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2008 | Buch

Die Privatisierung der Deutschen Bahn

Über die Implementierung marktorientierter Verkehrspolitik

verfasst von: Tim Engartner

Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften

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Über dieses Buch

Vorwort Vorwort Vorwort Seit den frühen 1990er-Jahren haben wechselnde parlamentarische Mehrheiten teilweise unter Einbindung der Opposition die Privatisierung der früheren B- des- und Reichsbahn (DDR) trotz eines wachsenden Widerstandes in weiten Teilen der Bevölkerung vorangetrieben. Umso dringlicher erscheint es heute, eine Zwischenbilanz aus politisch-ökonomischer Sicht zu ziehen, die das Pro und Kontra dieser Reorganisation des Bahnwesens abwägt, den Stand des Verfahrens darlegt und mögliche Alternativen zur materiellen Privatisierung der Deutschen Bahn (DB) AG skizziert. Die vorliegende Arbeit zeugt davon, dass der Verfasser in mehr als vierj- riger Forschungsarbeit bemüht war, die einschlägige Literatur umfassend zu rezipieren und selbst ausgesprochen schwer zugängliche Archivmaterialien zu berücksichtigen sowie seine Untersuchungsergebnisse auf breitestmöglicher Basis einem kritischen, die engen Grenzen der akademischen Fachdisziplinen überschreitenden Diskurs auszusetzen. Tim Engartner lässt deutlich erkennen, von welchem Wissenschaftsverständnis er ausgeht und dass seine Arbeit im bisher wenig bestellten Grenzland zwischen Politik-, Wirtschafts- und - schichtswissenschaft angesiedelt ist, weil sowohl historische Fakten rekonstruiert und ökonomische Zusammenhänge thematisiert als auch weitreichende gese- schaftspolitische Schlussfolgerungen gezogen werden. Dass ein junger Wiss- schaftler in der geschilderten Art und Weise interdisziplinär arbeitet und sonst allenfalls verstreut zugängliches Wissen in einer originellen Form verbindet, macht die besondere Qualität, ja die Exzellenz der vorliegenden Studie aus. Was die Fülle der ausgewerteten Quellen und der von ihm zitierten Bel- stellen angeht, ist Tim Engartner enormer Fleiß, überaus große Sorgfalt und das nur guten Wissenschaftler(inne)n eigene Streben nach Vollständigkeit zu att- tieren.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
1. Einleitung
Auszug
Mit diesem Slogan warb die neu gegründete Deutsche Bahn (DB) AG Anfang des Jahres 1994 in ganzseitigen Zeitungsanzeigen für die Bahnreform — unter Bezugnahme auf die erste hierzulande errichtete Eisenbahnstrecke zwischen Nürnberg und Fürth.1 Aber während am 7. Dezember 1835 die Bayerische Ludwigsbahn ein neues Zeitalter einläutete, auf den Bahnsteigen am Zielort frenetischer Beifall aufbrandete und die Begeisterung für das neuartige Verkehrsmittel auch Monate später nicht abebben wollte, wird die mehr als eineinhalb Jahrhunderte später eingeleitete Privatisierung des Bahnwesens von lautstarker Kritik begleitet. Vor dem Hintergrund persönlicher Erfahrungen verläuft die Debatte über die eigentumsrechtliche Neuformatierung bei kaum einem anderen Unternehmen derart emotional wie bei der DB AG, die täglich 39.000 Personen- und Güterzüge verkehren lässt, pro Jahr rund 2,5 Mrd. Reisende per Bus und Bahn befördert und damit innerhalb von acht Tagen so viele Kunden2 zählt wie die Deutsche Lufthansa innerhalb eines Jahres.
2. Das neoliberale Paradigma als legitimatorischer Wegbereiter der Bahnreform
Auszug
Bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass sich hinter der zum 1. Januar 1994 eingeleiteten Reform von Bundes- und Reichsbahn sowie der damit eingeleiteten Privatisierung eine langfristig angelegte Makrostrategie verbirgt. Wie die nahezu zeitgleiche Überführung der ehemaligen Staatsunternehmen Bundespost und Deutsche Lufthansa in privatwirtschaftliche Verhältnisse erkennen lässt, stellen die für jene Sektoren bedeutsamen Liberalisierungsströmungen, namentlich Deregulierung und Privatisierung, die Konkretisierung eines flächendeckend angelegten Langzeitprojektes dar. Der Name des Projekts ist hinlänglich bekannt: Neoliberalismus.
3. Privatisierung und Liberalisierung — Strategien staatlicher Selbstentmachtung
Auszug
Die ökonomische Entwicklung in der Bundesrepublik nahm zu Beginn der 90er-Jahre einen ähnlichen Verlauf wie jene in Großbritannien mehr als ein Jahrzehnt zuvor: Das negative Leistungsbilanzsaldo bei einem sich verschärfenden Haushaltsdefizit, die im historischen Vergleich hohe Inflationsrate und die stetig steigenden Sozialausgaben erinnerten an das nach allgemeiner Lesart erstarrte Vereinigte Königreich vor der Amtsübernahme durch die Regierung Thatcher im Jahre 1979. In dieser Situation gerieten zahlreiche Güter und Dienstleistungen, die aufgrund ihrer ökonomischen Besonderheiten und gesellschaftlichen Funktionen der Steuerung durch Angebot und Nachfrage entzogen waren, in den Bannstrahl staatlicher Wirtschaftstätigkeit.
4. Stationen einer (kapital)marktorientierten Neuvermessung der Bahnpolitik
Auszug
Einigkeit herrschte bei Befürwortern wie Kritikern von Beginn an nicht nur in der Einschätzung, dass die Bahnreform als eine „Jahrhundertentscheidung der Verkehrspolitik“ und als „in der deutschen Wirtschaftsgeschichte einmaliger Akt“ zu begreifen war.348 In Verbänden jeder Art — vom Deutschen Industrie- und Handelstag (DIHT) bis hin zur Deutschen Gesellschaft für Eisenbahngeschichte (DGEG) — sowie in beinahe sämtlichen meinungsbildenden Medien stieß das Reformvorhaben auf breite Zustimmung. Schließlich wurde die Gründung der DB AG als Beginn einer neuen Epoche in der deutschen Bahnhistorie gewertet, weil zwei Reformen gleichzeitig auf den Weg gebracht wurden: Mit der „äußeren“ Bahnreform sollten die gesetzlichen Rahmenbedingungen für eine nach privatwirtschaftlichen Maßstäben ausgerichtete Eisenbahn geschaffen werden, die zeitgleich eine „innere“ Reform der organisatorischen und personellen Strukturen ermöglichen sollte.349 Bei kaum einem anderen Gesetzgebungsverfahren waren so viele Entscheidungsträger und Interessenvertreter über einen derart langen Zeitraum auf sämtlichen föderalen Ebenen involviert — und bei keinem anderen verkehrspolitischen Vorhaben schien die Problemlage ähnlich komplex.
5. Überhöhtes Vertrauen in den Wettbewerb: Privatisierung und Fragmentierung des britischen Bahnwesens
Auszug
Im Übergang der 70er- zu den 80er-Jahren bereitete eine daniederliegende britische Wirtschaft mit einer Besorgnis erregend hohen Inflationsrate (Ø 1974– 1981: 16 Prozent) und einer für damalige Verhältnisse alarmierend hohen Arbeitslosenquote (Ø 1974–1981: 5,7 Prozent) den Boden für ein radikales Umdenken in der Wirtschaftspolitik Großbritanniens.628 Margaret Thatcher setzte auf einen grundlegenden Abbau der gewerkschaftlichen Mitbestimmung, eine konsequente Privatisierung öffentlicher Unternehmen, eine resolute Deregulierung und Flexibilisierung des Arbeitsmarktes sowie eine — im Widerspruch zu ihren ursprünglichen Politikkonzepten stehende — expansive Geld- und Finanzpolitik.
6. Schlussbetrachtung
Auszug
„Vater Staat nimmt Abschied.“771 So lautet eine plakative, gleichwohl geläufige Bewertung der zum 1. Januar 1994 angestoßenen Bahnreform und der damit ausgelösten Kapitalmarktorientierung der DB AG. Waren von staatlicher Seite erbrachte Dienstleistungen über Jahrzehnte hinweg als „Fundament einer demokratisch gestalteten Teilhabe aller Menschen an gesellschaftlicher Entwicklung“ 772 begriffen worden, adaptierten die Privatisierungsbefürworter schließlich auch in der Debatte um die (zweifelsfrei notwendigen) Reformen im Bahnsektor gewichtige Motivations- und Legitimationskriterien für eine Beschränkung auf die „Kernaufgaben des Staates“: Die einstige Bundesbehörde müsse dem „freien Spiel der Marktkräfte“ gehorchen, um den Staatshaushalt zu entlasten, den Wettbewerb zum Vorteil der Verbraucher zu stimulieren und eine effiziente Nutzung der Ressourcen durch privatunternehmerische Tätigkeit zu bewirken. Mit der mehrmals aufgeschobenen, nunmehr für 2009 avisierten Kapitalmarktprivatisierung der DB AG geraten — wie im gesamten Sozialsystem — historisch gewachsene Grundpfeiler der öffentlichen Daseinsvorsorge ins Wanken.
Backmatter
Metadaten
Titel
Die Privatisierung der Deutschen Bahn
verfasst von
Tim Engartner
Copyright-Jahr
2008
Verlag
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-531-90967-7
Print ISBN
978-3-531-15796-2
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-531-90967-7

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