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08.03.2024 | Automatisiertes Fahren | Interview | Online-Artikel

"SAE-Level 5 repräsentiert eher ein theoretisches Maximum"

verfasst von: Christiane Köllner

5 Min. Lesedauer

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Je höher das SAE-Level, desto besser? Doch macht der Einsatz voll-autonomer Autos auf immer volleren Straßen überhaupt Sinn? Jan Reich vom Fraunhofer IESE rät im Interview dazu, besser noch einmal kurz innezuhalten. 

springerprofessional.de: Gibt es eine große Diskrepanz zwischen der Realität und dem Marketing rund um das automatisierte Fahren?

Jan Reich: Ich nehme zumindest wahr, dass es in der Öffentlichkeit schnell den Anschein hat, als stünden wir beim hochautomatisierten Fahren kurz vor dem Durchbruch. Da ist dann zum Beispiel von den Erfolgen der Google-Schwesterfirma Waymo zu lesen oder auch Tesla rührt ordentlich die Werbetrommel für autonomes Fahren. Fakt ist aber: Die Herausforderungen und damit auch, wo wir stehen, hängen von konkreten Anwendungsfällen und der Komplexität des Betriebsbereichs ab. Eine L4-Fahrt in der Rush Hour einer Großstadt wird später Realität als eine L4-Fahrt auf Autobahnen zwischen Logistikzentren. Das heißt, der Grund für die Diskrepanz zwischen Realität und Marketing liegt in der fehlenden Differenzierung der Herausforderungen in konkreten Anwendungsfällen, die durch die SAE-Klassifikation nicht abgebildet wird, gleichzeitig aber das SAE-Level als Marketing-Größe verwendet wird ("Höheres Level = besser"). 

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Die Verantwortungsübertragung vom Fahrenden auf das automatisierte System stellt insbesondere in gemischten Verkehrsumgebungen hohe Anforderungen an die Funktionalität. Mit der systematischen Vorgehensweise aus dem Projekt Verifikation, Validation, Methoden (VVM) soll der Sicherheitsnachweis für den urbanen Raum ermöglicht werden. VVM ist ein Projekt der VDA-Leitinitiative Autonomes und vernetztes Fahren und wird durch Bosch und BMW geleitet.

Ist autonomes Fahren auf Level 5 überhaupt irgendwo möglich? 

Hochautomatisierte Fahrzeuge, die für den Individualverkehr mit der SAE-Level 5 vorgesehen sind, können mit dem heutigen Stand der Technik nicht gebaut werden. Im Gegenteil muss man sich die Frage stellen, ob es überhaupt Bedarfe für Level 5 (sinngemäß "uneingeschränkte automatisierte Fahrt überall auf der Welt") gibt. Das Nutzungsprofil von Fahrzeugen ist auch beim nicht automatisierten Verkehr heute sehr stark begrenzt. Anytime – anywhere, zum Beispiel eine Weltreise durch die widrigsten Bedingungen dieser Welt, machen nur die wenigsten Menschen und würden das auch nicht von einer Maschine erwarten. Die SAE-Klassifikation muss man eher als eine Skala betrachten, die den Anspruch hat, vollständig zu sein, um alle Möglichkeiten benennen zu können. L5 repräsentiert dabei eher ein theoretisches Maximum als ein im Rahmen der Bedarfe erstrebenswertes Ziel. 

Auf welche Use Cases sollten sich Autohersteller bei der Entwicklung automatisierter Fahrzeuge konzentrieren?

Das hängt ausschließlich von den Geschäftsmodellen ab, die Autohersteller in Zukunft umsetzen möchten und welche davon tragfähig sind. Die schnellsten Fortschritte im Hinblick auf die Verkehrssicherheit wird man sicherlich mit automatisierten Funktionen erreichen, die die Schwächen von menschlichen Fahrern kompensieren, der Fahrer selbst aber trotzdem noch die Verantwortung für Verhalten trägt. Das wären ADAS-Systeme, die in die SAE-Level 1 und 2 fallen. Level-3-Systeme wie beispielsweise der Drive Pilot von Mercedes liefern einen erhöhten Komfort für den Fahrer, erfordern aber trotzdem Übernahmefähigkeit der Fahraufgabe mit gewissem zeitlichen Vorlauf. Die typischen Anwendungsfälle für L4-Systeme sind allerdings nicht komfort- oder sicherheitsgetrieben, sondern dadurch, dass es keine Alternative zur Automatisierung gibt. Dies ist überall dort der Fall, wo Fachkräfte fehlen, zum Beispiel im öffentlichen Personennahverkehr, in der Logistik oder auch in der Landwirtschaft. 

Warum sollten wir hinsichtlich der Fortentwicklung automatisierter Fahrzeuge besser noch einmal kurz innehalten? 

Automatisierte Fahrzeuge in dynamischen Umgebungen stellen Sicherheitsingenieure vor erhebliche Herausforderungen, da Technologien wie hochgradige Vernetzung und KI-basierte Software benötigt werden, um gleichzeitig sicher und möglichst performant unterwegs zu sein. Da die Industrie mit der Effektivität von Absicherungsmaßnahmen für diese Technologien wenig Erfahrung hat, ist ein eher konservativeres Vorgehen im Hinblick auf die Akzeptanz von Restrisiken angebracht. Da aus Wirtschaftlichkeitsgründen nicht jedes mögliche Szenario getestet werden kann, muss über die Qualität der Entwicklungs- und Absicherungsprozesse zusätzlich argumentiert werden. Dies benötigt Wissen über die Effektivität von entsprechenden eingesetzten Methoden. Aktuell wurden entsprechende Methoden in Leuchtturmprojekten wie "Pegasus V&V Methoden" entwickelt, die die eine Basis für zulassungsrelevanten Stand der Technik in Deutschland bieten.

Stecken wir auf Level 2+ fest? Inwiefern kann künstliche Intelligenz das autonome Fahren weiter antreiben?

KI-Systeme haben hier auf jeden Fall ein großes Potenzial, allerdings ist KI nicht gleich KI. Das, worüber in der Regel viel gesprochen wird, sind KI-Systeme, die auf Machine-Learning-Verfahren basieren. Sie werden mit großen Datenmengen trainiert und bilden daraus wahrscheinlich mögliche Antworten. Die Krux dabei ist: Ein solches Modell ist aufgrund seiner Komplexität für den Menschen nicht verständlich und dessen Entscheidungen somit nicht nachvollziehbar. Wenn ich bei einem Auto nicht vorhersagen kann, ob es ein Verkehrsschild korrekt wahrnimmt, geht das zu Lasten der Safety. Genau das ist auch ein wichtiges Thema für uns am Fraunhofer IESE; rund um Dependable AI schauen wir gezielt, wie wir KI-Systeme für sicherheitskritische Anwendungen wie der Mobilität entwickeln können. Ein Ansatzpunkt dafür ist etwa unser Uncertainty Wrapper. Dieses System kann quasi an ein KI-System angedockt werden und gibt Auskunft darüber, wie verlässlich das Ergebnis in der aktuellen Situation ist. Welches Level an Verlässlichkeit mindestens erreicht werden muss, ist dann eine andere Frage.

Wird der Straßenverkehr durch das automatisierte Fahren sicherer oder unsicherer?

Auch wenn die Sicherheit oft als Entwicklungsziel für das automatisierte Fahren interpretiert und vermarktet wird, ist die verbesserte Sicherheit selten der Kaufgrund für automatisierte Fahrfunktionen. Je nach Anwendungsfall stehen Komfortzugewinne für menschliche Fahrer oder wirtschaftliche Potenziale, wie zum Beispiel in der Logistik oder dem ÖPNV, im Zentrum. Unabhängig vom Marketing gilt: Die Sicherheit der Fahrfunktion ist eine grundsätzliche Rahmenbedingung, die für das Inverkehrbringen eines jeden automatisierten Fahrsystems nach geltendem EU-Recht erfüllt werden muss. Konkret bedeutet das, dass nur Risiken akzeptabel sind, die nicht höher sind als im menschlichen Referenzsystem. Dies muss im Rahmen eines Sicherheitsnachweises dargelegt werden. Wenn das gelingt, wird durch das automatisierte Fahren der Straßenverkehr sicherer.

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