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2009 | Buch

Die Macht der Judikative

verfasst von: André Brodocz

Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften

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Über dieses Buch

Vorwort Judikative Macht wird ausgeübt, wenn Gerichtsurteile über die legitime Geltung e- kutiver und legislativer Akte befolgt werden. Judikative Macht setzt damit zunächst zweierlei voraus: Zum einen lassen sich die Handlungen und Entscheidungen der E- kutive und Legislative an etwas bemessen, das ihnen wie eine Verfassung normativ vorangeht. Zum anderen setzt die Macht der Judikative voraus, dass die Entscheidung über die Vereinbarkeit mit einer derart normativ vorrangigen Verfassung schließlich auch einer Verfassungsgerichtsbarkeit obliegt. Wäre die Bedeutung der Verfassung allerdings stets eindeutig oder könnte sie anderweitig ihre Bedeutung kontrollieren, dann ließe sich unter diesen beiden Voraussetzungen noch nicht von einer Macht der Judikative sprechen. Stattdessen handelte es sich genau genommen um die Macht der Verfassung, die durch die Verfassungsgerichtsbarkeit ausgeführt wird. Die Macht der Judikative eröffnet sich deshalb erst unter einer dritten, hinreichenden Voraussetzung: der Unverfügbarkeit der gedeuteten Verfassung über ihre Bedeutung. Erst unter dieser Bedingung wird aus dem bloß den Verfassungssinn vollstreckenden Verfassungs- richt eine souverän über ihre Bedeutung entscheidende Instanz. Die Macht der Judi- tive muss insofern als Deutungsmacht spezifiziert werden. Deren Komplexität, so m- ne erste zentrale These, lässt sich jedoch erst dann analytisch erschließen, wenn d- entsprechend genau zwischen den Ebenen der gedeuteten Verfassung, des deutenden Gerichts und der Deutung selbst unterschieden wird. Obwohl die Judikative auf diese Weise also Deutungsmacht ausüben kann, besitzt sie keine Macht. Denn die Macht der Judikative existiert nur im Moment ihres Vo- zugs. Die judikative Deutungsmacht ist deshalb immer eine Frage der Praxis.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
Kapitel I. Einleitung: Die Macht der Judikative als politischer Faktor
Die Macht der Judikative steht heute als zentraler Faktor des politischen Prozesses außer Frage.1 Aber dies muss nicht unbedingt so sein. Denn in der Geschichte der Demokratie ist die aus der Gewaltenteilung hervorgehende Macht der Judikative zunächst kein politischer Faktor, sondern die unabhängig von der Politik angesiedelte Lösung für Gefahren, die von einer übermächtigen Legislative und Exekutive drohen.2 Sie kontrolliert zwar, dass auch die politischen Institutionen bei ihrer Machtausübung an die von ihnen erlassenen und ausgeführten Gesetze gebunden sind. Solange jedoch in der Demokratie die politischen Institutionen bei der Gesetzgebung nur prozedural, aber nicht materiell eingeschränkt sind, können sie diese Bindungen selbst jederzeit so ändern, dass ihnen von der Judikative keine Einschränkungen drohen.3 Damit die Macht der Judikative als zentraler Faktor des politischen Prozesses wirken kann, muss die Verfassung also die Gesetzgebung der demokratischen Institutionen auch materiell binden. Deshalb wird die Macht der Judikative erst zum zentralen politischen Faktor, wenn sich Demokratien eine über die Regulierung ihrer demokratischen Prozeduren hinausgehende Verfassung geben, an deren Änderbarkeit hohe Anforderungen gesetzt sind, deren Geltung der einfachen Gesetzgebung voran geht und von einem Verfassungsgericht kontrolliert wird: „that is how courts enter the political space.“4
André Brodocz
Kapitel II. Ideengeschichtliche Weichenstellungen für die Macht der Judikative
Judikative Macht ist kein Phänomen moderner Gesellschaften. Sie wird bereits möglich, sobald Handeln kollektiv verbindlich als Recht erwartbar ist. Und sie wird ausgeübt, wenn über dieses Recht im Fall konfligierender Erwartungen geurteilt und ein solches Urteil gegebenenfalls auch gegen die Einsicht der Betroffenen durchgesetzt wird. Liegt die Rechtsprechung in den Händen exekutiver oder legislativer Instanzen, dann verfügen sie über judikative Macht. Judikative Macht benötigt darum keine eigene, von Exekutive und Legislative getrennte Gewalt. So ist die judikative Macht bis in die frühe Neuzeit dementsprechend allein eine spezifische Befugnis von Monarchen, Parlamenten und ihnen untergeordneten Instanzen. Die Macht der Judikative setzt demgegenüber ihre Ausdifferenzierung als unabhängige Gewalt voraus. Dafür muss jedoch die politische Macht überhaupt erst einmal als geteilt, d.h. auf verschiedene Träger verteilt, gedacht werden.
André Brodocz
Kapitel III. Die Macht der Judikative in der politischen Theorie der Gegenwart
Die Macht der Judikative entzweit Ideengeschichte und aktuelle Zeitdiagnose. Auf der einen Seite wiesen die Vordenker einer unabhängigen, gegen die gefährliche Übermacht von Exekutive und Legislative in Stellung gebrachten Judikative noch vehement die Gefahren zurück, die von einer übermächtigen Judikative drohen könnten. Ihre Bindung an den Gesetzestext und vor allem der Mangel an eigenen Sanktionsmitteln erlaubt es der dritten Gewalt nicht, ihren Willen gegen alle Widerstände selbst durchzusetzen. Heute hingegen wird der Judikative nahezu weltweit attestiert, dass sie wie eine regierende Gewalt auf den politischen Prozess einwirkt. Anders als die Institutionen von Legislative und Exekutive gelten vor allem Verfassungsgerichte dabei aber kaum noch als demokratisch kontrolliert. Im politischen Prozess der heutigen Demokratien erscheinen sie deshalb sogar als die einzigen noch unconstrained actors: „The dominant approach in both political science and legal scholarship views courts as the final mover in the legislative sequence: once legislation is passed, courts interpret it, often markedly altering its implementation. In this view, judicial power is paramount. […] If the court is viewed as moving last, its choice is unrestricted and draws no reaction […] Courts acting in this capacity are omnipotent and politically unconstrained by the elected branches.“1
André Brodocz
Kapitel IV. Erste Zwischenbetrachtung: Eine Theorie judikativer Deutungsmacht
Die Macht der Judikative wird am Verfassungsgericht nicht nur gebündelt. Vielmehr „dominiert [in ihm] die Dritte Gewalt.“1 Durch das Verfassungsgericht übt die Judikative Macht aus, sobald seine Entscheidungen das Handeln anderer Institutionen oder Akteure bindend festlegen. „Transitiv“ ist diese Macht,2 weil sie nach außen wirkt, indem andere Institutionen und Akteure dem Willen des Verfassungsgerichts folgen und so in ihrem Handeln beeinflusst werden. Unter verschiedenen, zunächst potentiellen Handlungsverläufen wird auf diese Weise vom Verfassungsgericht ein Verlauf festgelegt, der die anderen Institutionen bindet. Das Verfassungsgericht erhebt demnach einen Anspruch auf die Macht, anderen Institutionen und Akteuren bestimmte Handlungen vorzuschreiben. Folge wird diesen Anweisungen geleistet, solange die beanspruchte Macht als solche auch anerkannt ist. Und ausgeführt werden diese Anweisungen, solange die Anerkennung der zu beanspruchenden Macht erwartet werden kann. Die motivierende Kraft der Macht des Verfassungsgerichts ist darum nicht nur darauf aus, die Adressaten zur Annahme seiner Entscheidungen zu bewegen. Vielmehr muss sie zunächst das Verfassungsgericht selbst dazu motivieren, seine ihm formal zugewiesene Macht überhaupt einzusetzen.3
André Brodocz
Kapitel V. Die Deutungsmacht des Bundesverfassungsgerichts
Der interne Zusammenhang zwischen den symbolischen Voraussetzungen, den instrumentellen Gelegenheitsstrukturen und der institutioneller Praxis bei der Genese, Behauptung und vorläufigen Konsolidierung von Deutungsmacht muss sich an der Rechtsprechungspraxis eines Verfassungsgerichts beweisen. Im folgenden werden darum die Ergebnisse meiner empirischen Analyse zur Deutungsmachtpraxis des Bundesverfassungsgerichts in den fünfziger und siebziger Jahren präsentiert. Für jede Dekade wird dabei zuerst gezeigt, unter welchen symbolischen Voraussetzungen das Bundesverfassungsgericht seine Rechtsprechungspraxis ausübte und inwiefern einzelne Urteile aufgrund seiner instrumentellen Gelegenheitsstruktur weichenstellend für die Genese, Behauptung und Konsolidierung seiner Deutungsmacht gewirkt haben. Die historische Bedeutung dieser einzelnen Entscheidungen als critical junctures für die Genese verfassungsgerichtlicher Autorität steht außer Frage. Dass einzelne Entscheidungen im Rückblick weichenstellend gewirkt haben, liegt aber vor allem daran, dass es dem Bundesverfassungsgericht gelungen ist, diese Weichenstellungen und ihre Folgen in der institutionellen Praxis schließlich auf Dauer zu stellen.1 Für die Verstetigung seiner Deutungsmacht kommt es darum ganz entscheidend darauf an, wie das Bundesverfassungsgericht im Rahmen dieser weichenstellenden Entscheidungen im Einzelnen agierte.
André Brodocz
Kapitel VI. Zweite Zwischenbetrachtung: Die Prozesshaftigkeit der Deutungsmacht
Die empirische Analyse zur Deutungsmacht des Bundesverfassungsgerichts hat vorgeführt, warum sich die Deutungsmacht eines Verfassungsgerichts erst in der Praxis beweist. Denn die Bedeutung der Praxis für die Genese der Deutungsmacht hängt zwar von den symbolischen Voraussetzungen und den instrumentellen Gelegenheitsstrukturen des Verfassungsgerichts ab. Doch die symbolischen Voraussetzungen und instrumentellen Gelegenheitsstrukturen können durch die institutionelle Praxis des Verfassungsgerichts nicht nur verstetigt, sondern auch modifiziert oder sogar transformiert werden. Eine erfolgreich behauptete Deutungsmacht bleibt dabei genauso nicht ohne Rückwirkungen auf die symbolischen Voraussetzungen und instrumentellen Gelegenheitsstrukturen wie eine umstrittene oder gar verloren gegangene Deutungsmacht. Insofern ist Deutungsmacht also immer ein sozialer Prozess, in dem die symbolischen und instrumentellen Bedingungen für die institutionelle Praxis und deren Beitrag zur Verteidigung der erworbenen Deutungsmacht gegen konkurrierende Geltungsansprüche stabilisiert, aber auch transformiert werden können.
André Brodocz
Kapitel VII. Ausblick: Global Governance und die Macht der Judikative
Die territoriale Begrenzbarkeit des Regierens auf den Nationalstaat ist in den letzten zwanzig bis dreißig Jahren an ihre Grenzen gestoßen.1 Die Auswirkungen politischer Entscheidungen überschreiten immer weiter und immer öfter die Territorien, deren wechselseitige Abgrenzung die Organisation von Politik in Nationalstaaten jedoch gerade erst möglich gemacht hat.2 Gleichzeitig verliert die nationalstaatliche Politik dadurch auch die Kontrolle über die Möglichkeitsbedingungen ihrer Entscheidungsspielräume, weil diese immer mehr jenseits ihrer territorialen Grenzen mitbestimmt werden. Dazu hat die von den nationalstaatlichen Regierungen betriebene Politik zweifellos selbst ihren Beitrag geleistet.3 Begünstigt und beschleunigt wird diese Entwicklung jedoch vor allem durch einen Wandel der Kommunikationstechnologien, die nicht nur die räumlichen, sondern auch die zeitlichen Schranken des Handelns zunehmend auflösen.4 Diese Entgrenzung des Regierens bedeutet keinesfalls das Ende territorialer Grenzen für die Politik. Vielmehr kommt es zu einem „Umbau von Begrenzung“,5 in dessen Folge die territorialen Grenzen der Politik kaum noch mit den territorialen Grenzen von Wirtschaft, Kultur, Religion usw. übereinstimmen. Da die Räume gesellschaftlicher Interaktion sich also immer weniger mit den räumlichen Grenzen des Nationalstaats decken, ist diese allgemein als Globalisierung beschriebene Entwicklung genau genommen ein Prozess gesellschaftlicher „Denationalisierung“.6
André Brodocz
Backmatter
Metadaten
Titel
Die Macht der Judikative
verfasst von
André Brodocz
Copyright-Jahr
2009
Verlag
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-531-91656-9
Print ISBN
978-3-531-16758-9
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-531-91656-9