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1999 | Buch

Minderheiten und Identität in einer multikulturellen Gesellschaft

verfasst von: Sylvia Supper

Verlag: Deutscher Universitätsverlag

Buchreihe : DUV: Sozialwissenschaft

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Über dieses Buch

Die Entwicklung fortgeschrittener Industriegesellschaften mit ihren vielfältigen Mög­ lichkeiten, Chancen und vor allem Risiken legen nahe, sie als eine Gesellschaftsform zu charakterisieren, die sich von der Modeme mit ihren Grundprinzipien der Klarheit, Eindeutigkeit und Rationalität abgrenzt. Diese Veränderungen werden mit dem Stich­ wort einer "reflexiven Modeme" beschrieben, mehr aber noch und deutlicher in der Absetzung davon mit dem Etikett der Postmoderne. Hier drängen sich andere Grund­ prinzipien vor. Emotionalität gewinnt gegenüber Rationalität an Bedeutung, Kultur tritt als Steuerungselement neben strukturellen Zwängen hervor. Dies ist in den Sozial­ wissenschaften wohl eine der bedeutendsten Weiterentwicklungen der letzten Jahre: das Sprechen von Kulturalisierung. Dabei wird der alte Kulturbegriff, der statisch Kultur als ein Set von Sitten und Bräuchen sah, als ein Konglomerat von lexikalisch festschreibbaren Werten und Normen, das womöglich elitär abgegrenzt mit Hochkultur synonym gesetzt wurde, von einem dynamischen und prozeßorientierten Kulturbegriff abgelöst, der an die amerikanische Tradition des Pragmatismus und insbesondere an seine soziologische Ausprägung im Symbolischen Interaktionismus anknüpft. Kultur wird in diesem Sinne als die Summe an Bedeutungen verstanden die Personen ihrem Handeln zugrunde legen und die durch Symbole vermittelt werden. Dabei wird zwar auf ein Set von Bedeutungen zurückgegriffen, dieses wird aber in der Interaktion ver­ festigt und auch neu gestaltet. Kulturen sind demnach Konglomerate ähnlicher Bedeutungen, ähnlicher Wahrnehmensweisen von Gesellschaft. In diesem Sinne erscheinen postmoderne Gesellschaften multikulturell, was sich in einer Vielfalt von Lebensstilen ausdrückt. Ethnische oder nationale Zugehörigkeiten sind nur ein weiteres Element dieser vielfältigen Kulturen.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
1. Einleitung
Zusammenfassung
Ethnische Minderheiten und minoritäre Kulturen sind aufgrund von Migrationsbewegungen in den letzten Jahrzehnten auch in Gesellschaften mit ursprünglich homogener ethnischer Bevölkerung und einheitlicher Kultur zu einer dauerhaften Erscheinung geworden. Die damit entstehende Multikulturalität, das Nebeneinander-bestehen verschiedener ethnisch geprägter Kulturen innerhalb einer nationalen Gesellschaft, wird zunehmend kontroversiell diskutiert.
Sylvia Supper
2. Identitätstheorien
Zusammenfassung
Im folgenden sollen überblicksartig Identitätstheorien dargestellt werden, die für sich im Verlauf der empirischen Arbeit ergebende Fragen einen Erklärungsbeitrag liefern konnten und somit praktische Relevanz erlangten, also z.B. das „theoretical sampling“ von Analysestellen in Interviews steuerten. Die umfangreichste Darstellung gilt natürlich der Identitätskonzeption im Rahmen der verstehenden Soziologie und hier insbesondere der des Symbolischen Interaktionismus. Nicht nur weil Identität in diesem Theorieansatz eine zentrale Stellung einnimmt, sondern auch weil die gesamte Konzeption und Vorgehensweise dieser Arbeit sich dem verstehenden Paradigma und einer interpretativen Methodik zugehörig fühlt. Der Symbolische Interaktionismus als eine der wichtigsten Theorien der verstehenden Soziologie bildet neben dem Pragmatismus eine wesentliche Grundlage für die Grounded Theory und damit auch für das methodische Vorgehen dieser Arbeit. Schon hier zeigt sich die Schwierigkeit der Trennung von Theorie und Empirie.
Sylvia Supper
3. Multikulturalismus
Zusammenfassung
Um den hier verwendeten Kulturbegriff zu erläutern sei zunächst die Definition Max Webers zitiert, Kultur sei „ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter Weltausschnitt“ (Weber 1986, zit. nach Hettlage 1996, S.165) Kultur ist ein schöpferischer vorgang symbolischer Wirklichkeitskonstruktion, der die empirische Realität mit einbindet, gleichzeitig aber auch Grenzen zieht und andere Sinn- und Wirklichkeitskonstruktionen, ausschließt, Dieser Kulturbegriff geht Davon aus, Daß trotz bestehender Differenzierungen, eine Gemeinsamkeit zwischen Menschen einer Kultur besteht und diese Gemeinsamkeit als Kulutrerve von Generation zu generation weitergegeben wird. „Diese Einheit zeigt sich als Verständigungs-, Organisations-, Geltungs- und Verweisungszusammenhang, also an der Gemeinsamkeit von Sprachem Recht, Abstammung, Geschichte, Regelungssystemen und (letzten) Sinndeutungen.“ (Hettlage 1996, S.166)
Sylvia Supper
4. Bildungssoziologische Aspekte
Zusammenfassung
Identität und Integration, so die zentrale These dieser Arbeit, hängen eng mit dem Thema Bildung zusammen. Der gewählte Bildungsweg hat eine Einfluß darauf, mit welchen sozialen Milieus und Kulturen über das eigene kulturelle Milieu hinaus während der Ausbildungszeit Kontakt besteht. Bildung und vor allem der erreichte Bildungsabschluß eröffnen bzw. verschließen Erfahrungswelten und Entwicklungsmöglichkeiten und somit Identitätsoptionen. Der erreichte bzw. als erreichbar eingeschätzte Bildungsabschluß prägt die Lebensplanung im Sinne eines biographischen Entwurfes. Damit werden Akkulturationsausgänge wesentlich über das kulturelle Kapital der Migrantlnnen mitbeeinflußt. Welcher Stellenwert Bildung im Rahmen einer Kultur zugeschrieben wird, wie bestehende Bildungsoptionen und -zwänge bewertet und welche Umgangsformen damit gefunden werden, sind die interessierenden Fragen auf einer kultursoziologischen Ebene.
Sylvia Supper
5. Qualitative Sozialforschung und Migrationssoziologie
Zusammenfassung
Qualitative Sozialforschung ruht auf zwei Säulen: Auf einer Vorstellung über den Aufbau von Gesellschaft und auf Regeln wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns über die Gesellschaft, die auf der inhaltlichen Konzeption aufbauen.“ (Froschauer/Lueger 1992, S.ll) Dieser Zweiteilung soll im folgenden Kapitel gefolgt werden. Die vorliegende Arbeit zum Thema Migration, Minderheiten und ethnische Identität versteht sich als dem interpretativen Paradigma verpflichtet und arbeitet mit interpretativen — gemeinhin als qualitativ bezeichneten — Erhebungs- und Auswertungsmethoden. Diese Herangehensweise ist in diesem thematischen Bereich nicht unumstritten. Der Diskurs darüber konzentriert sich um die Begrifflichkeiten Fremdheit, Fremde und Kultur. Dieser soll nachfolgend kurz dargestellt werden, um dann die Vorteile und Kritikpunkte an quantitativer und qualitativer Migrationsforschung zu diskutieren und das eigene methodische Vorgehen daraus abzuleiten.
Sylvia Supper
6. Die Forschungskonzeption
Zusammenfassung
Am Anfang jeder sozialwissenschaftlichen Forschung steht sich das Problem, den geeigneten Zugang zum Feld zu finden, um authentische Auskunftspersonen zu finden. Ein gelungener Zugang ist entscheidend für die Durchführung und den Erfolg einer Untersuchung. Das hier verwendetet Datenmaterial wurde zu einem großen Teil im Rahmen einer vom „Bundesministerium für Unterricht und interkulturelle Angelegenheiten“ in Auftrag gegebene Studie zur Schulproblematik von Roma-Kindern in Österreich erhoben. Im Rahmen dieser Studie erfolgte auch der erste Zugang zum Feld und alle weiteren Interviews gründeten sich auf Kontakte, die in diesem Rahmen geknüpft wurden. Initiiert wurde diese Studie vom Roma-Verein »Romano Centro«, der Beratung für Roma in rechtlichen und sozialen Belangen durchführt, aber auch Öffentlichkeitsarbeit betreibt und in diesem Rahmen auch die Finanzierung von Projekten und Studien zu erreichen versucht. Ebenso möchte der Verein, der aus Roma und Nicht-Roma besteht, das kulturelle Selbstbewußtsein der Volksgruppe durch die Herausgabe einer Zeitschrift sowie durch Veranstaltungen, wie Diskussionen aber auch Feste, stärken. Wenn hier von der Volksgruppe der Roma die Rede ist, so muß darauf hingewiesen werden, daß diese Bezeichnung abweichend von der offiziellen Sprache verwendet wird. Die Roma sind in Österreich seit 1993 als Volksgruppe anerkannt, allerdings bezieht sich diese Anerkennung ausdrücklich nur auf autochthone Roma, die hier seit Generationen ansässig sind. Offizielle Zahlen wieviele Roma es in Österreich gibt, sind nicht bekannt, die Schätzungen gehen auseinander, es herrscht aber weitgehend Konsens darüber, daß die autochthonen Roma in der Minderheit sind. Durch die Arbeitsmigration seit den 60er Jahren sind in Österreich Roma vor allem aus dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens und aus der Türkei zugewandert. Diese Migrant-Innen zählen offiziell nicht zur Volksgruppe, Minderheitenstatus und die damit verbundenen Rechte bleiben ihnen verwehrt. Der Verein »Romano Centro« hat sich nun aber vor allem diese Gruppe der zugewanderten Roma zum Klientel gewählt und setzt sich für ihre Gleichstellung und Anerkennung ein. Die autochthonen Roma verfügen über eigene Vereine, sowohl in Wien als auch im Burgenland, dem Hauptsiedlungsgebiet der autochthonen Roma. Die Beziehungen zwischen den Vereinen sind nicht immer ganz spannungsfrei, hier kommt ein Prozeß zum Tragen, den Rex als »doppelte Schließung« bezeichnet hat. „Dieser setzt ein, sobald eine Gruppe, die in ihrem Streben nach Gleichheit einige Fortschritte erzielt hat, andere von den Vorteilen des Erreichten auszuschließen versucht.“ (Rex 1996, S.154) Dieser Vorgang ist auch unter dem Schlagwort des »Konflikts zwischen alten und neuen Minderheiten« bekannt. Der Zugang über einen bestimmten Verein hatte also wesentliche Folgen für die weitere Forschungsarbeit. Während die Rekrutierung der zugewanderten Roma-InterviewpartnerInnen kein Problem darstellte, war der Zugang zu autochthonen Roma schwieriger. Gerade im Zusammenhang mit der Schulproblematik, die vom »Romano Centro« als zentrales Problem der Roma-Kinder gesehen wurde, gab es von Seiten von autochthonen Roma immer wieder Distanzierungen mit dem Argument, die eigenen Kindern wären davon nicht betroffen. Wie diese Wahrnehmung zustande kommt und welche Deutungsmuster dahinter stehen, soll hier nicht vorweggenommen werden. Es muß nur daraufhin gewiesen werden, daß über den Zugang die Auswahl der InterviewpartnerInnen und die Interviewsituation mitbeeinflußt war.
Sylvia Supper
7. Empirische Analyse
Zusammenfassung
Die folgende Darstellung versucht die Ergebnisse der Analyse der durchgeführten Interviews unter zwei Aspekten zu beleuchten. Zum einen ist hier ganz zentral der Schulbereich zu nennen. Hier stand zu Beginn des Projektes zunächst nur das Ziel, dieses Problemfeld aus der Perspektive der Forschungssubjekte deskriptiv zu erfassen, da es sich um eine weitgehend unerforschten Bereich handelt. Ziel dieses Projektes war es also, einen ersten Überblick über die Probleme der Roma in Österreich mit dem Bereich Schule zu geben. Aus den Erfahrungen von Schulbehörden, LehrerInnen und Betroffenen war bekannt, daß es hier sehr viele Schwierigkeiten gibt. Diese genauer darzustellen und mögliche Ursachen und Lösungsansätze aufzuzeigen, war Ziel dieser Studie. Den Initiatoren der Studie waren zwei Aspekte besonders wichtig, die sich im Design widerspiegeln: Zum einen sollten ganz zentral die betroffenen Roma zu Wort kommen, ihre Sichtweise und ihre konkreten Erfahrungen mit dem Schulsystem. Aber auch ihre Erwartungen an das Schulsystem und ihre Verbesserungswünsche waren etwas, worüber auch die mit der Problematik Befaßten mehr erfahren wollten. Sozialwissenschaftliche Arbeiten zum Thema Roma in Österreich liegen bislang kaum vor, historische, sprachwissenschaftliche und kulturelle Analysen nur in Ansätzen. Auch gibt es kein Zahlenmaterial, das die tatsächliche Schulsituation der Roma-Kinder belegen könnte, da die österreichische Schulstatistik Kinder nur nach Herkunftsländern, nicht aber nach Ethnizität erfaßt. (Zur Problematik der statistischen Erfassung von ausländischen Kindern im Schulsystem vgl. Matuschek 1993).
Sylvia Supper
8. Zwei Fallbeispiele zur Illustration
Zusammenfassung
A. ist mit 8 Jahren mit ihrer Familie aus dem Kosovo nach Wien gekommen. Sie hat noch eine ältere Schwester und drei jünger Geschwister. In Jugoslawien ist sie 1½ Jahre lang in die Schule gegangen und steigt ins österreichische Schulsystem mit der zweiten Klasse ein. Die erste Zeit in der Schule ist gekennzeichnet von starken Verständigungsproblemen, da sie kein Wort Deutsch spricht. In der Schule gilt sie als aufgrund ihrer türkischen Sprachkenntnisse als Türkin. Den Vater bezeichnet sie in der ersten Zeit als sehr engagiert darin, den Kindern Deutsch beizubringen. Mit Gratifikationen bringt er die 5 Kinder dazu, um die Wette Deutsch zu lernen, die Eltern sprechen mit den Kindern aber Romanes. Durch das Üben kommt es dazu, daß die Kinder untereinander fast ausschließlich deutsch sprechen, was sich bis heute erhalten hat. Es sprechen zwar alle Romanes, dies wird aber nur mit den Eltern bzw. anderen Roma gesprochen, mit den Geschwistern spricht man deutsch. Da beide Eltern arbeiten gehen, führt in den ersten Schuljahren von A. ihre ältere Schwester den Haushalt. Diese war bei der Übersiedlung nach Österreich bereits 13 und ging in Österreich nicht mehr zur Schule. Als die Schwester zu arbeiten beginnt, übernimmt A. die Führung des Haushalts und die Betreuung der jüngeren Geschwister. Dies heißt, daß sie nach der Schule keine Zeit fir Hausaufgaben oder Lernen hat, sondern dies erst am Abend, wenn alle anderen schlafen, erledigen kann. Mehr als einmal, so kann sie sich erinnern, schläft sie dabei am Schreibtisch ein. Die Situation in der Schule stabilisiert sich in der vierten Volksschulklasse. Sie spricht mittlerweilen gut deutsch und kann sich auch gegen Mitschüler, die sie wegen ihrer türkischen Abstammung hänseln, zur Wehr setzen.
Sylvia Supper
9. Schlussbemerkungen: Von traditionaler zu postmoderner Orientierung?
Zusammenfassung
Ausgangspunkt diese Arbeit war die Frage wie die Identitätsbildung und -aufrechterhaltung von Roma-Angehörigen konstruiert ist und wie sie von den Betroffenen erlebt wird. Hintergrund dafür bildete die in wissenschaftlicher Literatur zum Thema Migrantlnnen immer wieder behauptet Identitätsverunsicherung bis hin zum Identitätsverlust aufgrund der problematischen Lebensverhältnisse. Neuerdings beschränken sich solche Beobachtungen nicht nur auf Migrantlnnen, sondern werden zum allgemeinen Phänomen in postmodernen Zeiten hochstilisiert. Dahinter steht die Annahme, daß gesellschaftliche Verhältnisse, die gekennzeichnet sind vom Verlust traditioneller Werte und Einbindungen, von Unsicherheit, Differenz und Polyvalenz die Orientierung erschweren und das Selbstbild verunsichern. Eng mit der Identitätsfindung in Zusammenhang stehen Lebensplanung und biographische Perspektiven, die auf diese kulturelle gesellschaftliche Ebene rekurrieren.
Sylvia Supper
Backmatter
Metadaten
Titel
Minderheiten und Identität in einer multikulturellen Gesellschaft
verfasst von
Sylvia Supper
Copyright-Jahr
1999
Verlag
Deutscher Universitätsverlag
Electronic ISBN
978-3-663-08763-2
Print ISBN
978-3-8244-4374-1
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-663-08763-2