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18.01.2024 | Strom | Interview | Online-Artikel

„Investitionen in Verteilnetze müssen attraktiv gemacht werden“

verfasst von: Frank Urbansky

5 Min. Lesedauer

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Die Stromverteilnetze müssen ausgebaut werden. Warum die derzeitigen Kapazitäten nicht ausreichen, erklären Thomas Gläßer, Direktor & Leiter der Solution Group Infrastruktur-Großprojekte bei Atreus, sowie Martin Schulz, Partner & Leiter der Solution Group Energie und Umwelt bei Atreus. Beide sind Initiatoren der Studie „Energiewende und ihre Folgen 2023“.

springerprofessional.de: Wo sehen Sie derzeit das Grundproblem für die unzureichende Kapazität der Stromverteilnetze?

Thomas Gläßer: Das ist nicht nur eine Ursache, sondern mehrere. Wir reden hier immerhin von rund 1,8 Millionen Kilometern an Hoch- und Niederspannungsnetzen, die ausgebaut und ertüchtigt werden müssten. Für diese unzureichende Kapazität haben wir mehrere Hauptgründe ausgemacht.

Martin Schulz: Der erste Punkt ist definitiv das Thema der steigenden Nachfrage. Wir wissen, dass die Energiewende und der Weg zur Klimaneutralität nur über eine massive Elektrifizierung führen. Die Netze sind dafür nicht dimensioniert, dadurch haben wir dann auch ein Lastspitzenproblem.

Der zweite, auch das ist nicht neu, ist die zentrale Energieerzeugung. Wir wissen, dass wir unser ganzes System umstellen müssen, der Consumer wird zum Prosumer. Das bedeutet, dass die Stromverteilnetze ganz anders ausgelegt sein müssen, um die Energie effizient zu verteilen und letztendlich auch zu integrieren. Wir haben also ein Kapazitäts- und ein Intelligenzthema.

Thomas Gläßer: Planungs- und Genehmigungsprozesse sind zeitaufwendig und können den Ausbau stark verzögern. Zwar hat die Bundesregierung Beschleunigungsgesetze initiiert, aber ein Gesetz bedeutet noch nicht, dass alle sofort danach handeln. Und nicht zuletzt ist da der Fachkräftemangel und eine sich verknappende Lieferkette; die Materialien für einen Ausbau der Verteilnetze müssen ja auch her.

Wären die Verteilnetzbetreiber überhaupt in der Lage, den Ausbau aus eigener Kraft zu schaffen?

Martin Schulz: Der erste Knackpunkt ist die Finanzierung. Die Mittel sind begrenzt, und wir sehen nur kleine Modernisierungen. Die Verteilnetzbetreiber sind meist kommunal verwaltet und bilden natürliche Monopole. Die großen sind vielleicht fortschrittlich, aber im Großen und Ganzen hinken viele hinterher, verglichen mit anderen Industrieunternehmen. Und wir brauchen eine neue Art der Zusammenarbeit – Verteilnetzbetreiber, Übertragungsnetzbetreiber, Politik, Kommunen, Gemeinden. Keiner schafft das allein.

Da wir bei der Finanzierung sind: Welche Förderinstrumente wären notwendig?

Thomas Gläßer: Erstens müssen wir Investitionen attraktiv machen. Das zweite sind staatliche Förderprogramme, und das dritte sind allgemeine Finanzierungsinstrumente, die den Verteilnetzbetreibern helfen sollen, den Ausbau zu finanzieren. Das ist besonders wichtig für Kommunen, die finanziell schon angespannt sind.

Gibt es Regionen, in denen sich unzureichende Kapazitäten der Verteilnetze besonders schmerzlich auswirken würden?

Thomas Gläßer: Wenn wir nicht ausbauen und die Kapazitäten nicht steigern, sind vor allem Regionen mit einer hohen Konzentration an erneuerbaren Energien betroffen, wie Norddeutschland mit der Windkraft. Fehlen die Konzepte für die Verteilnetze, um den Strom aufzunehmen, haben wir ein echtes Problem. Wenn die Verteilnetze nicht schnell modernisiert werden, bleiben sie hinter den Übertragungsnetzen zurück.

Welche Regionen sind dagegen besser aufgestellt?

Martin Schulz: Die Ballungszentren wie Berlin, Hamburg, München und andere haben bereits mehr investiert, planen vorausschauend und haben die Ressourcen dafür. Aber der Strombedarf wird um mindestens 30 Prozent steigen – denken Sie nur an die Zunahme der Elektroautos und die nötigen Ladepunkte. Auch diese Städte müssen daher weiter investieren, auch wenn sie momentan besser aufgestellt sind als ländlichere Regionen.

Reichen die derzeitigen politischen Rahmenbedingungen aus, um die Kapazität der Verteilnetze rechtzeitig zu erhöhen?

Martin Schulz: Die Politik hat schon ehrgeizige Ziele für 2030 und 2045 gesetzt. Aber wir sind skeptisch, was die Umsetzung angeht. Wir brauchen eine integrierte Energiewende, die den Strom nicht separat betrachtet. Es geht auch um Gas und Wärme. Schauen Sie sich die Umwandlung von Elektrizität in grüne Gase an, wie Wasserstoff. Alles muss gleichzeitig gedacht werden: die Leitungen, die Erzeugung, der Verbrauch. Wir müssen von einem integrierten Ziel aus rückwärts denken, so entstehen klare und zielgerichtete Gesetze und abgeleitete Aktivitäten. Oft sind wir zu fragmentiert unterwegs, meist mit guter Absicht, aber in der Ausführung manchmal zu halbherzig.

Welche rechtlichen Rahmenbedingungen oder Gesetze müssten also wie geändert werden?

Thomas Gläßer: Wir müssen die Genehmigungsverfahren weiter beschleunigen, die Politik muss hier Prioritäten setzen. Schauen Sie nach Genua in Italien, dort wurde die eingestürzte Brücke in nur einem Jahr neu gebaut. Wir brauchen auch einfachere Planungs- und Koordinierungsprozesse. Alle Beteiligten, von Netzbetreibern bis Kommunen, müssen besser kooperieren, um ein Projekt zu realisieren. Und es sind finanzielle Anreize für den Netzausbau nötig. Der Bund und die Länder müssen sich beteiligen.

Für die Integration erneuerbarer Energien müssen die rechtlichen Bedingungen angepasst werden, zum Beispiel durch Förderung von Speichertechnologien. Die Ausschreibungspraxis muss sich ändern, weg von Angeboten, die nur auf dem Papier günstig sind, hin zu einer transparenten Bonus-Malus-Regelung, die Kooperation fördert.

Wichtig ist, dass wir schnell eine umfassende Analyse und Diskussion mit allen relevanten Akteuren führen, um die richtigen Maßnahmen zu identifizieren. Es muss allen klar werden, dass die Verteilnetze genauso wichtig sind wie die Übertragungsnetze.

Martin Schulz: Wir stecken in einer Abwärtsspirale. Große PV-Anlagen werden gebaut, doch dann wartet man ein Jahr auf den Netzanschluss. Das demotiviert Investoren. Wir müssen die Netze proaktiv ausbauen und für die Zukunft planen. Die Bundesnetzagentur fordert jetzt aktiver Bidirektionalität ein. Das kann bedeuten, die Leistungen zu drosseln, wenn nötig, und dafür dem Verbraucher Anreize zu bieten, wie etwa reduzierte Netzentgelte. Wenn der Endverbraucher nicht sofort Energie benötigt und bereit ist, eine Stunde zu warten, profitieren alle – es ist ein psychologischer und materieller Ansatz, der durchaus Sinn macht. 

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