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2014 | Buch

Die Postdemokratisierung politischer Öffentlichkeit

Kritik zeitgenössischer Demokratie – theoretische Grundlagen und analytische Perspektiven

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Über dieses Buch

Welche Konsequenzen bringen Postdemokratisierungsprozesse für die politische Öffentlichkeit und die politische Kommunikation in der Öffentlichkeit mit sich?​

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
1. Einleitung
Zusammenfassung
„The world that we have to deal with politically is out of reach, out of sight and imagined“, schrieb der amerikanische Publizist und Politologe Walter Lippmann in seinem 1922 veröffentlichten Buch „Public Opinion“ (Lippman 1997 [1922], Public Opinion, S 18). Ohne die Massenmedien, die die individuell unfassbare Vielfalt potentiell politischer Informationen sammeln, filtern, bündeln, sie an eine breite Öffentlichkeit vermitteln und so zum Entstehen einer politischen Öffentlichkeit beitragen, war das Zusammenleben politischer Gesellschaften für Lippman bereits am Beginn des 20. Jahrhunderts undenkbar – in einer Zeit als Radios noch seltene Luxusgüter waren, das Fernsehen gerade erst erfunden wurde und die Entwicklung des Internets in weiter Ferne lag. Lippman identifiziert die politische Öffentlichkeit in seiner, nicht nur für die amerikanische Diskussion wegweisenden, Arbeit als Grundbedingung des Politischen. Dies gelte in besonderer Weise, jedoch nicht ausschließlich, für Demokratien, in denen die prinzipielle Gleichheit und politische Teilhabe aller Bürger das Angewiesensein auf eine geteilte und nach bestimmten Regeln und Mechanismen strukturierte Öffentlichkeit noch weiter verstärke als es in anderen Staatsformen der Fall ist. Wie kein anderer zuvor hat Lippmann hervorgehoben, dass die demokratische Qualität eines politischen Gemeinwesens unmittelbar von der Qualität der politischen Öffentlichkeit abhängt. Er erkennt zwar an, dass die Öffentlichkeit bei weitem nicht der einzige Faktor ist, der die Qualität einer Demokratie bestimmt, doch in dem Maße, in dem es ihr gelinge, umfassende und zuverlässige „pictures of the world beyond their [the people’s, Anm. C. R.] reach“ (ebd.: 19) zu zeichnen, trage sie wesentlich zu legitimer politischer Entscheidungsfindung bei.
Claudia Ritzi
2. Der Postdemokratie-Diskurs
Zusammenfassung
Zum Zweck der theoretischen Verortung des Postdemokratie-Diskurses ist es zunächst sinnvoll, den historischen Kontext zu skizzieren, unter dem die postdemokratischen Krisendiagnosen formuliert wurden: Nie zuvor schien das liberale Demokratiemodell anderen Regierungs- und Staatsformen so überlegen zu sein wie es in den ersten Jahren nach dem Ende des Kalten Krieges der Fall war. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion änderte sich nicht nur die militärische Bedrohungslage für die westlichen Demokratien schlagartig, auch der ideologische Kampf zwischen Sozialismus und Demokratie schien zugunsten des liberalen Modells entschieden worden zu sein. Doch die Euphorie über die viel versprechende Zukunft der Demokratie westlichen Vorbilds und ihre friedensstiftende Kraft, die viele Politikwissenschaftler verspürten und die ihren wohl prägnantesten Ausdruck in Francis Fukuyamas berühmter These vom „End of History“ fand (Fukuyama 1989, 1992), hielt nur kurz an. Bereits in den 1990er Jahren mündete die politikwissenschaftliche Diskussion über die Gegenwart und Zukunft der Demokratie wieder häufiger in Krisendiagnosen, wobei die Rede von der „Postdemokratisierung“ seit einigen den entsprechenden Diskurs beherrscht.
Claudia Ritzi
3. Der systematische Ertrag des Postdemokratiediskurses
Zusammenfassung
Im Anschluss an die Darstellung der theoretischen Grundlagen im vorherigen Kapitel stellt sich nun die Frage nach der Bewertung des systematischen Ertrages des Postdemokratie-Diskurses. Diese erscheint im Fall der Postdemokratie besonders relevant, da der Begriff und die damit verbundenen theoretischen Konzepte – vor allem die Arbeiten von Colin Crouch – in der Literatur mehrfach scharf kritisiert wurden. So bemängelt beispielsweise Ingolfur Blühdorn, dass fast alle Ausführungen zur Postdemokratie „uneingeschränkt an den traditionellen Normen der Demokratie“ (Blühdorn Vorgänge 2010, S. 51, ; vgl. auch Blühdorn, Demokratie! Welche Demokratie? Postdemokratie kritisch hinterfragt, 2012) festhielten und somit nicht dazu in der Lage seien, eine angemessene Bewertung des aktuellen Zustands von Demokratie am Beginn des 21. Jahrhunderts vorzulegen. Dirk Jörke kritisiert die geringe Trennschärfe des postdemokratischen Begriffsverständnisses im politikwissenschaftlichen Diskurs, die er nicht zuletzt auf seine verschiedenen Entstehungs- und Verwendungskontexte und deren mangelhafte Integration zurückführt. Die Unangebundenheit der verschiedenen postdemokratischen Konzepte führt nach seiner Ansicht zu einer geringen theoretischen Stringenz und Kohärenz des Diskurses (Jörke Vorgänge 2010 S. 19 ff.). Laut Jan-Werner Müller taugt die Postdemokratie deshalb auch bestenfalls als „Warnbegriff“ (Müller, Neue Zürcher Zeitung, 2012). Ähnlich bemängelt Walter Reese-Schäfer (Politische Theorie der Gegenwart in achtzehn Modellen, 2012, S. 221) mit Blick auf Crouchs Arbeiten zum Begriff der Postdemokratie, dass „seine Vorschläge und Konsequenzen so ambivalent wie die Lage selbst“ blieben. Emanuel Richter geht noch weiter, indem er die Verwendung des Terms Postdemokratie als vorwiegend „polemisch“ kritisiert. Postdemokratie werde in erster Linie als „Reizbegriff“ gebraucht, und weise daher nur einen geringen explanatorischen Wert auf (Richter, Forschungsjournal NSB, 2006, S. 23).
Claudia Ritzi
4. Die Postdemokratisierung politischer Öffentlichkeit
Zusammenfassung
Die Ausführungen in den vorherigen Kapiteln haben verdeutlicht, dass die politische Öffentlichkeit eine zentrale Kategorie in der empirischen Untersuchung der postdemokratischen Krisendiagnose sein sollte. Schließlich führen jene Verfallsprozesse, die von Crouch, Rancière und Wolin als typisch für postdemokratische Entwicklungen beschrieben werden, gemäß der erörterten Krisendiagnosen nicht (jedenfalls nicht in erster Linie) zu Veränderungen der institutionellen Struktur politischer Systeme, sondern, vermittelt über eine Hegemonie neoliberaler Argumentationsformen zu Verschiebungen politischen Einflusses und politischer Entscheidungsmacht, die an den demokratischen Institutionen vorbei wirksam werden kann. Ein solcher Prozess muss – anders kann kulturelle Hegemonie im Sinne Gramscis bzw. Deutungsmacht in der Terminologie Vorländers nicht wirksam werden – entweder mit direkten Auswirkungen auf die öffentlichen Diskurse in einer politischen Gemeinschaft einhergehen (der zum Beispiel durch die zunehmende Relevanz neoliberaler Argumente sichtbar wird) oder zumindest indirekte Auswirkungen auf die Struktur öffentlicher Kommunikation haben (bspw. ist anzunehmen, dass sich veränderte gesellschaftliche Machtstrukturen in der Öffentlichkeit in einer Verschiebung der Sprecherrollen unter den verschiedenen Akteursgruppen widerspiegeln würden).
Claudia Ritzi
5. Fazit: Perspektiven des Postdemokratie-Diskurses
Zusammenfassung
Die vorliegende Arbeit verfolgte drei Zielsetzungen: Erstens sollte eine umfassende Rekonstruktion der theoretischen Grundlagen des Postdemokratie-Diskurses gegeben werden, die bislang trotz der vielfältigen Beiträge zu diesem Diskurs noch ausgestanden hat. Denn obwohl die Rede von der Postdemokratie sowohl in der wissenschaftlichen Literatur als auch in den Massenmedien, wie Dirk Jörke (Vorgänge 2010, S. 19) anmerkt, heute „nahezu ubiquitär“ zu sein scheint, hat sich bislang kaum ein Autor intensiv und wohl niemand umfassend vergleichend mit den von Colin Crouch, Jacques Rancière und Sheldon Wolin vorgelegten Konzepten befasst. Zweitens versuchte die Arbeit, den systematischen Ertrag des Postdemokratie-Diskurses zu bestimmen. Dabei wurde zunächst gefragt, ob es sich bei den Krisendiagnosen der drei Autoren um kohärente Bestimmungen des Zustands westlicher Demokratien am Beginn des 21. Jahrhunderts handelt und worin dieser besteht. Außerdem wurde hier geprüft, ob die These der Postdemokratisierung im Vergleich zu einflussreichen älteren Krisendiagnosen einen innovativen Beitrag zur politischen Theoriebildung geleistet hat. Und drittens wurde eine öffentlichkeitstheoretische Reformulierung des Konzeptes der Postdemokratie vorgenommen, die dessen theoretische Präzision und empirische Überprüfbarkeit verbessern soll, so dass der Diskurs über Postdemokratisierungs-Tendenzen in westlichen Demokratien nicht länger unter dem Defizit leidet, keine verlässlichen empirischen Belege seiner Thesen vorlegen zu können. Dazu wurde nicht nur eine Bestimmung der öffentlichkeitstheoretischen Grundlagen des Postdemokratie-Diskurs vorgenommen, sondern unter anderem auch ein concept tree entwickelt, der empirische Studien zur Überprüfung der postdemokratischen Hypothesen anleiten kann. Abschließend gilt es nun, zentrale Ergebnisse zusammenzufassen und einen Ausblick auf die Perspektiven des Konzeptes der Postdemokratie zu geben.
Claudia Ritzi
Backmatter
Metadaten
Titel
Die Postdemokratisierung politischer Öffentlichkeit
verfasst von
Claudia Ritzi
Copyright-Jahr
2014
Electronic ISBN
978-3-658-01469-8
Print ISBN
978-3-658-01468-1
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-01469-8