Die Energiewende in Deutschland stockt – auch aufgrund von sich teilweise widersprechenden politischen Entscheidungen. "Die Akzeptanz und Verbreitung unterschiedlicher Innovationsimpulse, die für ein Gelingen der Transformation des Energiesystems unerlässlich sind, ist v. a. von politischen Maßnahmen abhängig. Ohne entsprechende politische Maßnahmen ist die Energiewende als zielgerichtete Transformation nicht umsetzbar", beschreiben deren Dringlichkeit die Springer-Autoren Annika Arnold und Marco Sonnberger in ihrem Buchkapitel Politik für die Energiewende – Handlungsempfehlungen für die Innovationsimpulse intelligente Infrastrukturen und Bürgerwindanlagen auf Seite 205.
Die Große Koalition wird in ihren letzten Monaten keine drastischen Entscheidungen pro oder contra Energiewende fällen. Das wird erst der neuen Bundesregierung zufallen. Der regierungsnahe ThinkTank Agora Energiewende hat in seiner Studie "The Big Picture" Trends, Ziele und Maßnahmen für die zweite Phase der Transformation des Energiesystems formuliert.
Biomasse-Strategie hat versagt
Neben dem bereits zu großen Teilen umgewandelten Strommarkt gilt das Augenmerk dabei den Bereichen Wärmeversorgung und Verkehr. Gerade Letzterer hinkt den politischen Zielen deutlich hinterher. Den Schwerpunkt sieht die Studie in strombasierten Kraft- und Brennstoffen, da die Biomasse-Strategie, mit der die Bundesregierung ursprünglich Wärme und Verkehr klimafreundlicher machen wollte, nicht aufgegangen sei. Jetzt würden bei Wärme und Verkehr Energieeffizienz und die Nutzung von Wind- und Solarstrom über Elektromobilität und Wärmepumpen im Zentrum stehen – und nach und nach auch strombasierte Heiz- und Kraftstoffe.
Mit 7 "Ds" umreißen die Wissenschaftler und Politologen die aktuellen Trends:
- Degression der Kosten: Wind, Solar und Batterien werden immer günstiger
- Dekarbonisierung: Der Klimawandel zwingt zum Handeln
- Deflation der Energiepreise: Kohle, Öl und Gas bleiben billig, werden aber volatiler
- Dominanz der Fixkosten: Die Energiewelt der Zukunft hat geringe Betriebskosten
- Dezentralität: Die Struktur des neuen Energiesystems ist viel dezentraler
- Digitalisierung: Energie wird smart und vernetzt
- Demokratisierung: Energie betrifft Bürgerinnen und Bürger direkt
Um diese Trends zu unterstützen, empfehlen sie zehn politische Maßnahmen:
- Energiewenderahmen: Durch einen gesetzlichen Rahmen Verlässlichkeit und Planungssicherheit geben
- Europa: Europas Energiewende unterstützen, die deutsche Energiewende europäisch einbetten
- Effizienz: Efficiency First als Leitprinzip für Planungsprozesse und Investitionsentscheidungen verankern
- Erneuerbare Energien: Mit Wind- und Solarenergie die Erneuerbaren Energien im Stromsektor auf 60 Prozent und am Primärenergieverbrauch auf 30 Prozent steigern
- Fossile Energien: Die CO2-intensiven Energieträger Kohle und Öl halbieren, mit der Markteinführung strombasierter Heiz- und Kraftstoffe beginnen
- Abgaben und Umlagen: Steuern, Abgaben, Umlagen und Netzentgelte grundlegend reformieren
- Netze: Stromzielnetz bauen, Wärme- und Gasnetze modernisieren, Verkehr elektrifizieren
- Strommarkt: Einen flexiblen und digitalen Strommarkt organisieren, der Investitionen anreizt
- Industrie: Chancen nutzen, Risiken minimieren: Eine zukunftszugewandte Energiewende-Industriepolitik
- Gemeinschaftswerk: Die Energiewende als Gemeinschaftswerk umsetzen
Diskrepanz offensichtlich
Ob jedoch die neue Bundesregierung ihre Energiepolitik danach ausrichtet, ist vollkommen offen. Augenscheinlich herrscht eine Diskrepanz zwischen der Akzeptanz der Bevölkerung pro Energiewende und einer überaus zögerlichen Haltung der politischen Entscheider. "Bezüglich der Ziele und Motive der Energiewende herrschen seit 2011 – nach den langen Jahren der zähen politischen Kämpfe – unter den großen politischen Parteien in Deutschland weitgehende Einigkeit und in der Gesellschaft ein sehr breiter und stabiler Konsens; und dennoch gibt es weiterhin intensive, nicht selten auch erbitterte politische und gesellschaftliche Diskussionen und Auseinandersetzungen um die richtige Energiewende-Politik", beschreibt dieses Dilemma, mit dem nicht erst die jetzige Bundesregierung lebt, der Springer-Autor Thomas Unnerstall in seinem Buchkapitel Rahmenbedingungen der Energiewende auf Seite 47.