Skip to main content

13.03.2024 | Fahrzeugsicherheit | Schwerpunkt | Online-Artikel

Crashtest-Dummys bilden Realität immer besser ab

verfasst von: Christiane Köllner

7:30 Min. Lesedauer

Aktivieren Sie unsere intelligente Suche, um passende Fachinhalte oder Patente zu finden.

search-config
loading …

Mit Crashtests und Dummys lässt sich das Verhalten von Fahrzeugen und Insassen bei Autounfällen untersuchen. Die Dummys werden dabei realitätsnaher, die Herausforderungen durch automatisiertes Fahren größer. 

In den vergangenen Jahrzehnten ist die Sicherheit von Pkw-Insassen und anderen Verkehrsteilnehmern enorm verbessert worden. Einen wesentlichen Beitrag, die Opferzahlen im Straßenverkehr zu reduzieren, leisten Crashtests. Die zentralen Messwerkzeuge, um das Risiko der Fahrzeuginsassen und Verkehrsteilnehmer bei diesen Unfallversuchen zu bewerten, sitzen im Fahrzeug selbst: Crashtest-Dummys. Das sind "menschenähnliche Puppen (oder manchmal auch nur Körperteile)", wie Thomas Kinsky und Christian Kleeßen von Humanetics im Artikel Weibliche Dummys und Insassendummys für das autonome Fahren (Seite 29) aus der ATZ 4-2022 erklären. Waren die Dummys anfangs noch starr und grob, so werden sie zunehmend menschlicher und verändern sich mit den Anforderungen, die automatisiertes Fahren an sie stellt. 

Empfehlung der Redaktion

01.12.2023 | Titelthema

"Wir wollen im Jahr bis zu 500 Crashversuche fahren"

Die Eröffnung eines neuen Testzentrums für die Fahrzeugsicherheit kommt nicht alle Tage vor. Nach sieben Jahren Bodensanierung und Bebauung des incampus-Technologieparks konnten die Ingenieurteams am 15. September 2023 in das größte Gebäude auf dem Gelände umziehen. Highlight in Ingolstadt ist die Crasharena mit einem stützenfreien Bereich von 50 × 50 m und gegenläufigen Anlaufbahnen mit 250 m Gesamtlänge. Im ATZ-Interview erklärt Dr. Martin Friedrichsen von Audi, wie hoch die Sicherheit von Batterien in Elektrofahrzeugen ist, warum virtuelle Simulationen essenziell bei der Prüfplanung helfen und was er von weiblichen Crashtestdummys hält.

50-perzentile Mann am häufigsten verwendet

Von Prüfkörpern beziehungsweise Crashtest-Dummys wird erwartet, dass sie einige Voraussetzungen erfüllen, wie die Springer-Autoren um Kai-Uwe Schmitt im Kapitel Methoden der Trauma-Biomechanik (Seite 46f) des Buchs Trauma-Biomechanik erläutern. Das reiche von Anthropometrie und Biofidelität – also der Anforderung, bezüglich Körpergröße, Masse, Masseverteilung, Trägheitsmomenten, (sitzender) Körperhaltung und biomechanischem Verhalten dem realen Menschen so nah wie möglich zu kommen – über Instrumentierung (Sensitivität und Messmöglichkeiten) bis hin zu Wiederholbarkeit und Beständigkeit. 

Die heute am häufigsten verwendeten Crashtest-Dummys kommen aus der Hybrid-III-Familie. Sie wurden vor mehr als 40 Jahren entwickelt und sind seit Jahrzehnten im Einsatz. "Der 50-perzentile erwachsene Mann, dessen anthropomorphische Daten in den 1960er Jahren aus der US Population gewonnen wurden (Körpergröße stehend: 1,75 m, Gewicht: 78,2 kg), ist der in der Autoindustrie am häufigsten verwendete Dummy", erklären Schmitt et al.. Andere verfügbare Dummytypen seien die 5-perzentile Frau (1,51 m, 49,1 kg) und der 95-perzentile Mann (1,87 m, 101,2 kg). Zudem gibt es Dummys, die Kinder verschiedenen Alters darstellen. 

Insgesamt hat die Zahl der Dummy-Typen in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen – auch aufgrund der vielen unterschiedlichen Kollisionsarten (Frontal-, Heck- oder Seitenaufprall), die geprüft werden. Für die Komponentenprüfung stehen zudem ein Torsoblock für die Entwicklung von Lenkeinrichtungen, ein Beinmodell für den Fußgängerschutz und eine Kopfkalotte für den Innenraum als "Teilmodell" zur Verfügung, so Springer-Autor Xiangfan Fang im Buchkapitel Anforderungen an die Karosserie durch die passive Sicherheit.

Zwei neue Modelle aus der Thor-Familie

Seit 2016 gibt es eine neuere Generation, den Crashtest-Dummy namens Thor (Test Device for Human Occupant Restraint). Er ähnelt dem Menschen noch stärker, weist authentischere Bewegungen auf und misst präziser. Dieses neue Modell als Hardware- und Softwareversion habe begonnen, den Hybrid III in Frontalaufprall-Crashtests zu ersetzen, erklären die Ingenieure von Humanetics. In ihrem bereits erwähnten Artikel stellen sie zwei neue Modelle aus der Thor-Familie vor: den Dummy Thor-5F, der eine 5.-Perzentil-Frau darstellt, sowie den Dummy Thor-AV, ein für hochautomatisierte und autonome (SAE-Level 5) Fahrzeuge optimiertes Dummymodell.

Unfallforscher kritisieren seit Längerem, dass sich Ergonomie und Sicherheitstechnik im Fahrzeug vorwiegend am Mann orientierten. Vor allem Frauen und Menschen mit kleiner Statur gelten als benachteiligt und erleiden bei Verkehrsunfällen oft schwerere Verletzungen. Und auch die von Humanetics ermittelten Daten hätten gezeigt, dass sich die Sicherheitsanforderungen für kleine Frauen von denen mittelgroßer Männer unterschieden. Der neue Dummy Thor-5F biete daher eine verbesserte Biofidelität im Vergleich zur entsprechenden Hybrid-III-Frau (HIII-5F). Mit einer Größe von ungefähr 1,51 m und einem Gewicht von circa 47,5 kg entspreche der Thor-5F ungefähr dem 5. Perzentil der weiblichen Bevölkerung – das heißt, nur 5 % der weiblichen Bevölkerung sind kleiner und leichter als dieser Dummy.

Thor-5F repräsentiert weibliche Körperstatur besser

Jedoch folgt auch Thor-5F weiterhin "dem heute in der Fahrzeugsicherheit üblichen Ansatz, bei der Entwicklung von Rückhaltesystemen das 5. Perzentil der Frauen sowie das 50. und das 95. Perzentil der Männer als Grundlage zu nutzen", so Humanetics. Der männliche Mediandummy diene bei Versuchen als Basis, die beiden anderen Dummys sollen die unteren und oberen Extreme abdecken, sodass Pkw für alle Insassen entwickelt werden könnten. 

Im Gegensatz zum HIII-5F wurde aber der Thor-5F nicht vom 50.-Perzentil-Mann ausgehend skaliert, also einfach verkleinert. "Zum ersten Mal basiert dieser weibliche Dummy ausschließlich auf anthropometrischen Daten von Frauen. Körperstatur und Körperform repräsentieren daher viel besser eine typische Frau", so Humanetics. Die amerikanische Verkehrssicherheitsbehörde National Highway Traffic Safety Administration (NHTSA) sähe eine Verbesserung des Thor-5F-Biofidelitäts-Rankings um 45 % im Vergleich zum HIII-5F. 

Die Verletzungsrisiken sind menschlich

Geht es nach Dr. Martin Friedrichsen von Audi, dann liegt beim Thema spezifische Geschlechterdummys aber ein Missverständnis in der Gesellschaft vor. Denn ein Dummy messe nicht direkt eine Verletzung, sondern physikalische Größen wie Kraft, Verformung und Beschleunigung, die wiederum mithilfe von Verletzungsrisikofunktionen auf den Menschen "übersetzt" werden müssten. "Unserer Meinung nach ist für Frauen nicht ein neuer Dummy mit angepassten Maßen notwendig, sondern vielmehr ein Vertiefen der Grundlagenforschung zu den Verletzungssymptomen bei Frauen im Vergleich zu Männern", erklärt Friedrichsen im ATZ-Interview "Wir wollen im Jahr bis zu 500 Crashversuche fahren"

Ähnlich sieht es Mercedes-Benz. Der Fünf-Prozent-Dummy habe zwar die Anatomie einer Frau, repräsentiere aber bezüglich der Verletzungsrisiken die Gruppe der kleinen Menschen – egal ob Frau oder Mann, so Hanna Paul, Leiterin Mercedes-Benz Dummy-Testing. "In anderen Worten: Die Verletzungsrisiken sind menschlich – nicht männlich oder weiblich", so Paul. Entsprechendes gelte daher für die anderen Dummys. Aktuell forsche die NHTSA daran, inwiefern Verletzungsrisiken vom Geschlecht abhängen. Die ersten veröffentlichten Ergebnisse würden zeigen, dass das Geschlecht nicht die wichtigste Einflussgröße auf die Verletzungshäufigkeit darstelle. Die heute genutzten Dummys seien demnach wirksame Messmittel für die Entwicklung von Sicherheitssystemen.

Dummys für das autonome Fahren

Neben der Auslegung von Pkw für verschiedene Insassentypen (großer Mann, kleine Frau, Kind) müssen Fahrzeugentwickler heute auch alternative Sitzkonzepte im Blick haben, die zukünftig in Fahrzeugen mit automatisierten Fahrfunktionen und in autonomen Fahrzeugen zum Einsatz kommen. Denn die Sitzposition in diesen Fahrzeugen ist nicht mehr zwangsläufig vorwärts gerichtet und aufrecht. Wie Humanetics berichtet, seien heute verwendete Dummys für solche Zwecke nur bedingt verwendbar, da sie Sitzpuppen seien, die sich für andere als die aufrechte Sitzposition nicht gut eigneten.

Um die Insassensicherheit in anderen Sitzpositionen zu bewerten, hat Humanetics daher den Dummy Thor-AV entwickelt. Als Basis dienten der aktuelle Thor-50M und der neue Thor-5F. Beide Dummys seien so modifiziert worden, dass Winkel mit einer Neigung der Sitzlehne bis mindestens 60° untersucht werden könnten. Erste Tests mit neuen Dummys seien positiv verlaufen. Es habe sich gezeigt, "dass die Labore für den Umgang mit diesen neuen Dummys nicht umlernen müssen und beide Dummys als eine weitere Evolutionsstufe der existierenden Dummygeneration angesehen werden können", so Humanetics. 

Human Body Models als Ergänzung zu Dummys

Künftig werden physische Dummys alleine aber nicht mehr ausreichen. Virtuelle Menschmodelle sollen mit Computersimulationen die herkömmlichen Dummys bei der Bewertung und Zulassung von zukünftigen Fahrzeugen unterstützen, wie Virtual Vehicle Research im Artikel Zukünftige Insassensicherheit bei Unfällen mit Personenwagen aus der ATZ 1-2020 erklärt. Virtual Vehicle Research hat das Forschungsprojekt "OSCCAR: Future Occupant Safety for Crashes in Cars" koordiniert, das einen virtuellen, simulationsbasierter Ansatz zur Bewertung der Sicherheit von Fahrzeuginsassen in zukünftigen Unfallszenarien entwickelt hat.

Um individuelle Proportionen von Frauen und älteren Personen bei Rückhaltesystemen stärker zu berücksichtigen, setzt IAV auf KI-Methoden. Der Entwicklungsdienstleister führt im ATZ-Artikel Optimierte Crashsicherheit durch KI und synthetische Daten aus, wie neben einer Erkennung von Sitzplatzbelegung und Körperhaltung auch Geschlecht und Alter aller Fahrzeuginsassen in die Gestaltung personalisierter Rückhaltesysteme einbezogen werden können.

Physische Crashtests behalten Relevanz

Eine Kombination physischer Crashtests mit virtuellen Simulationen hilft ebenso dabei, die Fahrzeugsicherheit in automatisierten Fahrzeugen auch bei kürzeren Entwicklungszyklen und komplexen Crashszenarien und -konfigurationen zu gewährleisten, beschreibt Siemens im Artikel Sicherheit in elektrischen und autonomen Pkw – Simulation komplexer Crashszenarien aus der ATZ 7-8-2020. Das Unternehmen stellt mit seiner MKS-Software Simcenter Madymo ein Active-Human-Modell für schnelle Sicherheitssimulationen für Insassen zur Verfügung. Denn reale Dummy-Crashtests sind teuer und zeitaufwendig und können erst spät in der Fahrzeugentwicklung durchgeführt werden. Hier hilft die Simulation Zeit und Kosten zu sparen.

Dass Simulationen physische Crashtests bald überflüssig machen werden, sieht Mercedes-Benz jedoch nicht. Zwar könne die Berechnung der Kinematik und des Verformungsverhaltens die Anzahl von Gesamtfahrzeugversuchen deutlich reduzieren und die Entwicklung beschleunigen. Am Fahrzeugcrash führe laut Hanna Paul aber kein Weg vorbei. Das habe mehrere Gründe: Crashtests seien nötig, um die Simulationen, die mit vielen Annahmen durchgeführt werden, zu bestätigen. Außerdem seien sie gesetzlich oder von Ratings vorgegeben. Paul resümiert: "Das Zusammenspiel aus Sensorik, Crash- und Dummy-Verhalten lässt sich im Gesamtfahrzeugversuch am besten absichern". 

Weiterführende Themen

Die Hintergründe zu diesem Inhalt

Das könnte Sie auch interessieren

    Premium Partner