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1993 | Buch

Vernunft und Vernichtung

Zur Philosophie und Soziologie der Moderne

verfasst von: Johannes Weiß

Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften

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Inhaltsverzeichnis

Frontmatter

Zur Einführung

Zur Einführung
Zusammenfassung
Der Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus hat vieles mit sich gerissen: eine komplette Herrschafts-, Sozial- und Wirtschaftsordnung, die in einer bis dahin unbekannten Weise das Leben bis an die Grenzen der Intimität (und darüber hinaus) geregelt und bestimmt hatte; Institutionen und Lebensformen aller Art, die nur unter diesen Rahmenbedingungen entstehen und bestehen konnten; auf diese, und nur auf diese, Verhältnisse eingestellte Mentalitäten, Habitualisierungen, Wertmuster und Bedürfnislagen; Selbstwahrnehmungen, Identitäten und Lebensgeschichten, die sich von den Möglichkeiten und Grenzen dieses Systems her definierten; eine übergreifende „Weltanschauung“ schließlich, deren — hochwissenschaftlicher — Wahrheitsanspruch am Ende selbst diejenigen immer weniger überzeugt hatte, die dieser großen Legitimation so dringend bedurften.
Johannes Weiß

Erster Teil

Frontmatter
I. Die Entzauberung der Welt
Zusammenfassung
Auszugehen ist von der zentralen These, die Weber in vielen Abwandlungen vorgetragen hat und die deshalb auch kaum einem Interpreten entgehen konnte (zur jüngsten Diskussion über die Entwicklung des Entzauberungs-Gedankens im Werk M. Webers vgl. Winckelmann 1980). Sie bezieht sich auf die Bedeutung, welche das Dominantwerden der erfahrungswissenschaftlichen Erkenntnisform für das menschliche Welt- und Selbstverständnis besitzt. “Das Schicksal einer Kulturepoche, die vom Baum der Erkenntnis gegessen hat, ist es, wissen zu müssen, daß wir den Sinn des Weltgeschehens nicht aus dem noch so sehr vervollkommneten Ergebnis seiner Durchforschung ablesen können, sondern ihn selbst zu schaffen imstande sein müssen, daß ‚Weltanschauungen‘ niemals Produkt fortschreitender Erfahrungswissenschaften sein können“ (WL, 154). In einer genauer eingegrenzten und zugleich apodiktischeren Form findet sich die These in dem 15 Jahre später gehaltenen Vortrag über Wissenschaft als Beruf: “Daß Wissenschaft heute ein fachlich betriebener ‚Beruf‘ ist im Dienste der Selbstbesinnung und der Erkenntnis tatsächlicher Zusammenhänge, und nicht eine Heilgüter und Offenbarungen spendende Gnadengabe von Sehern (und) Propheten oder ein Bestandteil des Nachdenkens von Weisen und Philosophen über den Sinn der Welt — das freilich ist eine unentrinnbare Gegebenheit unserer historischen Situation, aus der wir, wenn wir uns selbst treu bleiben, nicht herauskommen können“ (WL, 609; vgl. RS I, 564).
Johannes Weiß
II. Die Soziologie und die Aufhebung der Philosophie
Zusammenfassung
Offenbar ist es den empirischen Sozialwissenschaften (und insbesondere der Soziologie) bisher nicht gelungen, sich ebenso entschieden und überzeugend wie die Naturwissenschaften von ihrer philosophischen Vorgeschichte zu emanzipieren. Dies ist um so bemerkenswerter, als die Begründung der empirischen Soziologie in dieser Hinsicht häufig (wenn nicht geradezu typischerweise) von einer sehr radikalen Annahme begleitet war und ist. Danach soll die Entfaltung dieser Erfahrungswissenschaft nicht nur die Unterlegenheit und Schädlichkeit philosophischen Denkens hinsichtlich eines weiteren Wirklichkeitsbereichs erweisen, sondern das Bedürfnis nach Philosophie überhaupt an der Wurzel treffen und erledigen. Der Gegenstand empirischer Sozialwissenschaft nämlich ist nach dieser Auffassung kein beliebiger weiterer — wenn auch besonders komplexer — aus dem Nachlaß der Philosophie. Vielmehr ist er das von allen metaphysischen Verhüllungen befreite Prinzip (oder subiectum) der Philosophie: der Mensch als gesellschaftliches Wesen oder als „Gesellschaft“1. Daher ist Sozialwissenschaft nicht bloß überlegene Substitution eines — wenn auch noch so zentralen — Teils der Philosophie, sie ist vielmehr die empirische Aufdeckung der Wirklichkeit, Notwendigkeit und Obsoletheit dieser Erkenntnisform schlechthin. Darüber hinaus aber gilt sie in dem Sinne auch als Erbin der Philosophie, daß aus der Erforschung des wirklichen Subjekts aller Philosophie allererst dessen wirkliche Entfaltung entspringen werde.
Johannes Weiß
III. Kant und die Kritik der soziologischen Vernunft
Zusammenfassung
Die nachfolgenden Erörterungen beschäftigen sich mit der Frage, ob es eine an Kant anschließende Begründung und Kritik der Soziologie geben könne. Fürs erste soll allerdings nur geklärt werden, was unter einer ‚Kantischen‘ Begründung und Kritik in diesem Zusammenhang verstanden werden muß und welche Anforderungen demnach an ein derartiges Unternehmen zu richten sind. Ob und in welcher Form diese Anforderungen tatsächlich zu erfüllen sind, wird dann nur noch in einer sehr vorläufigen und umrißhaften Weise erörtert.
Johannes Weiß

Zweiter Teil

Frontmatter
IV. Aufklärung über Arbeit
Bemerkungen und Reflexionen über Christian Jacob Kraus
Zusammenfassung
„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ — so lautet die berühmte Antwort Immanuel Kants auf die Frage: Was ist Aufklärung? aus dem Jahre 1784. Im selben Jahr schreibt Johann Georg Hamann, der dunkelste und dialektischste aller Königsberger Aufklärer, an einen Freund, der ihm das Heft der Berlinischen Monatsschrift mit dem Kantschen Aufsatz zugeschickt hatte und den er mit „Clarissime Domine Politice!“ anredet u.a.:
„Worin besteht nun das Unvermögen oder die Schuld des fälschlich angeklagten Unmündigen? In seiner eigenen Faulheit und Feigheit? Nein, in der Blindheit seines Vormundes, der sich für sehend ausgibt, und eben deshalb alle Schuld verantworten muß. Mit was für Gewissen kann ein Raisonneur und Spekulant hinter den Ofen und in der Schlafmütze den Unmündigen ihre Feigheit vorwerfen, wenn ihr blinder Vormund ein wohldiszipliniertes zahlreiches Heer zum Bürgen seiner Infallibilität und Orthodoxie hat. Wie kann man über die Faulheit solcher Unmündigen spotten, wenn ihr unaufgeklärter und selbstdenkender Vormund, wofür ihn der eximierte Maulaffe des ganzen Schauspiels erklärt, sie nicht einmal für Maschinen, sondern für bloße Schatten seiner Riesengroße ansieht, vor denen er sich gar nicht fürchten darf, weil es seine dienstbaren Geister und die einzigen sind, deren Dasein er glaubt. ... Meine Verklärung der Kantschen Erklärung läuft also darauf hinaus, daß wahre Aufklärung in einem Anfinge des unmündigen Menschen aus einer allerhöchst selbst verschuldeten Vormundschaft bestehe“ (Hamann 1965, 290 ff.).
Johannes Weiß
V. Wider den Universaldespotismus des Geldes: Adam Müllers Kritik der Politischen Ökonomie
Zusammenfassung
Nichts scheint so eindeutig für den weltfremden und anachronistischen, wenn nicht geradezu ideologischen Charakter der romantischen Bewegung zu sprechen wie ihre Vernachlässigung der ökonomischen Fragen und Verhältnisse. Dieses Defizit ist um so auffälliger, als den Romantikern die ökonomischen Aspekte und Bedingungen der von ihnen kritisierten Zustände und Tendenzen sehr bewußt waren. Nicht nur die neue, kapitalistische Ökonomie, sondern das Ökonomische überhaupt erschien ihnen aber offenbar so ganz und gar negativ, daß der romantische Welt- und Existenzentwurf sich — anders als im Fall der Kunst, der Religion und der Moral, aber auch der Wissenschaft und sogar der Politik — in keinem noch so neuartigen Sinne mit ökonomischen Zwecken und Mitteln verbinden ließ1. Daß die romantische Kritik der bürgerlichen Gesellschaft sich nicht im großen Maßstabe und jedenfalls nicht in den Kernbereichen dieser Gesellschaft durchgesetzt hat, erklärt sich, ganz ohne Frage, zu einem guten Teil aus diesem stark unterentwickelten und überwiegend aversiven Verhältnis zur Ökonomie auf seiten ihrer Protagonisten.
Johannes Weiß
VI. Wiederverzauberung der Welt?
Zusammenfassung
Die Behauptung, daß sich in den kulturkritischen und alternativ- oder gegenkulturellen Strömungen der Gegenwart in den westlichen Gesellschaften ein Wiederaufleben romantischer Kulturideale beobachten lasse, ist geradezu zu einem Gemeinplatz in der akademischen und öffentlichen Diskussion geworden. Sie wird häufig in kritischer oder polemischer Absicht, und auch ohne nähere Explikation, vorgetragen (wie z.B. in Richard Löwenthals Rede vom „romantischen Rückfall“), doch kommt es immer häufiger vor, daß die Vertreter jener kulturkritischen Bestrebungen sich selbst ganz ausdrücklich und affirmativ auf die Romantik beziehen. Als „romantisch“ oder „neoromantisch“ gelten in diesem Zusammenhang vor allem:
  • eine kritische oder ablehnende Haltung zur „instrumentellen Rationalität“ im allgemeinen, zur neuzeitlichen Naturwissenschaft und Technik im besonderen; positiv gewendet: die Forderung eines neuen, sympathetischen Verhältnisses des Menschen zur Natur;
  • die Ablehnung funktional ausdifferenzierter, entpersönlichter und bürokratisch geregelter sozialer Handlungszusammenhänge und das Streben nach ganzheitlichen, von starken Gefühlen, persönlicher Zuneigung und völliger Offenheit getragenen sozialen Beziehungen, und zwar nicht nur im kleinen Kreise, sondern auch auf gesamt- und sogar weltgesellschaftlicher Ebene;
  • ein emphatischer Glaube an die Legitimität und die Wahrheit der unmittelbaren Gefühle des einzelnen sowie an die heilende Kraft des Gesprächs;
  • eine neue Offenheit gegenüber religiösen und insbesondere gegenüber mystischen und magischen Erfahrungen und Praktiken;
  • die Wiederentdeckung des Sinnlichen und Malerischen in der Kunst; darüber hinaus das Streben nach dem „Gesamtkunstwerk“, aber auch nach einer Ästhetisierung oder Poetisierung des Alltagslebens;
  • die Wiederkehr des geschichtlichen Bewußtseins, bei der sich die Absage an unilineare bzw. deterministische Fortschrittsmodelle nicht selten zu einer Verklärung vormoderner Zustände steigert.
Johannes Weiß
VII. Instrumentelle Vernunft und romantisches Bewußtsein
Eine These
Zusammenfassung
Unter den gegebenen intellektuellen und sozio-kulturellen Bedingungen erweist sich jeder Versuch, die instrumentelle Vernunft als solche — also nicht bloß einen bestimmten Gebrauch, der von ihr gemacht wird — zu kritisieren, bei näherer Betrachtung entweder als schlecht begründet oder selbst als Ausdruck und Funktion instrumenteller Vernunft oder aber als „romantisch“. Diese einfache, aber hoffentlich nicht triviale These möchte ich im folgenden erläutern und begründen.
Johannes Weiß
VIII. Gedankliche Radikalität und gesellschaftliche Macht
Zusammenfassung
Es ist in der Soziologie eine verbreitete, keineswegs etwa auf die materialistische Theorietradition beschränkte Auffassung, daß in gesellschaftlichen und politischen Machtkonflikten den „Ideen“ zwar häufig eine wichtige und gelegentlich auch unverzichtbare, jedoch grundsätzlich keine im Wortsinne entscheidende Bedeutung für die relative Durchsetzungskraft der einen oder anderen Partei zukomme. Letzteres anzunehmen, gilt als antiempirisch und geradezu „idealistisch“ oder „spiritualistisch“, zumindest aber als anti-soziologisch, da dabei etwas anderes als die „eigentlich“ gesellschaftlichen Realfaktoren zu Erklärungszwecken beansprucht werde1.
Johannes Weiß
IX. Über die Irreversibilität des okzidentalen Rationalisierungsprozesses
Zusammenfassung
Ein bekannter Einwand gegen Max Webers Analysen zum okzidentalen Rationalisierungsprozeß lautet, daß diese Analysen es zwar erlaubten, die negativen Aspekte und Folgen dieses Prozesses — insbesondere im Hinblick auf die Chancen der Entfaltung von Freiheit und Persönlichkeit — zu identifizieren, zugleich aber diesem Prozeß eine eherne Notwendigkeit und Irreversibilität zuschrieben. Für diese, wie es heißt, ‚fatalistische‘ Position Webers werden in der Hauptsache die folgenden beiden Erklärungen gegeben:
Auf der einen Seite wird behauptet, eine individualistische Handlungstheorie sei prinzipiell außerstande, umfassende geschichtlich-gesellschaftliche Entwicklungen in einer offenen und kritischen Weise zu erfassen. Sie habe es nur mit derivativen Tatbeständen auf der subjektiven oder Erscheinungs-Ebene zu tun und reiche mit ihren Begriffen und Erklärungen nicht an die Kräfte heran, die das gesellschaftliche Ganze bestimmen.
Johannes Weiß
X. Antinomien der Moderne
Zusammenfassung
Die moderne okzidentale Kultur ist eine, zugleich aber existiert sie in einer Vielzahl von nationalen Modifikationen. Das gilt sogar für die am meisten universale ihrer Sphären, die Wissenschaft, so daß man, vor allem natürlich in den Geistes- und Sozialwissenschaften, sehr deutliche Unterschiede bei den wissenschaftsinternen Verkehrs- und Kommunikationsformen beobachten kann. Hierher gehört die Beobachtung, daß amerikanische Referenten zur Eröffnung ihres Vortrags, also zum Zwecke der captatio benevolentiae, einen Witz zum besten zu geben pflegen, wohingegen ihre deutschen Kolleginnen und Kollegen es vorziehen, mit einer Definition (oder einer ganzen Serie von Definitionen) zu beginnen.
Johannes Weiß
XI. Die moderne europäische Kultur und die Grenzen der Globalisierung
Zusammenfassung
Die moderne europäische Kultur ist von Anfang an mit der Überzeugung verknüpft gewesen, daß sie in einer sonst und bis dahin ganz unbekannten Weise universelle Bedeutung habe und beanspruchen könne. Dieser Anspruch auf universelle Bedeutung ist nicht das Produkt sekundärer Reflexion oder Interpretation, er ist vielmehr eine, vielleicht die idée directrice dieser Kultur. Auch ist er strikt zu unterscheiden von jenem Bewußtsein der Überlegenheit, der exzeptionellen, ja singulären Bedeutung und ‚Wahrheit‘, das allen Kulturen, jedenfalls allen Hochoder Weltkulturen zu eigen ist und das sich — wenn nicht immer, so doch sehr häufig — mit einer ausdrücklichen Ablehnung der Universalisierung, also mit kultureller und sozialer Abschließung,verbindet. Das — programmatische — Axiom der modernen europäischen Kultur lautet nämlich, daß ihre Ideen, Normen und Institutionen grundsätzlich von jedem Menschen in ihrer Wahrheit oder Richtigkeit eingesehen und genau deshalb von jedem Menschen akzeptiert und übernommen werden könnten oder müßten. Tatsächlich wird diese universelle Zugänglichkeit und Verifizierbarkeit der diese Kultur tragenden Einsichten (und damit der Umstand, daß deren Verbreitung auf Zwang und Gewalt ganz verzichten kann) als deren differentia specifica und als eigentlicher bzw. schlagendster Beweis ihrer Überlegenheit verstanden.
Johannes Weiß
XII. Kulturelle Kristallisation, post-histoire und Postmoderne
Zusammenfassung
Wer in den vergangenen Jahren die Diskussion über die „Postmoderne“ verfolgt hat, wird des öfteren, wenn nicht unablässig, das Gefühl gehabt haben, Altbekanntes — in mehr oder minder neuem Sprachgewande oder in neuer Beleuchtung — zu hören oder zu lesen. Sofern er sich gelegentlich mit dem Werk Arnold Gehlens beschäftigt hat, werden zu den sich aufdrängenden Erinnerungen mit Sicherheit die Überlegungen dieses Philosophen und Soziologen über kulturelle Kristallisation und post-histoire gehören. Der Tatbestand, daß eine der Abhandlungen Gehlens (Über kulturelle Kristallisation) jetzt in eine repräsentative und, nach Meinung des Herausgebers Wolfgang Welsch, durchgehend „hochkarätige“ Textsammlung aufgenommen wurde, wird ihn deshalb als solcher nicht überraschen. Allerdings wird es ihn irritieren, daß Gehlen durch diese Aufnahme in eine repräsentative Sammlung für eine Diskussion vereinnahmt wird, deren Prämissen er (Gehlen) glaubte hinter sich gelassen zu haben. Ganz ohne Frage hätte Gehlen ja diese Diskussion wenigstens zu großen Teilen der heftig bewegten Oberfläche der Spätkultur zugerechnet, und so hat diese Eingliederung in den Kreis eminenter Postmoderne-Theoretiker durchaus etwas von einer — am Ende typisch postmodernen — Neutralisierung an sich.
Johannes Weiß
XIII. Der Fortschritt und der Tod
Zusammenfassung
Hat der „in der okzidentalen Kultur durch Jahrtausende fortgesetzte Entzauberungsprozeß und überhaupt: (der) ‚Fortschritt‘, dem die Wissenschaft als Glied und Triebkraft mitangehört, irgendeinen über (das) rein Praktische und Technische hinausgehenden Sinn?“ Diese Frage stellt, Gedanken Leo Tolstois paraphrasierend, Max Weber in der in seinen letzten Lebensjahren entstandenen Abhandlung Wissenschaft als Beruf (WL, 594). Bedenkenswert erscheint Weber vor allem, wie Tolstoi seine negative Antwort auf diese Frage begründet. Danach ist die Sinnentleerung des geschichtlichen Fortschritts eine nicht beabsichtigte, aber doch unausweichliche Folge des Tatbestandes, daß mit diesem Fortschritt (als Idee und als Wirklichkeit) der individuelle Tod jeden Sinn verliere, „weil ja das zivilisierte, in den ‚Fortschritt‘, in das Unendliche hineingestellte Leben seinem eigenen immanenten Sinn nach kein Ende haben dürfe. Denn es liegt ja immer noch ein weiterer Fortschritt vor dem, der darin steht; niemand, der stirbt, steht auf der Höhe, welcher in der Unendlichkeit liegt“.
Johannes Weiß
Exkurs
Beisichselbstsein. Über die deutsche Gemütlichkeit
Zusammenfassung
Eigentümliche sprachliche Ausdrücke sind kein hinreichendes und nicht einmal ein immer anzutreffendes Indiz für eigentümliche Sachverhalte. Doch können für die Soziologie, und zwar nicht nur in der Ideologienlehre oder Ideologiekritik, auch „objektiv“ realitätslose Begriffe ein interessantes Studienobjekt abgeben. Insofern ist es schon beachtenswert, daß die deutschen Ausdrücke „gemütlich“ und „Gemütlichkeit“ in ihrer heutigen Bedeutung in kaum einer anderen Sprache ein genaues Äquivalent besitzen. Diese Einsicht ist nicht neu, sondern fast so alt wie diese Ausdrücke (in der fraglichen Bedeutung und Verwendungsweise) selbst. „Unser neueres, uns so unentbehrliches gemütlich“, so heißt es im Grimmschen Wörterbuch (1985, 3330), “erscheint wirklich erst im 18. Jahrhundert ausgebildet und zwar spät, wie ja auch der engere Begriff von Gemüt, der beide Worte nun beherrscht, sich als sehr jung erwies.“ Nach Ansätzen im Umkreis der Pietisten und Herrenhuter sei das Wort „gemütlich“ im Laufe des 18. Jahrhunderts immer mehr in Gebrauch gekommen und schließlich, nach 1790, vor allem von Goethe „aus dem Hausdeutsch seiner Umgebung aufgenommen“ und in die deutsche Schriftsprache eingeführt worden. Erst später sei es dann z.B. in die schwedische und die niederländische Sprache eingewandert.
Johannes Weiß

Dritter Teil

Frontmatter
XIV. Rationalität als Kommunikabilität
Zusammenfassung
Die folgenden Bemerkungen sollen zur Verständigung über ein sehr altes, sehr komplexes und auch gegenwärtig noch sehr kontrovers diskutiertes Problem beitragen. Sie stellen keine neuen Entdeckungen vor, sondern versuchen, eine bestimmte Position etwas eingehender als üblich zu explizieren und zu begründen. Dabei soll diese Position allerdings nach Möglichkeit vom Odium der Einseitigkeit befreit und auf ihre fundamentale Übereinstimmung mit vermeintlich ganz konträren Auffassungen hin ausgelegt werden. Insofern geht es also — jedenfalls auf längere Sicht — über eine bessere Verständigung hinaus um die Beförderung von Einverständnis.
Johannes Weiß
XV. Verständigungsorientierung und Kritik
Zur Theorie des kommunikativen Handelns von Jürgen Habermas
Zusammenfassung
Die anfängliche Aufnahme und Behandlung dieses Buches durch einige Vertreter der scientific community und der Kulturabteilungen der Medien wäre wohl geeignet, einem befähigten Autor als Vorlage für eine geradezu aristophanische Komödie zu dienen. Es wäre die Geschichte, wie die hochgemuten Wahrheitsansprüche einer Theorie, die die Bedingungen und die Notwendigkeit eines „verständigungsorientierten“ Handelns darlegt, durchaus nicht erörtert und der kritischen Prüfung unterzogen werden, sondern an der Unfähigkeit und der fehlenden Bereitschaft zur Kommunikation abprallen. Allerdings würde zum Aufbau und zur Dramaturgie dieser Geschichte auch gehören, wie durch sibyllinische Andeutungen, programmatische Ankündigungen, vorläufige Bemerkungen etc. über die Jahre hinweg sowohl die Erwartungen wie der Widerwille gegenüber dem großen Projekt so hoch getrieben werden, daß die Disposition zur sachlichen Auseinandersetzung fortschreitend schwindet. Wenn dann das endlich vorgelegte Werk sich dazu noch — was das bloße Volumen, vor allem aber den Sprach- und Argumentationsstil betrifft — durchaus esoterisch darbietet, sind alle Voraussetzungen für ein extraordinäres „Ereignis“ auf dem Buchmarkt ebenso gegeben wie für eine ganz äußerlich bleibende und aus den heterogensten und idiosynkratischsten Motiven gespeiste Abfertigung.
Johannes Weiß
XVI. Probleme einer Verwissenschaftlichung der sozialen Lebenswelt
Zusammenfassung
Der Enthusiasmus, mit dem Karl Mannheim die Notwendigkeit und die wohltätigen Wirkungen einer durchgreifenden soziologischen Rationalisierung sowohl der „äußeren gesellschaftlichen Umformung“ als auch des „inneren Umbaus der Menschen“ (1967, 267) propagierte, war schon zu seiner Zeit sehr ungewöhnlich und erstaunlich. Die großen praktisch-politischen Hoffnungen, die die Gründerväter der empirischen Sozialwissenschaft im 19. Jahrhundert (von Saint-Simon über Comte und Marx bis zu Durkheim) gehegt hatten, hatten sich in der Zwischenzeit keineswegs erfüllt, und nichts sprach für die Vermutung, daß ihre Erfüllung zügig voranschreite. Tatsächlich behauptete Mannheim dies auch nicht, doch erwartete er eine völlige Veränderung der Situation, sobald sich die Soziologie nach Maßgabe seiner eigenen Vorstellungen von dieser Wissenschaft umgebildet habe.
Johannes Weiß
XVII. Die Soziologie und die Krise der westlichen Kultur
Zusammenfassung
Die Auffassung, daß die moderne Soziologie als „Krisenwissenschaft“ (René König) entstanden sei, kann wohl als opinio commuais gelten. Nun sind opiniones communes nicht immer bloße Vorteile oder nützliche Fiktionen, und nicht immer führt eine genauere und voraussetzungslose Untersuchung zu ihrer Destruktion und zu ungeahnten neuen Einsichten. Im gegebenen Falle glaube ich tatsächlich, daß die überkommene Auffassung sehr viel Wahrheit enthält, und zwar nicht nur im Hinblick auf den Entstehungskontext der Soziologie, sondern auch hinsichtlich ihres Rechtfertigungskontextes: Die Soziologie ist nicht nur als faktische Folge und Funktion einer tiefreichenden Krisenerfahrung aufzufassen, sie hat ihre Notwendigkeit und ihre spezifischen Aufgaben vielmehr nur durch einen expliziten und sehr betonten Bezug auf jene Krisenerfahrung aufweisen und rechtfertigen können. Nur als Krisenerscheinung konnte sich die Soziologie durchsetzen, und dies gilt ganz unabhängig von der Frage, ob und in welchem Maße die behauptete Krise tatsächlich existierte oder aber — völlig oder zumindest in ihrer radikalisierten und dramatisierten Auffassung — als Artefakt der Sozialtheoretiker verstanden werden muß. Keineswegs nur in der Frühgeschichte der Soziologie, sondern auch in ihrer weiteren Entwicklung bis in die Gegenwart hinein läßt sich beobachten, daß sowohl das Selbstbewußtsein und das Selbstvertrauen als auch die öffentliche Resonanz und Wirksamkeit der Soziologie an die Annahme gebunden sind, diese Wissenschaft werde für die Erforschung und Überwindung einer umfassenden „Krise der Gesellschaft“ dringend gebraucht. Auf diese große Aufgabe bezieht sich die Deutung der Soziologie als Schlüssel- und Führungswissenschaft des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts, und offenbar ist es sehr schwierig, die Soziologie auf der Basis bescheidenerer und weniger dramatischer Ansprüche und Erwartungen zuverlässig und dauerhaft als Wissenschaft eigenen Rechts zu erhalten. Die vielgenannte neueste „Krise“ der Soziologie hat ganz offensichtlich damit zu tun, daß sich die Soziologie nicht mehr überzeugend als „Krisenwissenschaft“ in diesem Sinne interpretieren läßt, weil ihr die Kompetenz oder aber die Krise selbst abhanden gekommen ist (vgl. Kap. XVIII).
Johannes Weiß
XVIII. Die Normalität als Krise
Zusammenfassung
Am Beginn ihrer Geschichte war die empirische Sozialwissenschaft ein nicht nur vieles, sondern ein buchstäblich alles versprechendes Projekt. Keine andere Erfahrungswissenschaft ist mit einem so weitreichenden Anspruch in die Welt getreten und mit so hohen Erwartungen konfrontiert worden. Dies hängt unmittelbar damit zusammen, daß sie sich so spät, ja als letzte unter den Erfahrungswissenschaften herausbildete und durchsetzte. Die überlegene kognitive Leistungsfähigkeit und dann auch technische Nutzbarkeit erfahrungswissenschaftlicher Rationalität hatte sich an der naturwissenschaftlichen Forschung in sehr beeindruckender Weise gezeigt, und es lag nahe anzunehmen, daß diese Erkenntnisweise zu noch großartigeren Einsichten und Handlungschancen führen müsse, wenn sie nun auch auf die gesellschaftliche Realität angewendet würde.
Johannes Weiß
XIX. Der östliche Marxismus und die Soziologie
Zusammenfassung
Unter „östlichem Marxismus“ werden die Formen des Historischen Materialismus verstanden, die in der Sowjetunion nach der Oktoberrevolution und in den sozialistischen Ländern Mittel- und Osteuropas als offizielle und verbindliche Doktrin der herrschenden kommunistischen Parteien etabliert worden sind. Die übliche und durchaus adäquate Selbstbezeichnung des östlichen (oder Sowjet-)Marxismus, und zwar auch in seiner stalinistischen Variante, lautet „Marxismus-Leninismus“.
Johannes Weiß
Backmatter
Metadaten
Titel
Vernunft und Vernichtung
verfasst von
Johannes Weiß
Copyright-Jahr
1993
Verlag
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-322-94241-8
Print ISBN
978-3-531-12475-9
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-322-94241-8