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2023 | Buch

Kommunikative Gattungen und Events

Zur empirischen Analyse realweltlicher sozialer Situationen in der Kommunikationsgesellschaft

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Über dieses Buch

Der Band versammelt eine Reihe von soziologischen, linguistischen und kommunikationswissenschaftlichen Beiträgen, die kommunikative Gattungen und Events in der Gegenwartsgesellschaft untersuchen. Mit diesen Beiträgen verfolgt der Band mehrere Ziele. Zum einen zeigt er, wie ertragreich noch immer die vor über 30 Jahren entwickelte Analyse kommunikativer Gattungen ist. Wie eine Reihe von Arbeiten zeigen, lässt sie sich, zweitens, auch auf die mediatisierten Formen der Kommunikation anwenden, die sich im Zuge der jüngeren Digitalisierungswelle ausgebildet haben. Im Unterschied zu den zumeist rekonstruktiven Verfahren der Sozialwissenschaft zeichnet sie sich vor allem durch in situ erzeugte und damit hochgradig valide Prozessdaten aus, die nicht wesentlich von den Forschenden diktiert sind, sondern die untersuchten Abläufe im Datenmaterial dokumentieren. Ihr methodologischer Fokus auf realweltliche Praktiken, Handlungsabläufe und Kommunikationsprozesse hat, drittens, einen besonderen Forschungsfokus erzeugt, der sich um das kreist, was als „Event“ bezeichnet werden kann. Neben zahlreichen empirischen Beiträgen enthält der Band auch einige Beiträge, die die Konzepte der Gattung und des Events systematisch darstellen.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter

Einleitung

Frontmatter
Kommunikative Gattungen und Events
Zusammenfassung
In dieser Einleitung skizzieren wir die zentralen Begriffe, theoretischen Bezüge sowie die methodische und methodologische Apparatur der Gattungsanalyse und setzen diese in Bezug zu ihren rezenten empirischen und konzeptuellen Weiterentwicklungen, die in den Beiträgen dieses Sammelbandes dargestellt werden. Eine zentrale Weiterentwicklung resultiert aus Verbindung von kommunikativen Gattungen und Events, die auf eine Betonung des Handlungskontextes zielen, in denen sich Gattungen realisieren und die durch sie zugleich aber auch hervorgebracht werden. Damit wird nicht nur aufgezeigt, wie fruchtbar und anregend die vor rund 40 Jahren entwickelte Analyse kommunikativer Gattungen immer noch ist. Mit der Bezugnahme auf die zunehmende digitale Mediatisierung von Events öffnet sich auch eine neue Perspektive auf die empirische, gattungsanalytische Untersuchung zeitgenössischer Phänomene in der Kommunikationsgesellschaft.
Hubert Knoblauch, Ajit Singh

Kommunikative Gattungen, Sprache, Körper und Räume

Frontmatter
Linguistische Gattungsanalyse am Beispiel des Predigtgebets
Zusammenfassung
Gebete gelten als zentrale Praktiken religiös-kultischer Handlungen und finden als prototypische Form religiöser Kommunikation innerhalb institutionell gerahmter, öffentlicher Ereignisse wie dem Gottesdienst, aber auch in privaten, individuellen Zusammenhängen statt. Dieser Beitrag setzt sich mit einer spezifischen Erscheinungsform des institutionellen Gebets auseinander, die ausschließlich im Rahmen von Gottesdiensten stattfindet: dem Predigtgebet. Mithilfe der theoretischen und methodischen Zugänge der linguistischen Gattungsanalyse, die das Modell der Kommunikativen Gattungen nach Luckmann mit dem Vorgehen und den Erkenntnisinteressen der Interaktionalen Linguistik vereint, fragt der Beitrag nach den typischen und spezifischen Merkmalen dieser Gattung. Anhand von Video- und Audiodaten authentischer Predigtgebete in evangelischen, freikirchlichen und ökumenischen christlichen Gottesdiensten werden die wiederkehrenden multimodalen Realisierungspraktiken von Predigtgebeten herausgearbeitet. Anhand dieser exemplarischen Analyse verdeutlicht der Beitrag die Anknüpfungspunkte zwischen soziologischer und linguistischer Gattungsanalyse.
Carolin Dix, Karin Birkner
Die gemeinsame Zukunft planen in projektiven Gattungen
Zusammenfassung
Der vorliegende Beitrag diskutiert eine spezifische Gattungsfamilie: die Gattungsfamilie der projektiven Gattungen. Mit projektiven Gattungen bearbeiten Interagierende ihre Zukunft: Sie machen Pläne, und sie besprechen ihre konkreten Handlungsvorhaben, die sie allein oder gemeinsam mit anderen umsetzen wollen. Der Beitrag diskutiert anhand von empirischen Beispielen zum einen die Binnenstruktur dieser projektiven Gattungen. Er analysiert – exemplarisch am Beispiel von Wenn-dann-Konstruktionen und dem Einsatz von Modalverben –, welche kommunikativen Formen den Interagierenden für die Bearbeitung von Zukunft und für die Realisierung ihrer Handlungsvorhaben zur Verfügung stehen. Zum anderen diskutiert der Beitrag die Rolle der Außenstruktur: Denn es zeigt sich sowohl eine Arbeitsteilung der geplanten Tätigkeiten wie auch eine kommunikative Arbeitsteilung in der Planung selbst. Das gemeinsame Vorhaben wird durch die kommunikativen Planungsaktivitäten als ein gemeinsames Vorhaben hergestellt.
Ruth Ayaß
Potenziale der Gattungsanalyse für die Gewaltsoziologie
Zusammenfassung
Der theoretische wie methodische Ansatz der kommunikativen Gattungsanalyse bietet ein wissenssoziologisch-interpretatives Verständnis konkreter Interaktionssequenzen. Daher ist dieser Zugang besonders relevant für die Analyse von situativer Gewalt. In diesem Beitrag wird diskutiert, inwiefern diese Perspektive es ermöglicht, Probleme des Situationszentrismus aktueller mikrosoziologischer Gewaltforschung zu adressieren, ohne den Bezug zu den konkreten Interaktionsformen zu verlieren. Die Analyse kommunikativer Gattungen erlaubt es, sowohl die Institutionalisierung als auch die situative Offenheit von Gewaltsequenzen zu berücksichtigen. Dabei hilft sie zu verstehen, wie die Akteure selbst die Gewalt kommunikativ herstellen, aushandeln und institutionalisieren und welche Ressourcen sie hierbei verwenden. Ambiguitäten und Metakonflikte darüber, wo die Grenzen der Gewalt liegen, sind hierbei ein zentraler Bezugspunkt der Analyse. Der Beitrag geht zunächst auf den Gewaltbegriff ein, stellt anschließend exemplarisch die Analyseebenen an Straßenschlägereien dar, um im Schlussteil einen Ausblick auf die Potenziale eines solchen kommunikativ-gattungsanalytischen Forschungsprogrammes für die Gewaltforschung zu diskutieren.
René Tuma
Schnorren und Almosengabe – Bausteine einer wissenssoziologischen Gattungsanalyse des Bettelns
Zusammenfassung
In diesem Kapitel diskutiere ich, wie kommunikatives Handeln (Knoblauch 2017) das konstituiert, was die betroffenen Akteure ‚Schnorren‘ nennen. Schnorren analysiere ich dabei als eine kommunikative Gattung, die zwei unterschiedlichen Akteurstypen, Schnorrer*innen und Spender*innen, für ihr Vorkommen erfordert. Schnorren ist eine hochgradig asymmetrische soziale Interaktionsform: ein*e Akteur*in bittet um Almosen, der*die andere gibt. Die Akteurstypen verfügen im Sinne der Reziprozität der Motive (Schütz 2004) jeweils über verschiedene Um-Zu- (Spendenaufforderungen) und Weil-Motive (Almosengabe) in der Face-to-face-Kommunikation. Empirisch wurde das offene und passive Betteln (Voß 1993) am Wegesrand von Berliner Fußgängerbereichen als fokale Situation beobachtet. Um die Forschungsfrage zu beantworten, wurde im Rahmen eines fokussiert ethnographischen Forschungsdesigns eine wissenssoziologische Gattungsanalyse (Luckmann 1986; Günthner und Knoblauch 1994) als Forschungsheuristik genutzt, die es ermöglichte, das Phänomen auf unterschiedlich soziologisch relevanten Ebenen zu analysieren und zu beschreiben. Im Zentrum stehen vor allem Fotografien und audio-visuelle Daten.
Willi Pröbrock
Demonstration als kommunikative Gattung von „widerständigen Repertoires“
Zusammenfassung
In diesem Beitrag wird eine Form des kollektiven Handelns – nämlich die Demonstration – als kommunikative Gattung untersucht. Dazu wird zunächst eine konzeptionelle Diskussion über die Möglichkeit geführt, die Demonstration als eigene kommunikative Gattung zu begreifen; dann wird mit Hilfe der früheren Beiträge von Charles Tilly die historische Erfindung und Entwicklung der Demonstration erläutert und eine konzeptionelle Verbindung zwischen Tillys Konzept der Repertoires und dem Konzept der kommunikativen Gattungen hergestellt; abschließend wird eine Reihe von gattungsspezifischen Eigenschaften der Demonstration in ihrer klassischsten Form skizziert und entsprechend der dreistufigen Struktur der Gattungsanalyse eine erste Analyse dessen vorgelegt.
Necdet Coskun Aldemir

Kommunikative Gattungen (in) der Wissenschaft

Frontmatter
Gattungsanalyse als wissenschaftsethnographisches Analyseverfahren – Beispielfall Ethnographie des ökonomischen Laboratops
Zusammenfassung
Basierend auf den Ergebnissen und Erkenntnissen der soziologischen Ethnographie des ökonomischen Laboratops (Haus 2021) zeigt der Beitrag auf, dass eine Erweiterung und Flexibilisierung des Verfahrens der wissenssoziologischen Gattungsanalyse ein hohes Potenzial bietet: Einerseits für eine stärkere Anwendung im Bereich der ethnographischen Studien, hier insbesondere im Bereich von Wissenschaftsethnographien, und andererseits als Verfahren für die Analyse von sozialen Veranstaltungen und Events mit stark multimodalem Charakter, in denen technisch-mediatisierten, körperlichen und räumlich-materiellen Aspekten ein zentraler Anteil an der gemeinsamen Sinn- und Wirklichkeitskonstruktion zukommt.
Juliane Haus
Group-Talk: Eine kommunikationssoziologische Gattungsanalyse interdisziplinärer Wissenskommunikation
Zusammenfassung
In diesem Kapitel beschäftige ich mich mit der Frage, wie es Wissenschaftler*innen im Rahmen interdisziplinärer Forschungszusammenhänge möglich ist, ihre Wissenskommunikation so zu gestalten, dass sie über disziplinäre Grenzen hinweg ein gemeinsames Verstehen erzeugen können. Dabei gehe ich von der These aus, dass eine spezifische Kommunikationsweise in der Face-to-face-Kommunikation für die Herstellung von wechselseitigem Verständnis in entsprechenden Konstellationen als konstitutiv betrachtet werden muss. Konkreter Gegenstand meiner Forschung (Wilke 2022), deren Ergebnisse ich in diesem Kapitel summiere, ist die detaillierte Rekonstruktion und Analyse der regelmäßigen Treffen einer Forschungsgruppe im Feld der Computational Neuroscience. Zu diesem Zweck habe ich mich des Verfahrens der wissenssoziologischen Gattungsanalyse bedient, das ich, mit Bezug auf den Kommunikativen Konstruktivismus (Knoblauch 2017) und in Abgrenzung zur früheren, Luckmannschen Gattungsanalyse (Luckmann 1986), als kommunikations soziologische Gattungsanalyse bezeichne.
René Wilke
Science Slam. Eine kommunikative Gattung im Zeichen der Digitalisierung
Zusammenfassung
Dieser Text zeigt, wie sich mit dem Science Slam eine neue Gattung der Wissenschaftskommunikation herausgebildet hat. In der Analyse der Gattung wird verdeutlicht, wie Mediatisierung und Digitalisierung Institutionalisierungsprozesse von Kommunikation gegenwärtig beeinflussen. Gattungen werden heute durch Plattformen geprägt, die durch bestimmte soziotechnische und kapitalistische Geschäftspraktiken gekennzeichnet sind. Im Fall des Science Slams haben sich neue reflexive Modi der Produktion zwischen YouTube und situierten Performanzen etabliert. Algorithmisch generierte und personalisierte Archive beeinflussen die Art und Weise, wie Gattungen in Kopräsenz performativ hergestellt werden. Für die Weiterentwicklung der Gattungsanalyse ergibt sich folglich die Herausforderung, die algorithmische Konstruktion von Wirklichkeit in ihren analytischen Rahmen mitaufzunehmen.
Miira Hill

Kommunikative Gattungen und digitale Mediatisierung

Frontmatter
Säkulare Konversionserzählungen. Eine gattungsanalytische Untersuchung von Weblogeinträgen
Zusammenfassung
Den zentralen Untersuchungsgegenstand des vorliegenden Beitrags bilden Berichte einer eigenerlebten säkularen Konversion, die auf deutschsprachigen Weblogs veröffentlicht wurden. Während konfessionelle Konversionserzählungen bereits vielfältig untersucht wurden, haben säkulare Konversionserzählungen demgegenüber bisher deutlich weniger wissenschaftliche Aufmerksamkeit erfahren. Aufgrund der Vermutung, dass auf Weblogs erschienene säkulare Konversionserzählungen einem überindividuellen Muster folgen, wurden zehn solcher Berichte mit dem auf die Eigenheiten digitalen Materials angepassten methodischen Verfahren der wissenssoziologischen Gattungsanalyse untersucht. Feststellen lässt sich, dass die analysierten Berichte einem einheitlichen Grundmuster folgen und damit Exemplare der kommunikativen Gattung säkulare Konversionserzählung darstellen. Diese Gattung weist dabei große Ähnlichkeiten zur der von Bernd Ulmer (1988) rekonstruierten Gattung der konfessionellen Konversionserzählung auf und stellt eine Lösung für das kommunikative Problem dar, eine bestimmte, als besonders und einschneidend empfundene säkulare Erfahrung plausibel und glaubwürdig als Ursache und Anlass der eigenen Konversion intersubjektiv zu vermitteln.
Annalena Mittlmeier
Kommunikative Gattungen transmedialer Erinnerungskulturen am Beispiel von digitalen Zeitzeug*innenvideos von Holocaust-Überlebenden
Zusammenfassung
In diesem Beitrag setzen wir uns gattungsanalytisch mit digitalen Zeitzeug*innenvideos von Holocaust-Überlebenden auseinander. Als Medienprodukte einer Post-Witness-Era lassen sich an ihnen Transformationsprozesse von Erinnerungskulturen unter digitalen Bedingungen untersuchen. Dabei diskutieren wir die Fragen, wie sich Erinnern an den Holocaust im sozialen Gebrauch der digitalen Zeitzeug*innenvideos realisiert; und ob es sich in dem vorliegenden Fall um die digitale Modifikation einer kommunikativen Gattung handelt. Mittels unserer komparativen, empirischen Analyse von Produkt und Rezeption legen wir dar, wie sich auf den Plattformmedien mit den digitalen Zeitzeug*innenvideos eine kommunikative Gattung transmedialer Erinnerungskulturen herausbildet.
Vivien Sommer, Anja Peltzer

Zur gattungsförmigen Struktur von Events

Frontmatter
Pitch-Events und die Eventisierung unternehmerischer Ökosysteme
Zusammenfassung
Als unternehmerische Ökosysteme werden in der Entrepreneurship- und Management Literatur regionale Kontexte bezeichnet, in denen die Bedingungen für die erfolgreiche Gründung innovativer Startup-Unternehmen vorherrschen und gefördert werden. Teil dieser Ökosysteme sind Events, bei denen die kommunikative Form des Startup Pitches im Vordergrund steht. Bei Pitches handelt es sich um kurze Präsentationen, mit denen Gründende versuchen, Investor*innen von sich und ihren Unternehmen zu überzeugen. Die Pitch-Events können einerseits die Funktion erfüllen, Gründende und Investor*innen in Kontakt zu bringen, andererseits aber auch die Orientierung an unternehmerisch erwirkter Innovation öffentlich darstellen und als räumlich und zeitlich begrenzte soziale Veranstaltungen die Ökosysteme als abstrakte soziale Zusammenhänge performativ stabilisieren. In Auseinandersetzung mit verschiedenen sozialwissenschaftlichen Eventbegriffen und im Anschluss an die Analyse kommunikativer Gattungen und Formen, bestimmt der Beitrag diese Entwicklung als spezifische Form der Eventisierung, wodurch auch eine grundsätzliche Ausweitung dieses gesellschaftsdiagnostischen Konzepts nahegelegt wird.
Lars Mojem
Partizipative Stadtplanung als kommunikatives Ereignis. Über Beteiligungsformate und ihre gattungsförmigen Realisierungen
Zusammenfassung
Der Beitrag behandelt partizipative Stadtplanungsprozesse als kommunikatives Ereignis und verbindet ihre ethnographische Untersuchung mit den Mitteln der soziologischen Gattungsanalyse. Dabei wird die These entwickelt, dass sich eine Vielzahl situativ realisierter kommunikativer Formen und Gattungen im kommunikativen Haushalt von Stadtplanungsprozessen aggregieren, die darauf gerichtet sind, auf die konkrete Veränderung einer weitestgehend ungewissen städtischen Zukunft kommunikativ einzuwirken. Von zentraler Bedeutung ist der Begriff des kommunikativen Formates, der auf die analytische Verbindung binnenstruktureller Merkmale mit den institutionalisierten Außenstrukturen formalisierter und eventisierter Stadtplanung verweist. Kommunikative Formate erfüllen eine Doppelfunktion, indem sie das Problem des kommunikativen Einbezugs der Zivilgesellschaft innerhalb von Events behandeln und zugleich die Legitimation der planenden Organisationen sicherstellen. Partizipative Stadtplanungsprozesse kennzeichnen sich aber auch durch eine kommunikative Reflexivität, mittels derer sich beteiligte Akteure erkennbar machen und ihre Zielvorstellungen in Orientierung an ein langfristiges, voranschreitendes Planungstrajekt gattungsförmig bearbeiten.
Ajit Singh
Paradoxien der Bürgerbeteiligung. Zur kommunikativen Planung partizipativer Events im Rahmen der Stadtentwicklung
Zusammenfassung
Die Rechtslage zur verpflichtenden Bürgerbeteiligung bei Stadtentwicklungsprojekten stellt kommunale Verwaltungen und lokale Akteure vor paradoxale Anforderungen, die Gegenstand unseres Textes sind. Anhand von Sitzungsgesprächen, in denen Bürgerbeteiligungsveranstaltungen zu einem Stadtentwicklungsprojekt in einer süddeutschen Mittelstadt geplant werden, identifizieren wir vier paradoxe Anforderungen an kommunale Verwaltungen, die sich auf ihre öffentliche Legitimation, unvorhersehbare Wissensasymmetrien in der Öffentlichkeit, das bereits bekannte „Partizipationsparadox“ und die Diskrepanz zwischen dem im Beteiligungsgesetz vorausgesetzten mündigen Bürger und seinem Status als Objekt kommunalen Designs beziehen. Die kommunikativen Gattungen, die in den Planungsgesprächen der Bürgerbeteiligungsveranstaltungen vordefiniert werden und diese entsprechend vorstrukturieren, umfassen Gattungsfamilien des „Steuerns“ und „Begrenzens“ sowie des „Einbeziehen“ und „Lernens“. Diese geplante Gattungsstruktur kann als Lösung der kommunalen Verwaltungsakteure für die oben genannten paradoxalen Anforderungen interpretiert werden.
Sebastian Koch, Christian Meyer

Digitalisierte Eventisierung

Frontmatter
Urbi et orbi. Papst Benedikt in Berlin und die Räumlichkeit von Events
Zusammenfassung
Der Beitrag beschäftigt sich mit dem Besuch von Benedikt XVI. 2011 in Berlin. Er erweist sich als mustergültiger Fall für das, was wir soziologisch als „Event“ bezeichnen, der hier mit Blick auf seine Räumlichkeit untersucht werden soll. Trotz der unbestrittenen Rolle der Zeitlichkeit für Ereignisse und Events ist ihr räumlicher Charakter weitgehend ausgeblendet worden. Das bezieht sich nicht nur auf den Raum, in dem das Event stattfindet; es geht auch um den Raum, der durch das Event selbst gebildet wird. Im theoretischen Rahmen des kommunikativen Konstruktivismus rücken damit auch die Medien in den Blick, mit denen Handlungen räumlich vermittelt, also „mediatisiert“ werden. Nachdem die Art und Weise umrissen wurde, wie die räumlichen Aspekte des Papstbesuchs in Berlin geplant und im Stadtraum verortet wurden, verlegen wir unseren Blickwinkel dann in den zentralen Ort der Papstmesse, das Berliner Olympiastadion. Dort werden wir nicht nur die räumliche Ordnung skizzieren, sondern auch einige Formen des kollektiven Handelns, die sich aus dem besonderen religiösen Rahmen wie auch aus dem räumlichen Kontext des Stadions ergeben. Dabei erweisen sich vor allem die Formen der Mediatisierung als folgenreich. Sie prägen nicht nur die Interaktion im Stadium, sondern tragen zur Erzeugung eines übergreifenden Zusammenhangs bei, der mit den verschiedenen Medien unterschiedliche räumliche Formen annimmt.
Hubert Knoblauch
Zur Performanz des Hackens: Videos als Diskursereignisse im Kontext von Hackerevents
Zusammenfassung
Im Zuge der digitalen Evolution haben sich Teile der Hackerkultur mittlerweile zu einer globalen und populären Kommunikationskultur entwickelt, die sich in öffentlichen und politischen Diskursarenen behauptet und legitimiert. Innerhalb sozialwissenschaftlicher Betrachtungen von Hackerkulturen ist jenes neuartige Verhältnis zur Öffentlichkeit bisher weitestgehend unberücksichtigt geblieben. Über eine wissenssoziologische Betrachtung populärer Diskursereignisse auf Video, die im Kontext des größten Hackerevents Europas entstanden sind, lassen sich typische Formen der öffentlichen Selbstdarstellung als Hacker*in sowie Deutungsmuster herausarbeiten, die für das Verständnis des gegenwärtigen Hackerdiskurses grundlegend sind.
Sezgin Sönmez
Eventisiertes Töten
Zusammenfassung
Auf Basis audiovisueller Aufzeichnungen wird die Eventisierung letaler Gewalt anhand von drei Phänomenbereichen untersucht: Erstens werden die Merkmale von Tötungsevents herausgearbeitet. Dies sind planvolle Gewalthandlungen, die monothematisch darauf ausgerichtet sind, in einer für Dritte inszenierten Überbetonung der Tötungsform das Leben sozialer Akteur*innen zu beenden. Zweitens werden Reaction Videos beleuchtet, die wiederum auf Videos Bezug nehmen, in denen als real verhandelte Tötungen zu sehen sind. Tötungsvideos nehmen hierbei den Charakter von ‚Medienevents‘ an. Die Reaktionen auf die aufgezeichneten Gewalthandlungen oszillieren zwischen Abjektion und Faszination und werden mitunter an einen Unterhaltungsaspekt geknüpft. Drittens werden am Beispiel der ‚urbanen Legende‘ der sogenannten Red Rooms das Eventisierungspotenzial des Tötens und die entsprechende Vergemeinschaftung beleuchtet. Abschließend wird das eventisierte Töten als Teilaspekt eines ‚Zeitalters des spektakulären Todes‘ eingeordnet. Diese Eventisierung ist nur unter Berücksichtigung der Mediatisierung des Tötens zu verstehen.
Ekkehard Coenen

Von der digitalen Eventisierung zur Eventisierung des Digitalen

Frontmatter
Finissagen – Die hybride Eventisierung einer Internationalen Bauausstellung am Beispiel der IBA Basel
Zusammenfassung
Die Internationale Bauausstellung Basel schloss ihre zehnjährige Arbeit mit einer Finissage als hybrides Event ab. Die Spezifik dieser besonderen Veranstaltung ist, dass sie sich dadurch als eine Überlappung analoger und digitaler Gattungen charakterisieren lässt. In unserer Analyse rekonstruieren wir die analogen und digitalen Elemente dieser hybriden Eventisierung wie die Einladung zur Veranstaltung, den Imagefilm und den Live-Stream zur Abschlussdiskussion. Dabei explizieren wir zum einen, dass die Eventisierung einer Internationalen Bauausstellung der inhärenten Restriktionen einer ‚ernsthaften‘, informationsgebenden Veranstaltung unterliegt. Zum anderen zeigen wir auf, dass die Kombination analoger Formate in der Vermittlung durch Digitalisierung in dieser hybriden Finissage nicht zusammenpasste.
Michael Wetzels, Vivien Sommer
Cybersecurity Events und die Reflexivität eruptiver Ereignisse
Zusammenfassung
Dieser Beitrag verfolgt ein doppeltes Ziel: Zum einen sensibilisiert er für den soziologisch bis dato unter-berücksichtigten (Forschungs-)Gegenstand der Cyberangriffe, die mit Blick auf ihre seit Jahren attestierte Zunahme eine erhebliche gegenwartsgesellschaftliche Relevanz gewonnen haben – und gewinnen. Als ein soziologischer Zugriff auf ebenjene Phänomene wird – zum anderen – die Ereignis-orientierte Perspektive (Eventful Sociology) vorgestellt, die die historische Prozesskonzeption des Wandels sozialer Wirklichkeit durch die ‚Wirkung‘ eruptiver Events komplementieren kann. Daraus wird schließlich eine heuristische Unterscheidung (reproduzierender und transformativer Vorkommnisse) abgeleitet und schließlich ein Anschluss an die aktuell ruhende Debatte zur Digitalen Risikogesellschaft angedeutet.
Tilo Grenz
The „M.O.A.S.S.“. Memes als kommunikative Gattung digitalkultureller Events. Zur moralischen Verhandlung börsenmarktwirtschaftlichen Handelns
Zusammenfassung
Im Januar 2021 machte die Kursrallye um die Aktie des angeschlagenen amerikanischen Video- und Computerspielhändlers Gamestop weltweit Schlagzeilen. Mit Blick auf die Berichterstattung zeigt sich jedoch, dass die Deutung dessen, was sich hier ereignet hat, heftig umstritten bleibt. Der Beitrag zeichnet im Rahmen einer Gattungsanalyse von – im Rahmen digitaler Feldarbeit erhobener – Postings auf der Social Media Plattform Reddit nach, welche Sichtweise sich auf das Ereignis bei denen rekonstruieren lässt, die hierfür verantwortlich gemacht werden. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der kulturspezifischen Nutzung von Memes und wie sich diese als verfestigtes kommunikatives Muster verstehen lassen, welches die soziale Konstruktion der Geschehnisse um die Kursentwicklungen herum als Event für die daran Teilnehmenden stabilisiert.
Paul Eisewicht
Metadaten
Titel
Kommunikative Gattungen und Events
herausgegeben von
Hubert Knoblauch
Ajit Singh
Copyright-Jahr
2023
Electronic ISBN
978-3-658-41941-7
Print ISBN
978-3-658-41940-0
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-41941-7