Der Digitalverband Bitkom setzt sich für Decentralized Finance, also ein blockchainbasiertes Finanzsystem ein. Das soll künftig ohne Banken oder andere Zahlungsdienstleister funktionieren. Doch hierfür sind noch viele Aufgaben zu bewältigen.
Ein dezentralen Finanzsystem, das auf der Blockchain-Technologie aufbaut, ist keine neue Erfindung. "Die Grundidee besteht darin, ein dezentrales Zahlungssystem zu entwerfen, das ohne 'vertrauenswürdige Dritte', also Finanzinstitutionen wie Zentral- und Geschäftsbanken, auskommen", schreiben Philipp Schuster, Erik Theissen und Marliese Uhrig-Homburg im Beitrag "Finanzwirtschaftliche Anwendungen der Blockchain-Technologie" (Schmalenbachs Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung, Ausgabe 2 | 2020). Es werde zudem im Hinblick auf Kryptowährungen darüber diskutiert, inwieweit sie die Abwicklung von Wertpapiergeschäften revolutionieren könnten. "Ebenso wurden weitreichende Auswirkungen auf die Corporate Governance börsennotierter Unternehmen prognostiziert", erläutern die Autoren.
Decentralized Finance bietet großes Potenzial
Auch für den Digitalverband Bitkom steht fest, dass Decentralized Finance "enormes disruptives Potenzial" hat. Dabei handelt es sich laut Patrick Hansen, Bereichsleiter Blockchain im Verband, nicht um ein einzelnes konkretes Projekt. Der Begriff stehe "für eine Vielzahl von Ideen und Projekten, die ein neues dezentrales, transparentes und dadurch vertrauenswürdiges Finanzsystem aufbauen wollen". Dieses stecke "aber insgesamt noch in den Kinderschuhen".
Für eine Reihe von "technischen, wirtschaftlichen und regulatorischen Fragen müssen noch passende Antworten gefunden werden", so der Blockchain-Experte. In einem aktuellen Infopapier "Decentralized Finance – A new Fintech Revolution?" hat der Verband die jüngsten Entwicklungen und Herausforderungen zusammengefasst.
Bitcoin und Ethereum als Basis
Die technische Grundlage von Decentralized Finance bilden dem zufolge die Kryptowährungen Bitcoin und Ethereum. Beide basieren auf der Blockchain-Technologie. Ethereum ermögliche aufgrund einer eingebauten Programmiersprache erstmals sogenannte Smart Contracts. Mit diesen können zum Beispiel bei einer Transaktion Auszahlungsbedingungen hinterlegt werden. Liegen die vereinbarten Voraussetzungen vor, werden diese automatisch ohne das Eingreifen Dritter wie einer Bank und ohne Manipulationsmöglichkeiten ausgeführt.
Die Blockchain als digitales Kassenbuch
"Eine Blockchain stellt eine Art Kassenbuch dar, das es ermöglicht, Informationen zu erfassen und zu verfolgen, seien es Informationen über Finanztransaktionen wie in Kryptowährungsanwendungen oder Informationen über anderes von Wert", erklären Schuster, Theissen und Uhrig-Homburg die Struktur hinter dieser Technologie. Allerdings setze es ein Verständnis der wesentlichen Merkmale dieses Kassenbuchs voraus, um das Potential der Blockchain-Technologie verstehen zu können.
Erstens organisiert die Blockchain Informationen in Form einer stetig wachsenden Liste von zeitgestempelten Datensätzen, zu der wir Daten hinzufügen, nicht aber frühere Daten darin ändern oder löschen können. Dies bedeutet nun nicht, dass das System nicht aktualisiert werden kann. Anstatt jedoch einen bestehenden Eintrag zu überschreiben, wird die Änderung an sich gespeichert, was zu einem neuen separaten zeitgestempelten Eintrag führt. Die Datenstruktur enthält also immer die komplette Historie."
Blockchain bietet Betrugssicherheit
Auf den ersten Blick erscheine diese Art der Organisation und Speicherung von Daten umständlich und speicherintensiv, fördere aber die Transparenz und die Betrugssicherheit. Ein solches Kassenbuch, das nur das Hinzufügen von Daten erlaubt, aber das Ändern oder Löschen von Daten verbietet, werde als "appendonly ledger" bezeichnet.
Zweitens ist eine Blockchain ein dezentrales System. Im Gegensatz zu einem klassischen Kassenbuch, das Daten auf einem einzigen System speichert und das von einer zentralen Instanz gepflegt wird, sind die Informationen bei einer Blockchain auf eine große Anzahl von Netzwerkteilnehmern, sogenannte Knoten, verteilt. Diese Knoten – man stelle sich diese als Computer vor – vertrauen sich nicht vollständig. Gleichwohl gelingt es durch einen klugen Mechanismus, dass das Kassenbuch über diese Knoten repliziert wird. Im Ergebnis gibt es auf einer Vielzahl von Computern weltweit identische Kopien der gesamten Transaktionshistorie. Es erscheint intuitiv, dass diese dezentrale Art der Datenorganisation dazu beiträgt, Angriffe zu verhindern und Vertrauen in die Daten zu schaffen", so die Autoren.
Jede einzelne Transaktion ist transparent
Genau das macht das neue Finanzsystem auch für den Bitkom interessant, sagt Julian Grigo, Leiter Digital Banking & Financial Services im Bitkom. "Der entscheidende Unterschied zum bestehenden Finanzsystem ist nicht nur, dass sich jeder unabhängig von Herkunft oder sozialem Status beteiligen kann. Auch jede einzelne Transaktion in diesem Finanzsystem ist transparent.".
Zugleich verweist der Verband aber auch auf offenen Fragen und Herausforderungen von Decentralized Finance. "Dazu gehören technische Risiken, etwa durch Programmierfehler von Smart Contracts. Aber auch eine komplizierte Bedienung, die mögliche Nutzer abschreckt, oder der Einfluss der Mutterorganisationen einzelner Projekte auf noch nicht vollständig dezentrale technische Lösungen", so der Bitkom in seinem Infopapier.
Liquiditätsengpässe, Skalierbarkeit und Regulatorik werfen Fragen auf
Zudem müssten die Folgen von mangelnder Skalierbarkeit und Liquiditätsengpässen wie etwa zu Beginn der Corona-Krise sowie die Frage der Regulierung noch stärker in den Blick genommen werden. "Decentralized Finance hat noch einen langen Weg vor sich, aber enormes Potenzial", betont Grigo. Völlig unklar sei derzeit aber noch, wie dezentrale Finanzsysteme überhaupt reguliert werden können und wie sich etablierte Finanzdienstleister "zu dieser stark wachsenden Technologie" positionieren.