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03.08.2023 | Automobilproduktion | Schwerpunkt | Online-Artikel

Automobilproduktion steht vor Paradigmenwechsel

verfasst von: Dieter Beste

6:30 Min. Lesedauer

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Tesla ist mit seinen um den Erdball verteilten Großfabriken eine Verkörperung von Effizienz in der Automobilproduktion. Welche Chancen haben traditionelle Hersteller? Müssen sie dem Beispiel des Herausforderers folgen, um nicht zu weichen? 

Tesla hat beim Landesamt für Umwelt des Landes Brandenburg einen Genehmigungsantrag zur Erweiterung seines Werks in Grünheide gestellt. Die Produktionskapazität des erst Anfang 2022 in Grünheide in Betrieb genommenen ersten europäischen Elektroautomobilwerks des amerikanischen Automobilherstellers soll erweitert werden – von derzeit maximal 500.000 Fahrzeuge auf zukünftig 1.000.000 Fahrzeuge pro Jahr. Mit der Erweiterung soll auch eine Erhöhung der Batteriespeicherproduktionskapazität von derzeit 50 auf zukünftig 100 GWh pro Jahr einhergehen. 

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Produktionsnetzwerke der Automobilindustrie: Ausblick 2030

Automobilhersteller, Zulieferer aller Größenordnungen und die Logistikunternehmen, auf die diese OEMs und Lieferanten sich verlassen, bewegen sich alle auf eine Ära zu, in der Elektromotoren den Verbrennungsmotor ersetzen und Software ein elementarer Faktor ist. Software wird bzw. ist ein zentraler Differenzierungspunkt, der ein Fahrzeug oder einen Hersteller von einem anderen unterscheidet. Inmitten dieses tiefgreifenden Wandels der Automobilindustrie stehen die Lieferketten und Stoffkreisläufe, deren Transparenz und Resilienz, im Mittelpunkt der Wettbewerbsfähigkeit der Automobilhersteller.

Eine neue Ära hat begonnen, in der Elektromotoren im Automobil den Verbrennungsmotor ersetzen und Software zu einem entscheidenden Unterscheidungsmerkmal wird. Noch vor wenigen Jahren belächelt, ist Tesla inzwischen weltweit Taktgeber der automobilen Elektromobilität und eines Paradigmenwechsels, der nicht nur das Automobil selbst betrifft. Auch dessen Produktion unterliegt einem radikalen Wandel. "Elon Musk und sein Team haben eine bemerkenswerte Fertigungseffizienz demonstriert, die weit über das hinausgeht, was bisher in der Branche erreicht wurde", kommentiert Unternehmensberater Thomas Schulz, Geschäftsführer bei Lean Partners und Experte für Lean Production die schier unglaubliche Entwicklung. Schulz hat die Tesla-Methode studiert und mit Insidern gesprochen. Erst kürzlich hat er in einem Gastbeitrag für Springer Professional analysiert, wie Tesla in Grünheide den Produktionsturbo zündet

Für Schulz liegt das Geheimnis der dynamischen Entwicklung von Tesla, diesem Newcomer unter den Autoherstellern, auf der Hand: "innovative Produktionstechniken, Effizienz und Schnelligkeit." Erst kürzlich, berichtet er, hätten Toyota-Ingenieure das Model Y auseinandergenommen "und konnten vor Tesla nur den Hut ziehen. Sie nannten das Model Y ein Kunstwerk, aber das war noch nicht alles. In Zukunft wollen sie sich davon inspirieren lassen". Dabei galt Toyota lange Zeit als absoluter Maßstab in der Automobilproduktion und als Sinnbild für Effizienz.

Schon heute sei Tesla der Konkurrenz um einige Nasenlängen voraus, sagt Schulz. Als wichtigen Baustein des Erfolgs hat er das First Principle Thinking von Elon Musk ausgemacht: "Diese Art des Denkens reduziert ein Problem auf seine grundlegenden Annahmen und Prinzipien und ermöglicht es den beteiligten Entscheidungsträgern, sich auf innovative Lösungen und die Optimierung aller Produktionsprozesse zu konzentrieren." Zum Beispiel auf die Strategie, einzelne Fahrzeugteile und Baugruppen in einem kontinuierlichen Prozess zu reduzieren und zu vereinfachen. Durch die schrittweise Reduzierung sowohl der automatisierten als auch der manuellen Arbeitsinhalte wird nicht nur die Qualität der Fertigung stetig erhöht, sondern gleichzeitig auch die Produktivität (Fahrzeuge pro Mitarbeiterstunde) kontinuierlich verbessert. So hat Tesla beispielsweise die Fertigung des Unterbodens auf das innovative Aluminium-Druckgussverfahren umgestellt, mit dem der hintere Rahmen des Model Y in einem Stück gefertigt werden kann. Im Ergebnis, so Schulz, "konnten dadurch im Vergleich zur konventionellen Fertigung 171 Teile und mehr als 1.600 Schweißnähte ersetzt werden."

Unternehmensberater Schulz ist davon überzeugt, dass Tesla deutschen Herstellern in vielfacher Hinsicht als Beispiel dienen kann. Aber einfach dazu zu raten, einem Vorbild hinterherzulaufen, ist nicht die Sache der Autoren des Buchkapitels Produktionsnetzwerke der Automobilindustrie: Ausblick 2030. Die Springer-Autoren aus der Unternehmensberatung Berylls Strategy Advisors, München, und dem Fraunhofer-Institut für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung, Karlsruhe, analysieren und diskutieren die gegenwärtig sich abzeichnenden Handlungsmöglich- und -notwendigkeiten anhand von sechs sich abzeichnenden Haupttrends, die den Wandel in der Automobilindustrie vorantreiben: 

  • Kürzere Entwicklungszyklen und neue Fertigungstechnologien: Die durchschnittliche Entwicklungszeit eines neuen Fahrzeugs beträgt vier bis sechs Jahre, während neue Smartphone-Modelle nahezu jährlich auf den Markt kommen. Automobilhersteller und -zulieferer sind sich der Notwendigkeit, ihre Entwicklungszeiten zu verkürzen, schmerzlich bewusst. Eine besondere Herausforderung für deutsche Hersteller ist es, mit den Fortschritten im Bereich der Software Schritt zu halten.
  • Reduzierung der Bauteilkomplexität und zunehmende Funktionsintegration: Während Autos technologisch immer anspruchsvoller werden, steigt zugleich die Nachfrage nach einer stärkeren Individualisierung der Fahrzeuge, was die Produktion und die Logistik vor große Herausforderungen stellt. Eine Möglichkeit, diese Herausforderungen anzunehmen, ist eine Reduzierung der Bauteilkomplexität – wie es Tesla beispielhaft vormacht.
  • Vorwärtsintegration der Zulieferer als Marktzugang für Tech-Giganten: In den letzten Jahren hat sich eine wachsende Zahl an sogenannten "Tier 0,5"-Zulieferern im Markt etabliert, die über das klassische Verhältnis zwischen Hersteller und Zulieferer hinausgeht und einen größeren Teil der Vormontage oder sogar das ganze Fahrzeug im Auftrag selbst fertigt. Die zunehmende Vorwärtsintegration der Zulieferer auch in den Volumensegmenten veranlasst die Hersteller, die Wertschöpfung ihrer eigenen Prozesse zu überdenken. Welche Fertigungsschritte sollen sie in Zukunft eigentlich noch selbst abbilden? Wie kann die Wettbewerbsfähigkeit der internen Produktionskapazitäten verbessert werden?
  • Kostengünstige Mobilität einerseits, Individualisierung andererseits: Die Einstellung zum Besitz, zur Nutzung und zum Fahren eines Autos wandelt sich gegenwärtig. Nicht nur in den Industrieländern stellten die Menschen die Frage, ob es noch finanziell sinnvoll sei, ein Auto zu besitzen, das 23 Stunden am Tag nicht bewegt wird. Hinzu kommen Bedenken hinsichtlich Umweltverschmutzung und ökologischer Auswirkungen der Produktion.
  • Nachhaltige Lieferketten und Kreislaufwirtschaft: Strengere Vorschriften für CO2-Emissionen beschleunigen den Übergang von Verbrennungsmotoren zu Elektrofahrzeugen – aber das ist nicht das einzige Thema im Kontext Nachhaltigkeit, das Hersteller und Zulieferer bewegt. Kunden, Investoren und Regierungen erwarteten zunehmend, dass Unternehmen die sozialen, ökologischen und ökonomischen Auswirkungen ihrer Tätigkeit messen und steuern. Das 2021 in Deutschland verabschiedete Lieferkettengesetz verpflichtet Unternehmen beispielsweise dazu, das Risiko von Umweltschäden und Menschenrechtsverletzungen in ihrer gesamten Lieferkette zu minimieren und sieht bei Nichteinhaltung finanzielle Sanktionen vor.
  • Volatilität im Welthandel: Die Lieferketten der Automobilindustrie sollten nicht nur transparenter, sondern auch flexibler und anpassungsfähiger werden. Die Anfälligkeit der globalen Lieferketten wurde beispielsweise durch die Spannungen zwischen Ländern wie den USA und China schon vor der Pandemie offengelegt. Seitdem haben Schließungen im Rahmen der Covid-19-Pandemie und die Verknappung von Schiffskapazitäten auf der ganzen Welt Hersteller und Zulieferer ebenfalls dazu gebracht, die globalen Lieferketten zu überdenken.

Diese sechs Trends werden die Hauptantriebskräfte für den Wandel hin zur künftigen Automobilproduktion sein und weitaus größere Umwälzungen bewirken, als wir sie bisher erlebt haben, sind die Springer-Autoren überzeugt, und sie bringen ihre Vision der künftigen Automobilproduktion in die griffige Unterscheidung von zwei neuen Archetypen von Autofabriken: dem "Scaler" und dem "Customizer". 

Scaler versus Customizer

Die Produktion von Fahrzeugen für das obere Marktsegment muss wesentlich flexibler werden, um den von den Kunden geforderten Grad der Individualisierung auf wirtschaftliche Art erreichen zu können. "Die Customizer-Fabrik wird ein heller, moderner und attraktiver Arbeitsplatz sein. In 15 Jahren werden einfache, sich wiederholende Aufgaben in der Fertigung automatisiert sein und die Menschen, die in der Fabrik arbeiten, werden Robotikspezialisten, Ingenieure und Datenwissenschaftler sein. OEMs und Zulieferer werden zunehmend mit Technologieunternehmen und anderen Branchen konkurrieren, um Mitarbeiter mit diesen Fähigkeiten einzustellen und zu halten." 

Die Produktion von Fahrzeugen für das untere Marktsegment wird von der Notwendigkeit getrieben, die niedrigsten Herstellungskosten zu erreichen. Die Fabrik wird sich mit einem standardisierten Antriebsstrang mit angehängten Rädern und einer Reihe von Kabinen befassen, die auf effizienteste Art und Weise auf das standardisierte Unterteil aufgesetzt werden können. "Im Gegensatz zur Customizer-Fabrik ist der Scaler durch hoch standardisierte Produktionsprozesse gekennzeichnet. Die Fabrik ist dazu da, die von Zulieferern vormontierten Module so effizient wie möglich zu montieren. Wir sind überzeugt, dass diese Module einen höheren Integrationsgrad haben werden als heute bereits – zum Beispiel komplette Achsen oder das komplett vormontierte Batteriesystem. Der Wertschöpfungsanteil der Zulieferer wird weiter steigen, und wie in der Customizer-Fabrik wird die gemeinsame Nutzung von Daten in Echtzeit entscheidend sein, damit der Produktionsprozess funktioniert." 

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