"Niedrigstenergiegebäude" werden ab Ende 2020 zum Standard für Neubauten und energetische Sanierungen des Bestands. Springer Professional sprach mit Roland Borgwardt über Anforderungen und Konzepte.
Springer Professional: Niedrigstenergiegebäude gehen auf eine EU-Richtlinie zurück. Was ist neu daran und wie wird das definiert?
Roland Borgwardt: Im Grunde wird damit die Dekarbonisierung im Gebäudebereich eingeleitet, also der schrittweise Ausstieg aus fossilen Energiequellen. Nach der einschlägigen EU-Richtlinie 2010/31/EU zeichnen sich "nearly zero energy buildings" dadurch aus, dass ihr Energiebedarf nahezu null bzw. sehr gering ist UND im Wesentlichen durch erneuerbare Energiequellen gedeckt werden. Es geht also nicht mehr um ein Entweder-oder, sondern um die möglichst effiziente Kombination. Dieses zweisäulige Konzept reflektiert, dass auch erneuerbare Energien knappe Ressourcen sind, die unseren Energiebedarf nur decken können, wenn er zuvor durch Effizienz sehr stark verringert wurde.
Noch ist unbekannt, wie der neue Standard aussieht. Mit welchen Anforderungen rechnen sie?
Wenn man die genannte Definition der EU-Richtlinie ernst nimmt, müsste der künftige deutsche Standard in Bezug auf Primärenergie und CO2-Ausstoß aus meiner Sicht mindestens einem heutigen KfW-Effizienzhaus 40 entsprechen. Der Wärmeschutz als Nebenanforderung könnte eventuell etwas weiter gefasst werden, wenn der erneuerbare Energieanteil im Gebäude maximiert wird.
Die Bundesregierung wird ihr Anforderungskonzept wohl in den nächsten Monaten vorstellen. Was bisher an Überlegungen bekannt geworden ist, deutet aber eher auf geringere Anforderungen hin. Dann müsste später nochmals mit einer weiteren Novelle der Energieeinsparverordnung nachgebessert werden.
Wo sehen sie Probleme für neue Konzepte in Deutschland?
Technisch sehe ich jedenfalls keine Probleme: Wir wissen aus den zahlreichen Modellvorhaben als Best Practices Beispiele, wie es sogar noch deutlich besser in Richtung Plusenergiegebäude geht, auch in der Bestandssanierung wie zum Beispiel bei den beiden Modellprojekten in Neu-Ulm. Auch das Passivhaus-Konzept mit den neuen Standards 'Plus' und 'Premium' zeigt, dass noch einiges mehr möglich ist. Die Technologien für Energieeffizienz und erneuerbare Energien sind ausgereift und stehen in großer Bandbreite am Markt zur Verfügung. Bei den Kosten der Komponenten gibt es wegen der noch relativ geringen Stückzahlen eine Art Henne-Ei-Problem: Wenn diese Technologien aber durch höhere Anforderungsstandards in den nächsten Jahren zum Mainstream werden, dürften auch die Stückkosten sinken. Als Engpass könnte sich allerdings die bisher noch zu geringe Erfahrung mit derartigen Gebäuden bei vielen der am Bau Beteiligten erweisen. Hier sollte kurzfristig mit einer breiten Qualifikationsoffensive gegengesteuert werden.
In der Diskussion unter Experten geht es auch um eine Bilanzgrenze des Energiebedarfs. Wie kann dies den künftigen Standard beeinflussen?
Das ist noch eine offene Frage. In hocheffizienten Wohngebäuden wird der Haushaltsstrom zu einer relevanten Größe des Gesamtenergiebedarfs. Und wenn Plusenergiegebäude über den Bedarf des Gebäudebetriebs hinaus Stromüberschüsse produzieren, macht es Sinn, den Bedarf für Haushaltsstrom in der Gebäudebilanz mit zu berücksichtigen. Andererseits hängt der Haushaltsstrombedarf sehr stark von der individuellen Ausstattung und den Gewohnheiten der Nutzer ab. Daher wäre es schwierig, einen festen Pauschalwert zu begründen, der beim Nachweis über die Einhaltung des Niedrigstenergiegebäude-Standards einzurechnen ist.
Bleiben beim Nearly Zero-Standard noch Ideen für eine interessante Architektur?
Auf jeden Fall! Schon die realisierten Projekte zeigen sich ja auch alles andere als gleichförmig, ob als Neubau oder als Bestandsanierung. 'NearlyZero' diktiert keine Fragen der Gestaltung, sondern ist eine weitere von vielen funktionalen Anforderungen an Architektur, deren Aufgabe es schon immer war, dafür stimmige, auch gestalterisch überzeugende Lösungen zu entwickeln. Beeindruckende Raumerlebnisse, das Spiel von Formen und Proportionen, die ästhetischen Möglichkeiten von Farbe, Struktur und Material hängen nicht vom Energiestandard ab, sondern sind allein das Ergebnis von Kreativität und guter Planung.