsthilfepo-tential dadurch zu verlieren. In diesem Zusammenhang wird an die US-amerikanische Diskussion anknüpfend mitunter von Welfarisation gesprochen. Der Begriff soll ei-nen Prozess kennzeichnen, in dessen Verlauf durch das Zusammenwirken von ge-samtgesellschaftlichen Bedingungen, sozialpolitischen Setzungen, Strukturmerkmalen der Hilfeprogramme und individuellen Dispositionen der Empfänger von Wohlfahrts-leistungen ein immer größerer Anteil von Personen zu dauerhaften Sozialhilfeemp-fängern wird. Ergebnis der Welfarisation sind danach “the growth of a permanent welfare class” (Segalman/Basu 1981). Die Diskussion um die Welfarisation hatten den konservativen Sozialforscher Charles Murray veranlasst, die Abschaffung aller Sozialprogramme zu fordern, da sie die Ursache für die Zunahme “unerwünschter” Verhaltensweisen wie Arbeitslosigkeit, nicht-eheliche Geburten u. A. seien: “We tried to provide more for the poor und produced more poor instead. We tried to remove the barriers to escape poverty, und inadvertently built a trap” (Murray 1984, S. 9).
Wolfgang Voges
Erosion von Normen, mangelnde soziale Kontrolle, faktische Zwänge oder Hedonismus als Bedingungen sozialer Devianz
Zusammenfassung
An meinem Lehrstuhl wird derzeit das Forschungsprojekt “Informelle Ökonomie und Leistungsmissbrauch — die Kriminalität der Braven?” (= Soziale Devianz) seitens der Volkswagen-Stiftung im Schwerpunkt “Recht und Verhalten” gefördert. Im Vorfeld der Antragstellung zu diesem Forschungsvorhaben haben wir im Rahmen eines Lehr-forschungsprojektes erste inhaltliche und methodische Hinweise gewinnen wollen, um die spätere Operationalisierung absichern zu können. Insoweit wird hier üiber ei-nen Pretest, der als stundardisierter dem derzeitigen Forschungsprojekt vorausging, berichtet. Das VW-Forschungsprojekt ist multimethodisch-integrativ angelegt und be-sitzt einen qualitativen und einen quantitativen Strang. Über Ergebnisse aus der rerä-sentativen Bevölkerungsbefragung von 3.000 Bürgern wird der Forschungsbericht gegen Ende dieses Jahres informieren. Über Befunde aus dem qualitativen Teil refe-riert Frau Olbrich in diesem Bund.
Siegfried Lamnek
Reaktion auf strukturelle Bedingungen oder individuelle Motive? Bürger zwischen Leistungsbereitschaft und Anspruchsdenken
Zusammenfassung
Abweichende Handlungen im Kontext des Sozialversicherungssystems, wie z. B. die Durchführung und Inanspruchnahme von “Schwarzarbeit” und der unrechtmäßige Bezug von Sozialleistungen als Formen sozialer Devianz untersuchen wir in einem von der Volkswagen-Stiftung geförderten Forschungsprojekt. In dem Projekt “Devianz im Sozialstaat” wurden bisher eine bevölkerungsrepräsentativ-standardisierte Befragung von ca. 3.000 Personen, qualitative Einzelinterviews mit 5 Behördenexperten und 23 sozial devianten Personen, sowie Gruppendiskussionen mit 16 Teilnehmern durchgeführt. Ziel ist es, Aussagen zu strukturellen Modalitäten sozialer Devianz, zu der möglicherweise fehlenden Normorientierung der Akteure, zu deren Integration in soziale Netzwerke und daraus resultierender Devianz und besonders zu jeweiligen Handlungsmotivationen zu machen, um somit sozial dEviantes Handeln beschreiben, verstehen und erklären zu können.
Gaby Olbrich
Psychologische Ansätze zur Erklärung von Steuerhinterziehung, Schwarzarbeit und (Sozial-)Versicherungsbetrug
Zusammenfassung
“Volk ohne Moral” — dies ist der Titel eines Spiegel-Special-Heftes aus dem Januar 1999, in dem der allgemeine Sitten- und Werteverfall der deutschen Gesellschaft beklagt wird. Als Zeichen dieses Werteverfalls wird in dieser Publikation (und in vielen anderen) auch auf die zunehmende Bereitschaft der Bundesbürger hingewiesen, ihre Versicherung zu betrügen, in der U-Bahn ohne Fahrkarte zu fahren, ungerechtfertigt Sozialhilfe zu beziehen oder bei der Steuererklärung falsche Angaben zu machen1.
Detlef Fetchenhauer
Schattenwirtschaft und Moral: Anmerkungen aus ökonomischer Perspektive
Zusammenfassung
Die Fragestellung, die mir aufgegeben wurde, lautet: Welche Rolle spielt die Moral bei Aktivitäten innerhalb der Schattenwirtschaft? Da das ganze unter dem Oberthema “(Aus-)Nutzung des Sozialstaats” steht, kann man dahinter folgende Überlegung vermuten: Erstens bedeuten Aktivitäten in der Schattenwirtschaft schon allein deshalb, weil keine Sozialbeiträge entrichtet werden, eine Ausnutzung des Sozialstaats. Zweitens ist es unmoralisch, den Sozialstaat auszunutzen. Daraus folgt nicht nur, dass es unmoralisch ist, in der Schattenwirtschaft zu arbeiten, sondern auch, und das wäre der wichtigere Aspekt, dass das Ausmaß der Schattenwirtschaft umso geringer ist, je höher der moralische Standard in einer Gesellschaft ist. Um die Schattenwirtschaft einzudämmen, so könnte man daraus folgern, sollte man daher das moralische Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger stärken. Das Problem ist nur, dass eigentlich niemand genau weiß, wie man das bewerkstelligen kann. Dass die Ökonomen dies nicht wissen, ist nicht weiter überraschend, aber auch die auf solche Fragestellungen viel eher trainierten Psychologen helfen uns offensichtlich nicht weiter. Schließlich ist, wenn man meinen eigenen Zahlen für die siebziger und achtziger Jahre1 sowie den neueren Zahlen von Schneider (1999) glauben darf, die Schattenwirtschaft trotz aller moralischer Appelle in den letzten Jahrzehnten auch in der Bundesrepublik Deutschland deutlich angewachsen. Diese Appelle waren offensichtlich nutzlos. Ultra posse, nemo obligatur, so sagten jedoch schon die Römer, und damit wäre mein Vortrag fast beendet.
Gebhard Kirchgässner
Möglichkeiten und Widersprüchlichkeiten von Norm- und Sanktionsverschärfungen in der Arbeitsverwaltung als empirisches “black-box”-Problem. Wissensdefizite auf der Meso- und Mikroebene
Zusammenfassung
Die Entwicklung der Arbeitsförderung und der Arbeitslosenversicherung wird primär auf der Makroebene thematisiert — sowohl aus einer eher ökonomischen wie aus einer eher sozialrechtlichen Ausgangsposition heraus. Während die ökonomische Diskussionslinie auf Themen abstellt, die sich mit den Auswirkungen der Änderungen z. B. auf die Finanzierung der sozialen Sicherung oder auf die Angebots-Nachfrage-Strukturen auf den Teilarbeitsmärkten (z. B. durch das Niveau subventionierter Beschäftigung oder durch die Beeinflussung der Lohnpolitik) befassen, fokussiert die sozialrechtliche Diskussion auf rechtsstrukturelle und -methodische Aspekte der Änderungen, während eine grundsätzliche Thematisierung des Regelwerks nur in Nebenlinien auftaucht1 und die Frage der verwaltungspraktischen Umsetzung nur in Ausnahmefällen behandelt wird. Neben diesen beiden Hauptströmungen der Diskussion existiert eine Vielzahl von Stellungnahmen und Veröffentlichungen, die sich alle durch eine stark normative Komponente (die aber leider selten offengelegt wird) auszeichnen und häufig punktuell Sachverhalte aus einer (partei)politischen bzw. institutionell gebundenen Perspektive heraus untersuchen.
Stefan Sell
Maßnahmen gegen soziale Devianz im Zeitalter der Globalisierung
Zusammenfassung
In verschiedenen Veröffentlichungen wird statt von Globalisierung von einer “Internationalisierung der Kapitalstrukturen” (Schmidt 1996, S. 2) gesprochen. Verengt man den lexikalischen Begriff Globalisierung, der einfach die Tatsache beschreibt, dass Unternehmen weltweit agieren, noch weiter, so lässt sich von “weltweitem oder globalem Wettbewerb” zwischen Unternehmen sprechen (Cichon 1988, S. 36). Diese Definition mag einigen zu eng erscheinen, da sie anscheinend nur dem Preiswettbewerb Rechnung trägt. Berücksichtigt man allerdings, dass Preise u. a. kostendeterminiert sind, dann wird in die Begriffssetzung “Globalisierung”, verstanden als “weltweiter Wettbewerb”, auch die Produktionsseite einbezogen (Genosko 1997, S. 284).
Joachim Genosko
Backmatter
Metadaten
Titel
Der Sozialstaat zwischen “Markt” und “Hedonismus”?
herausgegeben von
Siegfried Lamnek
Jens Luedtke
Copyright-Jahr
1999
Verlag
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-663-09628-3
Print ISBN
978-3-8100-2320-9
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-663-09628-3