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15.12.2016 | Fahrzeugsicherheit | Interview | Online-Artikel

"Immer ältere Fahrzeuge machen uns das Leben schwer"

verfasst von: Markus Bereszewski

10 Min. Lesedauer

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Interviewt wurde:
Prof. Dr.-Ing. Rodolfo Schöneburg

ist Leiter Fahrzeugsicherheit, Betriebsfestigkeit, Korrosionsschutz bei Mercedes-Benz Cars.

Kürzlich veröffentlichte der VDI-FVT-Sicherheitsexpertenrat die neusten Ergebnisse seiner Arbeit. Am Rande der Veranstaltung in Mannheim sprachen wir mit Rodolfo Schöneburg, dem Vorsitzenden der VDI-FVT und Leiter Fahrzeugsicherheit Mercedes-Benz Cars. 

Springer Professional: Sie haben kürzlich einen Statusbericht zur Fahrzeugsicherheit abgegeben. Wie ist die gegenwärtige Lage, vor dem Hintergrund, dass die Zahl der Unfalltoten in den letzten zwei Jahren wieder gestiegen ist?

Rodolfo Schöneburg: In der Tat, es sieht in den letzten Jahren nicht gut aus, was die Entwicklung des Unfallgeschehens und der Unfallopfer in Deutschland angeht. Auch, wenn es in diesem Jahr so scheint, dass eine gewisse Verbesserung gegenüber dem Vorjahr stattfindet, lässt sich nicht leugnen, dass die erwarteten Fortschritte nicht eintreten. In der Auswertung der Statistikdaten des vergangenen Jahres zeigt sich, dass die Stagnation sich nicht nur in Deutschland und Europa breit macht, sondern weltweit.

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Warum ist das Risiko, im Straßenverkehr getötet zu werden immer noch um ein Vielfaches höher als bei Bahn- oder Flugverkehr?

Mobilität in unserem  allgemeinen Verkehrsraum ist deutlich komplexer als Bahn- und Luftverkehr. Es gibt Störgrößen und Einflussfaktoren, die etwa bei Bahn und Flugzeug undenkbar wären. Gravierende Unterschiede sind beispielsweise: kaum räumliche  und zeitliche Trennung der Verkehrsteilnehmer und Verkehrsströme im gemeinsamen Verkehrsraum, querender Verkehr, wetterbedingter Verlust der Quer- und Längsführung, unterschiedliche Geschwindigkeiten, hohe Geschwindigkeitsunterschiede der Verkehrsteilnehmer auf engstem Raum und nur in einer Ebene, unterschiedlichste technologische Stände der Fahrzeuge und unterschiedlichste Verkehrsteilnehmer vom Lkw bis zum Fußgänger. Also, es ist nicht weiter verwunderlich, dass wir im Straßenverkehr alle Hebel in Bewegung setzen müssen, um Verbesserungen zu erzielen. In diesem Jahr, wenn die Zahlen für den Rest des Jahres etwa gleich blieben, kämen wir auf etwa 3300 Verkehrstote. 528 Verkehrstote über dem Zwischenziel bis 2020.

Aber warum können wir kaum noch Verbesserungen erzielen und pendeln immer um rund 3500 Tote pro Jahr?

Der Straßenverkehr ist extrem komplex, vergleichbar mit einem großen Mischpult mit unzähligen Reglern. Manche Regler und Einflussgrößen sind beeinflussbar und verstellbar. Andere wieder nicht. Einzelne Veränderungen am Gesamtsystem wirken spontan auf das Gesamtergebnis, andere erst über einen sehr langen Zeitraum. Und der wirkliche Einfluss auf das Ergebnis ist nur noch schwer zu identifizieren.

Mit der Reduzierung der Verkehrstoten in den vergangenen zwanzig Jahren näherten wir uns offensichtlich mehr und mehr einem Grund- oder Basisrisiko. Es sind immer größere Anstrengungen notwendig, um immer geringere Fortschritte zu erzielen. Zudem überlagern sich verschiedene Einflüsse: Zunehmend sicherere Fahrzeuge stehen einer alternden und damit verletzlicheren Gesellschaft gegenüber. Unsere Aufgabe ist es nun, alle risikomindernden Einflüsse zu stärken und den risikoerhöhenden Faktoren so gut es geht entgegenzuwirken. Dabei reichen fahrzeugseitige Maßnahmen alleine nicht mehr aus. Neben Infrastruktur sind natürlich menschliches Verhalten und das Befolgen von gesetzten Regeln  außerordentlich einflussreiche Themen, die das Unfallgeschehen ganz zentral bestimmen. Wir haben sehr gute Regelungen im Straßenverkehr und wir würden das gesteckte Ziel bis 2020 ganz sicher auch erreichen, wenn alle Verkehrsteilnehmer diese Regeln auch einhalten würden.

Sie sprachen eben von Einflussgrößen, die erst in vielen Jahren ihre Wirkung entfalten. Welche Rolle spielt dabei beispielsweise das Alter der Fahrzeuge?

Diese Frage hat uns seit der VDI-Sicherheitstagung in Berlin im letzten Jahr intensiv beschäftigt: Wie lange dauert es, bis sich moderne Sicherheitstechnik von Fahrzeugen wirklich im Feld auswirkt? Eine Meldung, die uns in diesem Zusammenhang erreicht hat, ist nicht sehr erfreulich. Das Durchschnittsalter von Fahrzeugen steigt immer weiter an. Beim Pkw seit dem Jahr 2000 von 6,9 auf inzwischen 9,2 Jahre. Bei Motorrädern ist der Anstieg noch viel dramatischer: von 6,9 Jahren auf inzwischen 16,6 Jahre. Wenn man nun weiß, dass Pkw bis zu einem Alter von zehn Jahren einen Anteil von 57 Prozent an den 44 Millionen Kraftfahrzeugen auf Deutschlands Straßen haben und diese 57 Prozent aber lediglich für 20 Prozent der getöteten Fahrzeuginsassen stehen, lässt das aufhorchen. Umgekehrt: Nur 23 Prozent der Fahrzeuge sind älter als Baujahr 1998, auf diese entfallen aber 60 Prozent der Pkw-Verkehrstoten. Auch wenn andere Effekte diese Statistik überlagern, ist das ein Zeichen, wie sicher moderne Fahrzeuge heute sind. Fahrzeuge ohne Bremsassistenten, ESP, Gurtstraffer und Seiten- oder Kopfairbags sind nicht mehr zeitgemäß. Ein immer älterer Fahrzeugbestand macht uns hier das Leben schwer.

Sie haben das Unfallgeschehen nach dem Verursacherprinzip näher betrachtet. Was sind die wichtigsten und vielleicht auch überraschendsten Erkenntnisse?

In der Unfallstatistik spielen Nfz beispielsweise, wenn man sich nur auf die getöteten Nfz-Insassen bezieht, kaum eine größere Rolle. Anders sieht es aber aus, wenn man Lkw als Verursacher schwerer oder tödlicher Verletzungen bei Fußgängern, Radfahrern oder auch Pkw betrachtet. Ähnliche Betrachtungen kann man anstellen beim Pkw als Verursacher schwerer oder tödlicher Verletzungen bei Fußgängern und Zweiradfahrern.

Fahrzeuge, die Verursacher tödlicher Verletzungen bei anderen Verkehrsteilnehmern sind, müssen Ihren Beitrag zum Schutz dieser Kategorie leisten. Je größer und schwerer ein Fahrzeug, desto größer wird das Gefahrenpotenzial für den jeweils Schwächeren. Bezogen auf die Fahrleistung ist die Rate der Getöteten pro Milliarde Fahrzeugkilometer bei Nutzfahrzeugen mit 7,3 viel höher als bei Pkw mit 2,8.

Welche Maßnahmen und Handlungsempfehlungen leitet der Expertenrat für die Zukunft  ab und wie viele Verkehrstote können wir dadurch vermeiden, beispielsweise bei Pkw?

Grundannahme ist laut Kfz-Bundesamt, dass die nächsten vier Jahre jeweils  3,2 Millionen Neufahrzeuge in den Markt kommen. Es ist davon auszugehen, dass diese mit moderner Sicherheitstechnik ausgestattet sein werden und Fahrzeuge älterer Baujahre ersetzen. Somit werden  ganz automatisch in 2020  etwa 12,8 Millionen mehr Fahrzeuge mit hohem Sicherheitsstandard im Markt sein. Wenn gleichzeitig der Fahrzeugbestand in Deutschland, wie in den letzten Jahren, pro Jahr um eine Million ansteigt, werden etwa 8,8 Millionen Personenwagen mit schlechterer Performance aus dem Bestand ausscheiden, also etwa 20 Prozent des Bestands. Das ist eine sehr gute Entwicklung, die die Sicherheit auf der Straße verbessert und uns auch aus umweltpolitischen Gründen weiterbringt.

Da wir nicht wissen, welche älteren Personenwagen durch neue ersetzt werden und welche Rolle das unterschiedliche Fahrerprofil der Fahrer älterer Fahrzeuge spielt, kann man etwa davon ausgehen, dass nach vorsichtiger Schätzung im Jahr 2020 etwa 200 bis 300 Verkehrstote weniger auf unseren Straßen zu verzeichnen sein werden – alleine dadurch, dass sich der Fahrzeugbestand durch moderne, sichere Fahrzeuge nach und nach erneuert.

Wie sieht es bei Nfz aus?

Bei einem aktuellen Gesamtbestand von 2,8 Millionen kann man bei 260.000 Neuzulassungen im Jahr 2020 von rund eine Million neuen Lkw auf Deutschlands Straßen ausgehen. Nach vorsichtiger Abschätzung könnte dies dazu führen, dass wir 40 bis 80 Verkehrstote im oder durch das Nfz verursacht weniger haben werden. Die Vorteile durch die Assistenzsysteme sind: geringere Gefahr des Auffahrens auf ein Stauende, Unfallschwere-Minderung beim Stau, weniger Getötete bei Abbiegevorgängen und allgemein weniger Gefahren für Pkw-Insassen, Fußgänger und Radfahrer.

Motorradfahrer gehören zu den gefährdetsten Verkehrsteilnehmern. Was könnten Maßnahmen hier bewirken?

Bei einem Gesamtbestand von 4,2 Millionen  Motorrädern verzeichnen wir pro Jahr etwa 140.000 Neuzulassungen – um das Jahr 2000 waren es noch weit über 200.000. Ab 2017 müssen alle neu zugelassenen Motorräder mit mehr als 125 ccm mit ABS versehen sein. Für Motorräder gehen wir dadurch von weniger als etwa 20 bis 50 getöteten Fahrern aus.

Sie sprachen auch das Verhalten der Verkehrsteilnehmer an. Welches Potenzial schlummert hier?

Nach wie vor ist der Sicherheitsgurt im Pkw der Lebensretter Nummer eins. Es stellt sich die Frage, warum bei unserer hohen Akzeptanz in Deutschland immer noch, wenn man nur die Getöteten bei einem Unfall betrachtet, etwa ein Viertel der Unfallopfer im Pkw nach Untersuchungen der Landesverkehrswacht NRW nicht angegurtet waren? Vermutlich können hier nur Kampagnen und strikte Verfolgung von Nichtbeachtung etwas bewirken. Von den rund 1800 Pkw-Insassen, die 2015 bei Verkehrsunfällen gestorben sind, hätten mehr als 400 überleben können, wenn sie sich angeschnallt hätten. Da eine hundertprozentige Anschnallquote ganz sicher nicht realistisch ist, kann man nach vorsichtiger Schätzung der Landesverkehrswacht NRW von etwa 200 weniger Verkehrstoten pro Jahr ausgehen, wenn sich der Anteil der Nicht-Angeschnallten halbiert. Insofern ist das ein extrem wichtiger Stellhebel, auch hier in Deutschland mit einer doch sehr hohen Gurtanlegequote von deutlich über 90 Prozent.

Ein weites Thema: Die unterschiedliche Befähigung der Verkehrsteilnehmer…

… ist ganz wichtig, denn es ist notwendig, Übung und die Kenntnis zu haben, was moderne Fahrerassistenzen leisten können, und was nicht. Für jüngere und auch für die große Zahl der immer älter werdenden Verkehrsteilnehmer würden Fahrtrainings ganz sicher das Unfallrisiko mindern. Gleiches gilt für die gerade bei älteren Menschen immer beliebter werdenden Pedelecs. Es gilt, Mittel und Wege zu finden, wie man den richtigen Umgang mit seinem Fahrzeug lernt.

Ein Thema, das uns seit langem beschäftigt, sind die Skills der Motorradfahrer. Nach der langen Winterpause ist der Saisonbeginn die kritische Phase im Motorradjahr. Unsere Experten der Berliner Erklärung schätzen, dass durch die verstärkte Teilnahme der genannten Zielgruppen an Trainings etwa  50 bis 80 Verkehrsteilnehmer im Jahr 2020 weniger tödlich verunglücken würden.

Sie sagten auch, dass es besonders wichtig ist, die Schwächsten zu schützen.

Ja, das gewinnt immer mehr an Bedeutung. An den Fahrzeugen wurden in den vergangenen Jahren viele Maßnahmen ergriffen: Aktive Hauben und abgerundete, nachgiebige Strukturen im Stoßbereich haben sicher Wirkung. Ebenso der Bremsassistent bis hin zu autonomen Bremssystemen, die über die Strategie Fahrzeugerneuerung entsprechend Verbreitung finden müssen.

Schwächere Verkehrsteilnehmer können sich aber zusätzlich schützen, indem sie rechtzeitig wahrgenommen werden und indem sie selbst Schutzmaßnahmen ergreifen. Dazu gehören Maßnahmen wie bessere Sichtbarkeit der Fußgänger und Fahrradfahrer, Helmpflicht für Fahrrad- oder mindestens für Pedelec-Fahrer  sowie bessere Sicherheitskleidung für  Motorradfahrer.

Wir schätzen bei besserer Sichtbarkeit der Fußgänger und Fahrradfahrer 40 bis 60 Verkehrstote weniger, bei Helmpflicht, mindestens für Pedelec-Fahrer und Förderung Tragequote allgemein 40 bis 50 weniger Verkehrstote, bei erhöhter Sichtbarkeit des Motorrads und Schutzkleidung 40 bis 60 Verkehrstote weniger.

Eine der größten Gefahren scheint in jüngster Zeit die Ablenkung durch Smartphones. Was kann man hier bewirken?

Das Thema liegt uns besonders am Herzen. Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert unsere gesamte Aufmerksamkeit. Vermeidung einer Ablenkung durch moderne Kommunikation, ist ein zentraler Stellhebel, um schwere Unfälle zu reduzieren. Zunächst sind einmal klare Regeln für die Nutzung von Kommunikationsmitteln erforderlich, wo sie nicht schon vorhanden sind, denken wir an die sogenannten Smombies – also Smartphone-Zombies, die wir inzwischen an jeder Kreuzung antreffen. Sie sind gefährlich für einen selbst und andere, sodass das Thema Vorschriften für mehr Disziplin unabdingbar wird. Nach unserer Meinung sind hier vorsichtig geschätzt Potenziale in der Größenordnung 200 bis 300 weniger Verkehrstoten möglich. Das ist nach Meinung unserer Experten einer der größten Stellhebel zur Senkung der Zahl von Verkehrsunfallopfern.

Was können wir demnach realistisch bis 2020 noch erreichen? 

Auch wenn Expertenschätzungen immer mit einem großen Risiko verbunden sind: Wenn es gelänge, über diese, von uns priorisierten Stellhebel die aufgezeigten Verbesserungen zu erzielen, könnte man 800 bis 1200  Verkehrstote im Jahr 2020 vermeiden. Doch leider gibt es neben den Potenzialen zur Verringerung, die wir abgeschätzt haben, auch noch Risikopotenziale. Diese werden den besprochenen Potenzialen entgegenwirken, beispielsweise weiter steigende Verkehrsleistung, steigende Zahl älterer Verkehrsteilnehmer und damit verbunden eine höhere Verletzlichkeit der Teilnehmer, zunehmender Zeitdruck und Stress im Alltag, mangelnde Verkehrsdisziplin, nicht kalkulierbare Wettereinflüsse. Diese können und werden vermutlich die angestrebte Entwicklung überlagern. Wie groß diese Risiken sind, haben wir im Expertenteam noch nicht abgeschätzt. Um dennoch auf ein akzeptables Niveau in 2020 zu kommen, muss uns allen klar sein, dass keiner der beschriebenen Stellhebel ausgelassen werden darf.

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