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14.12.2022 | Ergonomie + HMI | Kommentar | Online-Artikel

Features als Fehlfunktionen

verfasst von: Andreas Burkert

5:30 Min. Lesedauer

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Manche Funktionen im Fahrzeug bergen Konfliktpotenzial. Entweder werden sie falsch verstanden und angewendet oder aber sie lenken vom Verkehrsgeschehen ab. Auch Assistenzsysteme spielen oft auf Kosten der Sicherheit va banque.

Vor einem Jahrzehnt etwa wurde es beim Service eines deutschen Automobilherstellers hektisch, als innerhalb weniger Wochen mehrere Kunden eines bestimmten Fahrzeugmodells sich meldeten, um einen Fehler der Elektronik des Schiebedachs anzumerken. Erreichte das Fahrzeug eine bestimmte Geschwindigkeit, schloss sich das Schiebedach – allerdings nur wenige Zentimeter. Dass es sich dabei nicht um eine Fehlfunktion handelt, sondern vielmehr um ein Feature, beruhigte die Kundschaft nicht. Prompt ließ der Hersteller die Funktion umprogrammieren.

Dabei war die Idee hinter der geschwindigkeitsabhängigen Regelung eine Sinnvolle. Störende Windgeräusche sollten auch bei hohen Fahrgeschwindigkeiten vermieden werden. So profan das Problem allerdings seinerzeit schien: Es offenbart schonungslos eine der größten Fehlentwicklungen der Automobilbranche – die Überbelastung der Fahrzeugführer durch einen sogenannten Technik-Overload. Das Problem der Überforderung durch die Technik ist dabei ebenso lange bekannt wie die Erkenntnis, dass nur ein kleiner Teil der Automobilkundschaft weiß, welche Funktionen im Fahrzeug verbaut ist – geschweige denn mit Bestimmtheit sagen kann, wie sie funktioniert.

Bereitschaft für mehr Technik im Automobil sinkt

Herausgefunden hat dies zuletzt das US-amerikanische Marktforschungsunternehmen J.D. Power. Einer vor kurzem durchgeführten Befragung zufolge sind 65 % der Verbraucher nicht in der Lage, "vollautonomes Fahren korrekt zu definieren". Darüber hinaus gibt es viele Autofahrer, "die gar nicht wissen, welche elektronischen Helfer an Bord sind, geschweige denn, wie diese eingestellt werden". So steht es im Beitrag "Zunehmend gefordert und überfordert", den der Automobilzulieferer ZF auf seine Homepage publiziert hat. Es fehlt den meisten schlicht die Kenntnis, wie ein System im Regelkreis funktioniert respektive wie das Zusammenspiel im Gesamtsystem funktioniert.

Und weil dem so ist, hält sich die Bereitschaft der Autofahrer, autonomes Fahren zu nutzen, stark in Grenzen  – ja, ist sogar rückläufig. Zwischen der klaren Ablehnung 0 und der uneingeschränkten Zustimmung 100 für das autonome Fahren, ermittelte J.D. Power einen Indexwert von nur 39. Das sind drei Punkte weniger als noch 2021. Der Glauben oder eben das Vertrauen in das hochautomatisierte Fahren schwindet. Damit wird der Ingenieursleistung allerdings großes Unrecht getan: Denn Assistenzsysteme helfen nachweislich. Vor allem dann, wenn man abgelenkt ist.

Mensch muss Maschine verstehen

Ein Blick in die Unfallstatistiken der vergangenen Jahre zeigt, dass das Abgelenktsein die zweithäufigste Unfallursache ist. So gehen nahezu 90 % aller Unfälle auf menschliches Versagen zurück. Elektronische Assistenzsysteme, die dank diverser Sensoren im Fahrzeug stets die Verkehrslage im Blick haben, können wirksam gegensteuern. Auch, weil moderne Systeme den Aufmerksamkeitsgrad des Fahrers oder der Fahrerin überwacht. Integrierte Cockpit- und Bedienkonzepte sind demnach die Zukunft.

Laut ZF agieren Assistenten dabei deutlich harmonischer, wenn viele Fahrerassistenzfunktionen zusammengeführt sind. "Dann entlasten sie den Fahrer tatsächlich". Aber nur dann, wenn ein intuitiv zu bedienendes Cockpit dazu beiträgt, "dass Mensch und Fahrzeuge wieder eine gemeinsame, klar verständliche Sprache sprechen". Der Zulieferer hält dies insbesondere dann für wichtig, "wenn beim hochautomatisierten Fahren klare Übergaben zwischen Maschine und Mensch die Voraussetzung sind".

Usability ist keine Paradedisziplin der Automobilbranche

Bis dahin allerdings werden noch zahlreiche Kilometer im potenziell tödlichen Blindflug absolviert, weil manche Systeme im Fahrzeug zu sehr die Aufmerksamkeit der Fahrzeugführer beanspruchen. Unverantwortlich lang sind nämlich manche Ablenkungszeiten beim Bedienen verschiedener Funktionen im Automobil. Wer sich heute in ein modernes Automobil setzt, erkennt, dass so gut wie jeden Knopf aus der Fahrerzentrale eliminiert wurde. Seit Tesla mit seiner softwaregetriebenen Funktionsaktivierung vorlegt hat, sind displayorientierte Lösungen im Trend – und eine Gefahr.

Denn wer erst umständlich auf einem großen Tablet der Mittelkonsole die Sitzheizung regulieren muss, wird schon einige Sekunden abgelenkt. Das hat der ADAC gemeinsam mit Wissenschaftlern der Hochschule Augsburg vor Kurzem herausgefunden. Das Fazit: Das Suchen und Finden von Funktionen in Digitalmenüs und Untermenüs führt deshalb nicht selten zu gefährlich langer Ablenkung. Der Fortschritt führt dabei zwangsläufig zu einer Überforderung. Auch, weil die Usability derzeit wohl keine Paradedisziplin der Automobilbranche darstellt.

Riskantes multimediales Verwirrspiel

Auch der ÖAMTC sieht in der digitalen Aufrüstung hohes Konfliktpotenzial: "Die hohe Anzahl an Signalen, die diese Systeme laufend aussenden, können aber auch zur Überforderung und zu Fehlreaktionen hinter dem Steuer führen", sagt ÖAMTC-Verkehrspsychologin Marion Seidenberger. "Der Trend weg vom haptischen Feedback, hin zu berührungsempfindlichen Bildschirmen ist für die Interaktion im Fahrzeug nicht der Weisheit letzter Schluss", lautet die Zusammenfassung des ATZ-Reports Riskantes multimediales Verwirrspiel.

Sind einzelne, losgelöste Interaktionen noch sicher, treibt die Kombination aus Hunderten Funktionen die Komplexität drastisch in die Höhe. Mit fatalen Folgen auch für die Automobilhersteller, die schon jetzt mit der Komplexität an Funktionen und Varianten zu kämpfen haben. Mit der Zunahme der Elektromobilität wird dies laut der Unternehmensberatung Oliver Wyman innerhalb der folgenden drei Jahr noch schlimmer. "Bis 2025 wird die Anzahl der batterieelektrischen Fahrzeuge, die neben den herkömmlichen Verbrennern existieren, die Anzahl der Varianten pro Automobilhersteller weltweit um 50 bis 100 Prozent erhöhen".

Komplexität kostet den Wettbewerbsvorteil

Die Autoren der Studie sind sich sicher, dass "zwischenzeitlich 30 bis 40 Prozent aller OEM-MitarbeiterInnen mit Varianten und der damit verbundenen Komplexität beschäftigt sind". Das führt zu Einschränkungen für die Umgestaltung des Unternehmens sowie beim Implementieren neuer Technologien und neuer Geschäftsmodelle, während gleichzeitig neue Anbieter in der Automobilbranche die Geschwindigkeit der Transformation erhöhen, so Oliver Wyman.

Gelingt es allerdings, die Komplexität zu verringern, profitiert die gesamte Wertschöpfungskette eines Automobilherstellers. "Unsere Erfahrung zeigt, dass die Erfolge umso größer sind, je früher im Produktentwicklungsprozess ein Unternehmen die Komplexität in Angriff nimmt". Dabei profitiert neben der Verkehrssicherheit auch die Kundschaft – vor allem aber die Automobilbranche. Wer lauf Oliver Wyman den Komplexitätscode knackt, "kann nicht nur den Prozess optimieren und die Gewinne zwischen 500 und 750 Euro pro Automobil steigern". Auch die Lieferkette lässt sich verbessern. Die Unternehmensberatung geht davon aus, "dass die Automobilhersteller ihre Gesamtkomplexität bis 2030 um 30 bis 50 Prozent reduzieren werden".

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