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2013 | Buch

Führen lernen

Der Weg zur Führungskompetenz und zur persönlichen Karriere-Strategie

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Über dieses Buch

Führen kann man nicht unterrichten, aber lernen. So lautet das Credo des Coachingexperten Peter Gräser. Er schildert, was Führung von Menschen und Leitung von Organisationen heute bedeutet und wie der Leser die notwendigen Führungskompetenzen erwerben kann. Die Darstellung der Lernziele, -Settings und Methoden schafft die Basis für die persönliche Führungs- und Karriere-Strategie. Der Autor verfolgt einen integralen Ansatz, der Führungskompetenz und Karriere-Strategie umfasst. Er beschreibt alle zentralen Aspekte der individuellen Führungskompetenz und stellt dar, wie sie entwickelt und gestärkt werden kann. So erhält der Leser praktische Modelle und Methoden für die eigene lebenslange Weiterentwicklung von Kompetenz und Karriere.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter

Grundprinzipien der Führung

Frontmatter
1. Führung begreifen

Um uns mit der Frage beschäftigen zu können, wie Führung erlernt werden kann, ist es notwendig zu klären, was denn gelernt werden soll. Präziser müssen wir formulieren: wie wir den Lerngegenstand verstehen, sowohl aus praktischer wie aus theoretischer Perspektive. Dabei begreifen wir Theorie im ursprünglichen Sinn als Betrachten, als gedankenvolle Schau. Keinesfalls kann es darum gehen, eine „Theorie der Führung“ im Sinne eines systematischen Regelwerkes zu erstellen, denn eine solche Theorie kann und wird es niemals geben. „It’s as Braque once said about art is also true of leadership: ,The only thing that matters in art is the part that cannot be explained‘.“1, stellen Bennis undNanus nach intensiver Beschäftigung mitTheorien von Führung fest.

Peter Gräser
2. Führung als soziales Emergenz-Phänomen

Führung ist ein soziales Phänomen. Sie emergiert1 immer und überall dort, wo Menschen eineGemeinschaft bilden, umzusammen Ziele zu erreichen, die ihnen als einzelnHandelnde verschlossen sind. Führung existiert nicht losgelöst von lebendigenMenschen und ihrer Organisation. Dabei meint Organisation nicht irgendein Abstraktum, ein Unternehmen oder eine Institution, sondern besteht ausschließlich im andauernden, lebendigen Prozess menschlichen sich Organisierens.

Damit wird klar: Führung ist selbst ein ebenso permanenter wie persistenter Prozess. Führung entsteht nicht nur immer wieder – nicht notwendigerweise neu! –, sondern sie ist selbst aktiver, richtunggebender Teil des sozialen Ordnungsprozesses.

Peter Gräser
3. Führung und Organisation

Führung und Organisation bedingen sich nicht nur, sie bringen sich gegenseitig hervor. Daher ist zum Verständnis von Führung ein Blick auf das Wesen von Organisation hilfreich.

Peter Gräser
4. Führen: Wirken durch andere

Neben den ethischen Aspekten hat die Führung für Menschen einen ganz praktischen Sinn: Führen heißt nichts anderes, als durch andere zu wirken. Das heißt, die Aufgabe des Führenden ist, andere wirksam werden zu lassen, damit gemeinsame Ziele erreicht werden. Dies betrifft in erster Hinsicht die Mitarbeiter, aber bei näherer Betrachtung ebenso auch Kollegen und Vorgesetzte, Lieferanten und Kunden, also alle, die unmittelbar oder mittelbar durch dasWirken einer Führungskraft betroffen sind.

Damit kommen wir wieder zurück zum Kern von Führung, den interpersonalen Prozessen, wie in Abb. 4.1 symbolisiert. Führung als Wirken durch andere bedeutet zwangsläufig, durch Führung auf Andere einzuwirken – so, dass das organisationale Handeln tatsächlich ein gemeinschaftliches wird, das stetig dem Erwirken der gemeinsamen Ziele dient.

Peter Gräser
5. Macht

Führen heißt, durch andere zu wirken.Dann ist Führung die Ausübung von sozialer Macht, Macht durch Andere bedingt die Macht über Andere. Ein Teil der Macht einer Führungskraft ist nicht personal gebunden, sondern – sofern es sich um eine bereits bestehende Organisation handelt, was in der Regel der Fall ist – institutionalisiert. D. h. sie gehört entsprechend der Organisationsstruktur zur Rolle bzw. Position des Führenden. Macht ist vor allem aber Macht zu etwas.

Macht ist die wesentliche Voraussetzung dafür, dass überhaupt etwas bewirkt wird. Ohne Macht bewirken Führungskräfte nichts – was sie als solche überflüssig macht. Ohne die notwendige Fokussierung der organisationalen Macht in und durch Führende kommt das Machtpotential einer Organisation nicht zur Wirkung – die ganze Gemeinschaft bewirkt, trotz aller Anstrengungen, letztlich nichts.

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6. Sozialkapital von Führung: Vertrauen

Die Basis einer Führungsbeziehung ist Vertrauen. Dabei dürfen wir uns Führungsbeziehungen nicht statisch vorstellen. Beziehungen entwickeln sich – wenn es gut geht – und sie werden immer wieder in Frage gestellt. „Beziehungskrisen“ sind unvermeidlich – Beziehungen wachsen oder zerbrechen daran. Ihr Zerbrechen ist oftmals Konsequenz eines Strukturfehlers in der Beziehung, der in der Regel bereits bei der Beziehungsaufnahme angelegt wurde. Dieses gilt es so früh wie möglich zu erkennen.

Beziehungen sind – in jeweils sehr individuellen Grenzen – fehlertolerant. Sie erlauben Fehler; ihre aktive Gestaltung dient dazu, (Struktur-)Fehler zu erkennen, die gegenseitigen Erwartungen zu klären und damit der Steigerung der Fehlertoleranz. Je mehr dasVertrauen wächst – dadurch, dass man sich in der Entwicklung der Beziehung immer besser kennen lernt, dadurch, dass man gemeinsamwichtige Erfahrungen gemacht,Krisen gemeistert und Positives durcheinander erfahren hat – desto robuster wird die Beziehung.

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7. Scharlatanerie als Mittel zur Komplexitätsreduktion

Angesichts der Komplexität des Phänomens Führung ist das Bedürfnis der Menschen groß, mittels Vereinfachungen schnell und mit geringem Aufwand zu operationalisierbaren Lösungen zu kommen. Das Bedürfnis nach Kochbüchern mit einfachen Rezepten, an dieman sich Schritt für Schritt halten kann, wird noch unterstützt durch die Tatsache, dass es für den Komplex Führung kaum Ausbildungsmöglichkeiten gibt. Aber komplexe Fragestellungen lassen sich grundsätzlich nicht durch Simplifizierungen lösen.

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8. Einsamkeit der Führenden

Führen bedingt Einsamkeit. Das meint nicht, einsam Entscheidungen zu treffen, im Gegenteil. Je mehr Menschen bei einer Entscheidung durch gute und sachrelevante Beiträge mitwirken, desto besser. Es bedeutet stattdessen, dass Entscheidungen einsammachen,weil wir als Führende die Verantwortung dafür alleine tragen müssen. Stellt sich eine Entscheidung als richtig heraus, stehen viele bereit, uns vom Erfolg zu „entlasten“. Wenn es uns gelingt, unseren Anteil daran zu verteidigen, wird das meiste Lob vergiftet sein vom Neid der anderen. Erweist sie sich als falsch, gibt es keine größere Einsamkeit als die desjenigen, der sie getroffen hat – und der die Charakterstärke besitzt, dazu zu stehen. Zuweilen kann es sehr lange dauern, bis eine Entscheidung sich als richtig herausstellt. In der Zwischenzeit mag es oft so scheinen, als sei sie falsch gewesen. Und es wird kein Mangel an Menschen bestehen, die nicht müde werden, genau darauf hinzuweisen. Die Früchte seiner Entscheidungen wird nur derjenige ernten, der sie trifft und zu ihnen steht. Aber nicht alle Früchte sind süß. Die vielleicht bitterste Frucht ist die Einsamkeit. Sie gilt es auszuhalten.

Peter Gräser
9. Selbst-Führung – der Weg aus dem Hamsterrad

Wenn Sherman die zeitgemäße Vorstellung von Führung einem überkommenen Modell gegenüberstellt, greift er zurück auf ein „Führungshandbuch“, das nicht gerade jüngsten Datums ist. Jenseits der angelsächsischen Methode, Veränderungen immer mit dem Rückgriff auf alte Traditionen zu begründen, deutet sich hier bereits an, dass es Führungsgrundsätze gibt, die eine gewisse überzeitliche Universalität besitzen, weil sie sich aus der conditio humana selbst ergeben. Zu diesen Grundsätzen gehört, dass Führung – in letzter Konsequenz – immer auf freiwilliger Gefolgschaft beruht. Man mag hiergegen einwenden, dass es schließlich auch Zwangsregime gebe, in denenman keine andereWahl habe, als sich zu unterwerfen. Doch dieser Einwand kann keine Geltung für sich beanspruchen. Jeder Mensch hat immer eine Wahl, im Zweifelsfall eine Wahl zwischen zwei äußerst unattraktiven Alternativen wie der zwischen Unterwerfung einerseits und Folter, Qual und Tod andererseits. Die Frage ist nicht, ob diese Wahl besteht, sondern ob ich diese Freiheit zur Wahl und meine Verantwortung für meine Wahl akzeptiere.

Peter Gräser
10. Respekt und Autorität – Orientierung und Sicherheit

Viele Menschen, beileibe nicht nur Führende, fordern Respekt und Autorität ein, ohne daran zu denken, dassman sie nicht fordern kann. Siewerden einemvonAnderen wieAuszeichnungen verliehen – wennman sie sich durch gute Selbst-Führung erarbeitet. Selbst in Zeiten, in denen das gesellschaftlich anerkannte Paradigma institutionalisierte Respektlosigkeit zu sein scheint, ist das so. Menschen haben Respekt – die Frage ist immer nur: Wovor?

Peter Gräser
11. Führung und Management

Führung und Management bezeichnen unterschiedliche Aspekte der Leitung einer Organisation oder einer Organisationseinheit. Beides, Führung undManagement werden im Rahmen der Führungskräfte-Ausbildung adressiert, denn sie sind keine unvereinbaren Gegensätze, sondern sich ergänzende Seiten derselben Medaille. Seit längerer Zeit wird in der wissenschaftlichen wie nicht-wissenschaftlichen Publizistik einKampf gefochten, ob denn Führung oder Management das angemesseneKonzept für die Leitung von Organisationen und ihren Teileinheiten sei. Dieser Streit hat sich geradezu zu einem Kampf der Ideologien entwickelt.

Peter Gräser
12. Führung und Karriere

Gute Führung zeichnet sich durchWirksamkeit aus. Damit gute Führung wirksam werden kann, müssen die Führenden auf Positionen gelangen, von denen her sie wirksam werden können. Gute Führung und Karriere sind kein Widerspruch, sondern sie bedingen sich gegenseitig.Wer Führungskräften Karriere-Ambitionen oder gar ihre wirklichen Karrieren vorwirft, handelt widersinnig.

Mit Blick auf die eigene Karriere-Strategie sind regelmäßig Selbstbefragungen notwendig. Die Kernfragen lauten:

• Wie weit will ich mich durch eine Führungskarriere von den Herausforderungen meines Fachgebiets entfernen?

• Inwieweit bin ich bereit, mich meinen persönlichen Entwicklungsherausforderungen zu stellen und meine persönlichen Ressourcen in Führen Lernen zu investieren?

Peter Gräser
13. Führungsethos

ImFolgenden wird es umTugenden und Haltungen, persönliche Eigenschaften undWerte gehen, die Führungserfolg ermöglichen und befördern. Die Fokussierung auf den Führungserfolg, das Erreichen der jeweiligen Führungsziele und dadurch der Organisationsziele reicht allein nicht aus, um wirklich gute Führung zu gewährleisten. Um die Voraussetzungen für gute Führungen zu schaffen, bedarf es einer ethischen Begründung des Führungs- wie des organisationalen Handelns überhaupt.

Peter Gräser
14. Führungsausbildung

Nach der Lektüre des bisher Dargelegten wird mancher geneigte Leser zu der Auffassung kommen, dass das Thema Führung reichlich kompliziert ist. Wir haben uns zwar nachKräften bemüht, dasKomplexe so einfach wiemöglich darzustellen, aber wir kommen nicht umhin zuzugeben, dass wir dabei immer wieder an eine natürlich Grenze gestoßen sind: eben die Komplexität des Themas selbst. Daher gestatten wir uns an dieser Stelle den Hinweis, dass in einer Welt, die immer stärker in ihrer eigenen Komplexität wahrgenommen wird, nur derjenige reüssieren können wird, der auch in der Lage ist, mit eben dieser Komplexität umzugehen. Insofern ist die Beschäftigungmit demThema Führung hier und jetzt auch in dieser Hinsicht gleichermaßen eine übende Vorbereitung auf die Komplexität der Realität wie eine stichhaltige Begründung für eine fundierte Ausbildung.

Peter Gräser

Führung im 21. Jahrhundert

Frontmatter
15. Willkommen in der Welt, wie sie wirklich ist

„Unternehmensführung in einer komplexen Welt“ lautet der Titel der IBM Global CEO Study aus dem Jahre 2010. Viermal wurde die Global CEO Study bereits durchgeführt. Bei den letzten drei Malen bezeichneten die CEOs übereinstimmend die Fähigkeit, Veränderungen zumeistern, als dringlichste Herausforderung. Dieses Mal brachten unsere Gespräche eine neue vorrangige Herausforderung zutage: Komplexität. Die CEOs sind der Meinung, dass die Welt, in der sie agieren, sehr viel dynamischer, unsicherer und komplexer geworden ist. Viele teilen die Ansicht, dass schrittweise realisierte Veränderungen in einerWelt, die völlig anders funktioniert als bisher, nicht mehr genügen. [...] Die Komplexität wird künftig weiter zunehmen, und mehr als die Hälfte der CEOs hat Zweifel, ob sie diese Komplexität beherrschen können.

Peter Gräser
16. Der Kontext von Führung – die Welt, in der wir leben

Schlagen wir zunächst einmal einen großen Bogen: von der neolithischen Revolution bis heute. Das Neolithikum, die Jungsteinzeit, markiert eine der wichtigsten Phasen der Menschheitsgeschichte. Mit dem Begriff der Revolution sind wir in den letzten Jahrzehnten recht inflatorisch umgegangen. Außerdem müssen wir konzedieren, dass wir gewohnt sind, als Revolution Prozesse zu bezeichnen, die – gemeinhin – kürzer sind als ein Zeitraum von ca. 5000 Jahren, was in etwa 145 Generationen entspricht. Dennoch, kaum eine Veränderung des sozialen, ökonomischen, kulturellen und politischen Lebens in der Menschheitsgeschichte war so tiefgreifend wie die neolithische Revolution und die nachfolgende „Neolithisierung“: Aus den bisher in kleinen Horden und Familienverbänden umherziehenden Menschen, die sich ausschließlich von der Jagd und dem Sammeln essbarer Pflanzen und Früchte ernährten, wurden sesshafte Ackerbauern und Viehzüchter.

Peter Gräser
17. Unterspülte Fundamente

Wesentliche Fundamente unserer abendländischen Kultur ruhen auf dem Boden des antiken Griechenlands. In jener Zeit begann die Entwicklung einer Vorstellung, die in den folgenden Jahrhunderten immer mehr verfeinert und verbreitet wurde; sie ist die Grundlage dafür, dass wir heute nicht mehr wie noch wenige Generationen vor uns, in zugigen, dunklen Katen hausen und uns vonGerstenbrei ernähren,wehrlos ausgesetzt denMächten der Natur und dem vermeintlichenWillen der Götter.

Peter Gräser
18. Sicherheit und Stabilität als unwahrscheinlicher Grenzfall

Auch wenn die Hoffnungen der Menschen und die wissenschaftlich-philosophischen Ideologien über Jahrhunderte anderes postuliert haben: Sicherheit und Stabilität sind ein Grenzfall. Das Gleichgewicht, gleich ob physikalisches, soziales, wirtschaftliches oder politisches, ist ein temporärer Ausnahmezustand derWelt. Nicht nur dieWirtschaft, dieWelt als solche ist ein dynamisches, „offenes Ungleichgewichtssystem“1 . Sie ist in ständiger Entwicklung begriffen, und diese Entwicklung ist keinesfalls auf ein vorher festgelegtes Ziel, etwa die Erfüllung eines von einem Schöpfer angelegten göttlichen Heilsplans ausgerichtet. Außerhalb der Köpfe von Ideologen hat die wirklich stattfindendeGeschichte kein Endziel. Zielgerichtet ist allein menschliches Handeln – wenn überhaupt.Wenn wir bereit sind, die Wirklichkeit der Welt so zu akzeptieren, wie sie ist, ohne sie in reduktionistische Modelle zu pressen, die wir gerade noch mathematisieren können, und ohne uns lange bei vom unserem Wunschdenken bestimmten Illusionen aufzuhalten, können wir bedeutenden Schritt von den Abgründen unserer Ängste entfernen.

Peter Gräser
19. Get the big picture

„Die neuen Manager setzen auf Kopieren statt Kapieren“ – so überschreibt Sebastian Matthes sein Wirtschaftswoche-Interview mit dem Leiter des Rheingold-Instituts, Stephan Grünewald. Laut Grünewald „fühlt sich dieManagergeneration um die 40 so orientierungslos und unsicherwie nie.“ In seinen Untersuchungen hat Grünewald festgestellt, dass die „neuen Manager“ erheblich weniger risikofreudig sind als die Generation davor. „Selten wagen sie es, mit eigenen Konzepten auf die Schnauze zu fallen oder sich durch eigene Visionen einen Namen zu machen.“

Peter Gräser
20. Gestaltungsräume schaffen

In dieser Situation gilt: Wichtiger noch als das aktuelle Wissen selbst sind die Fähigkeit und die (durchaus individuelle) Methodik, sich Wissen zu schaffen. Dieses Wissen konstituiert nichts Geringeres als mein (leider immer nur vorläufiges) Weltbild – eine Vorstellung meines engeren wie weiteren Handlungskontextes. Diese Vorstellung sollte nicht nur hinreichend von der Realität gedeckt sein (s. o.), sondern mir auchOptionen für ein erfolgreiches (Führungs-)Handeln eröffnen. Denn jede gute Führungskraft schafft sich und ihrem Team einen Raum der Möglichkeiten – keinen Raumder Constraints, keinen „Das-können-wir-nicht-machen!“-Raum, sondern einen mentalen und zugleich realen Gestaltungsraum. Nur in solchen Räumen ist Kreativität überhaupt möglich.

Peter Gräser
21. In was für einer Welt leben wir?

Wir leben in einer historischen Phase, die so ungeheuer reich ist an Möglichkeiten und Chancen wie kaum eine andere Epoche der Menschheitsgeschichte bisher.

Wir leben in einer Zeit der Krisen und Katastrophen, der extremen Unsicherheit, eines Wandels, der uns mental wie real zu überfordern scheint, so dass wir nicht mehr wissen, was wir tun sollen, geschweige denn, „wohin die Reise geht“.

Was kann ich unter diesen Umständen überhaupt tun? Was ist richtig oder falsch, was wirksam? Woran kann ich mich noch orientieren?

Diese Sätze sind typisch für unser gegenwärtiges Lebensgefühl, das aufgespannt ist zwischen unseremWunsch nach Freiheit und Gestaltungsspielraumeinerseits, der Furcht vor Orientierungslosigkeit und Unsicherheit andererseits.

Peter Gräser
22. Angst

Wenn es schon bei einer (nur) gefühlten Bedrohung denWenigsten möglich ist, die „Chancen der Krise“ wahrzunehmen und zu nutzen, wie muss es dann erst in einer Situation sein, die echte Bedrohungen enthält? Um die Herausforderungen solcher Krisen zu bestehen, braucht es Wachsamkeit, verantwortungsvolle Risikobereitschaft, Kreativität, Urteilsvermögen, Tatkraft und Entschlossenheit. Ob diese Eigenschaften zum Tragen kommen können oder nicht, hängt von einem Faktor ab: der Angst. Dabei geht es nicht um die Frage, ob ich Angst empfinde oder nicht, sondernwie ichmitmeiner Angst umgehe. Wirklich entscheidend ist, ob ich Angst habe, oder „ob die Angst mich hat“.

Peter Gräser
23. Nachgefragt: Orientierung und Sicherheit

Führung ist, wie wir eingangs beschrieben haben, ein natürliches Emergenz-Phänomen sozialer Interaktion. Als vertikale Arbeitsteilung, als wechselseitige Delegation von Pflichten undVerantwortungen,Aufgaben, Ressourcen undMacht, dient sie dazu, kollaborative, hochwirksame Prozesse zu ermöglichen und die Transaktionskosten dieser Prozesse zu verringern.

Personale Führung, d. h. der direkte persönliche Eingriff (handelnd oder kommunikativ) einer Führungskraft ist immer dann gefragt, wenn implementierte Prozesse gestört sind, oderwenn es sich um Aufgaben handelt, die nicht oder zu nicht angemessenen Kosten mithilfe vordefinierbarer Prozesse von Menschen mit weniger Entscheidungsverantwortung gelöst werden können. Führung ist in dieser Hinsicht der Grenzfall sozialer Interaktion bzw. organisierter Kollaboration.

Peter Gräser
24. Mensch im Mittelpunkt

Sehr lange Zeit war das herrschende Organisationsparadigma geprägt durch das szientistisch-mechanistischeWeltbild der Neuzeit: Ein Organisation war eine ArtMaschine, in der Menschen wie Maschinenteile genau definierte Aufgabenstellungen zu erfüllen hatten.

Die Organisation war streng hierarchisch von oben nach unten aufgebaut, der Mann (höchst selten eine Frau) an der Spitze verkörperte das „Funktionsgesetz“ des gesamten Apparates, sein Wort „galt“ wie die göttliche Emanation eines Naturgesetzes. Der „Gott- Kaiser“ an der Spitze tat „Wahrheit“ kund; er war nicht kreativ, er schuf keine Lösungen, sondern, wie es in den Strukturen unserer Sprache tief verankert ist, er

fand

sie.

Peter Gräser
25. Führen durch Sinn

Sinnsuche ist ein zentrales Zeitgeistphänomen, charakteristisch für die Mentalität des modernen westlichen Menschen. Sie ernährt inzwischen ganze Industrien. Das ist kein Wunder, nachdem der große metaphysische Orientierungsrahmen, das geschlossene, von Christentum, antiker Kultur und bürgerlichemSelbstbewusstsein geprägte abendländische Weltbild ebenso zerfallen ist wie der Glaube an säkular-messianische Heilslehren aus der Zeit des „Klassenkampfes“.

Doch bei aller Fokussierung auf die individualisierte Selbstverwirklichung bleibt das Bedürfnis des Einzelnen nach einem Platz im Kósmos, der dem eigenen Leben, dem alltäglichen Tun undHandelnwenn nicht ewigen Ruhm, so doch immerhin innerhalb eines großen, das je Individuelle transzendierenden Ganzen Bedeutung und Richtung gibt. In einer offenen, pluralistischen oder „multikulturellen“ Gesellschaft stellt sich nicht nur die Frage nach dem Ganzen, sondern ebenso dringlich die Frage nach meinem Beitrag, den ich dazu leisten kann.

Peter Gräser
26. Visionen

Wenn ich die Zukunft gestalten will, dann muss ich wissen wie – nicht nur, wie ich es machen kann, sondern zunächst überhaupt wie die Zukunft aussehen soll, auf die ich hinarbeite. Es ist klar, dass meine Gestaltungsspielräume begrenzt sind. Die Frage lautet also: Wie muss meine Vorstellung der Zukunft sein, dass sie sowohl meinen Zwecken und Zielen dient, als auch eine realistische Chance auf Verwirklichung hat?

Das Zitat von Peter Drucker erscheint auf den ersten Blick überambitioniert. Gemeint ist damit jedoch eine simple Wahrheit: Je klarer meine Vorstellung von der gewünschten Zukunft ist, und je zielgerichteter ich auf ihre Erfüllung hinarbeite, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Dinge sich so entwickeln,wie ich will.Das hat weder etwas mit Allmachtsphantasien noch mit magischem oder szientistischem Determinismus zu tun – es ist schlicht eine Tatsache. Erfolgskritisch ist allerdings eines: Wie fundiert ist meine Vorstellung von der Zukunft?

Peter Gräser
27. Kontextualität von Führung

Führung findet im Hier und Jetzt statt. Sie ist dabei horizontal – geographisch, kulturell, sozial – und vertikal – zeitlich zwischen Vergangenheit und Zukunft – in einen ganz bestimmten, nicht reproduzierbaren Kontext eingebunden: kontextualisiert. Führung ist eine komplexe und zugleich wirkungsorientierte und zielgerichtete Form sozialer Interaktion. Ihren Sinn, ihre je spezifische Methodik, das, was wir häufig auch Führungsstil nennen, und die konkreten Führungsstrategien können wir nur bewerten nach der Güte ihrer Adaption an den Kontext, in dem sie praktiziert wird.

Peter Gräser
28. Führungsqualität und Führungskunst

Das Thema dieses Buches ist nicht, die richtigen Führer wählen zu lernen, sondern Führen zu lernen. Wir haben uns bisher darum bemüht, Führung als soziales Emergenz-Phänomen begreifbar zu machen, ohne Anspruch auf Vollzähligkeit wesentliche Charaktereigenschaften und Tugenden als dem Führungserfolg zuträglich vorgestellt und den Kontext von Führung wenigsten in groben horizontalen und vertikalen Strichen gezeichnet. Worauf wir bisher verzichtet haben – und auch in diesem Buch weiterhin verzichten werden –, ist eine detaillierte Darstellung bestimmter Führungsinstrumente. Dies geschieht aus zwei wohlüberlegten Gründen.

Der eine ist praktischer Natur; er dient sowohl der eigenen wie der Entlastung der Leser: Es gibt eine ausreichende Menge von Literatur und Seminaren, durch die man sich theoretisch und praktisch mit nahezu jedem Führungsinstrument, sinnvollen wie nutzlosen, aufs innigste vertraut machen kann. Dem ist unsererseits nichts hinzuzufügen, das einen derartigen Mehrwert verspricht, um hier dargestellt zu werden.

Peter Gräser

Ausbildung zur Führung

Frontmatter
29. Desiderat: Führungskompetenz!

In der Vergangenheit, d. h. etwa bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, war die Ausbildung zur Führung in Deutschland gesellschaftlich organisiert und sozial institutionalisiert. Diejenigen gesellschaftlichen Gruppierungen, aus denen die Mehrzahl der Führungskräfte rekrutiert wurde, wandten bereits bei der Erziehung der Kinder diejenigen Führungsprinzipien an, die vom „Führungsnachwuchs“ als aktive Kompetenz erwartet wurden. Da Führungskräfte nahezu ausschließlich männlich waren, durchliefen sie in der Regel durch den Militärdienst die „Schule der Nation“ zur Ausbildung von Führenden und Geführten.2 Bis 1918, also bis zum Ende des Kaiserreichs, wurde die Zugehörigkeit zur Führungsschicht mit einem Offizierspatent symbolisiert. Dabei stellte der Leutnant der Reserve die unterste Stufe dar. (Es gab natürlich auch andere Symbolsysteme; Angehöriger des Adels oder Erbe eines Industriebetriebs zu sein oder nicht z. B., unterschied den einen Leutnant vom anderen signifikant.)

Peter Gräser
30. Selbstführung und Lebenskunst

Führung und Management ist ein anspruchsvoller Beruf und zugleich eine Schlüsselkompetenz für ein erfülltes Leben in einer freiheitlichen, pluralistischen Gesellschaft. „Handwerkskunst“ und „Lebenskunst“ greifen hier in ganz besondererWeise ineinander, so dass eine kategorische Scheidung nicht nur künstlich, sondern auch schädlich ist.

Peter Gräser
31. Führung als Kulturtechnik

In unseren ebenso dynamischen wie komplexen, institutionalisierten Gesellschaften sind (Selbst-)Führung und Management konstitutiver Teil nahezu jeder beruflichen Tätigkeit. Die Frage ist in der Regel nicht, ob Management-Prozesse zu meinem Aufgabenbereich gehören, sondern in welchem Maße ich „zusätzlich“ noch Fachaufgaben zu lösen habe.

Peter Gräser
32. Wie führen lernen?

Die entscheidende Frage bei der Gestaltung einer Führungsausbildung ist:

Wie wird führen überhaupt gelernt?

Wir haben uns im ersten Teil der Prinzipien der Führung versichert und im zweiten Teil die besonderen Bedingungen von Führung im 21. Jahrhundert betrachtet. Jetzt geht es darum, uns eine Vorstellung davon zu machen, wie Menschen lernen, das heißt, wie sie sich bilden und entwickeln. Diese Frage ist auch deshalb so bedeutsam, weil ein Führungscurriculum nie abgeschlossen ist. Eine wie auch immer institutionalisierte Ausbildung hat nicht zuletzt das Ziel, die eigenen Selbst-Lern- und Entwicklungskompetenzen so zu stärken, dass der Einzelne seinen das ganze (Führungs-)Leben währenden (Aus-)Bildungsprozess selbst effektiv und effizientweiter führen kann. Eines der Ergebnisse einer guten Führungs-Ausbildung ist, der eigenen Persönlichen Führungs- und Karriere- Strategie durch eine Persönliche Lern- und Entwicklungsstrategie ein tragfähiges Fundament zu geben. Das Ergebnis ist eine wirkliche Selbst-Führungsstrategie.

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33. Die Feuerprobe

Warren G. Bennis und Robert J.Thomas haben bei ihren Forschungen über Führung eine bemerkenswerte Beobachtung gemacht. Bennis und Thomas versandten Fragebögen an und führten ausführliche biographische Interviews mit 43 herausragendenUS-amerikanischen Organisationsführern, darunter 25 „geezers“ , zum Zeitpunkt der Untersuchung im Alter zwischen 65 und 92 Jahren, und 18 „geeks“ unter 35 Jahren.

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34. „Minimal“-Anforderungen

Was ist die Mindest-Voraussetzung, was muss ein Mensch mitbringen, damit er eine besondere Herausforderung, eine Feuerprobe bestehen und an ihr wachsen kann? Das heißt ja auch:Welche Eigenschaften sind es, die Menschen zu Führungskräften qualifizieren?

Wesentliche persönliche Qualitäten, die gute Führungskräfte auszeichnen, haben wir unten bereits benannt. Dabei ist immer im Blick zu behalten, dass Menschen auch für sie selbst neue Charaktereigenschaften in sich entdecken undweiterentwickeln können. Ein wirkungsvolles Ausbildungsprogramm für Führungskräfte macht sich diese Tatsache zu Nutze.

Es gibt allerdings ein paar Grundfragen, die jede angehende oder erfahrene Führungskraft mit „Ja“ beantworten können muss.

Peter Gräser
35. Sechs Delta – die Sechs Dimensionen der Führung

Bildung ist nicht die Anhäufung kognitiven, abstraktenWissens, sondern die Entwicklung unserer Persönlichkeit im Wechselspiel von Wissen und praktischer Erfahrung. Wissen, dass wir nicht in Relation zu uns und unserem Leben setzten können, bleibt für uns bedeutungslos. „Be – Know – Do“, das Führungsmodell der US-Army, beschreibt nicht nur Aspekte von Führung, es ist ebenso eine Beschreibung unserer Entwicklung. Ebenso wie für die Führung kommt es bei der Entwicklung auf die dynamische Verbindung zwischen den einzelnen Elementen an. Im Wechselspiel miteinander, in der gegenseitigen Durchdringung, befruchtet und verstärkt eins das andere. In der Isolation bleibt jedes für sich wirkungslos.

Peter Gräser
36. Das Ausbildungssetting

Niemand kann Ihnen erklären, wie Sie (sich) am besten führen.Wohl aber können Ihnen Situationen geschaffen werden, in denen Sie Ihre Führungspersönlichkeit und Ihre Führungskompetenz entdecken und entwickeln können. Das gilt nicht nur für junge, das gilt ebenso auch für erfahrene Führungskräfte.Wie gut kennen Sie sich selbst? – und damit ist nicht die Person gemeint, die Sie jetzt sind, sondern die, die Sie sein können. Es ist die Frage Ihrer persönlichen Vertikalspannung zwischen Ihrem „Need“ und Ihrem „Mode“. Oder sind Sie der Meinung, Sie könnten sich nicht mehr entwickeln?

Peter Gräser
37. Training

Nicht Talent und angeborene Fähigkeiten sind letztlich ausschlaggebend für einen dauerhaften Führungserfolg, sondern permanentes, lebenslanges Training.

[P]ractice can trump talent, in leadership just as much as in sports and the performing arts. Without a doubt, talent matters. But the right kind and combination of ambition, instruction, and feedback can turn someone with modest talent into a veritable competitor with so-called natural talents. In business as well as in the arts, outstanding performers are remarkably attentive to the opportunities for polishing basic skills – and testing new ones – that crop in the midst of crucible experiences and day-to-day work. For them, the seam between practice and performance is invisible.1

Peter Gräser
38. Leadership Development Laboratories

Führung ist ein Praxisberuf. Führung ist keine Wissenschaft, sondern eine Kunst. Die Führungsausbildung ist deshalb nicht praxis-orientiert, sondern selbst Praxis. Das Ausbildungsziel ist nicht Wissenserwerb über gute und wirksame Führung, sondern deren Ausübung. Eine gute und wirksame Führungsausbildung ist nicht einfach nur in Ihre Berufsund Lebenspraxis integriert; vielmehr integriert sie alle verfügbaren Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten zu etwas, das Datar und Garvin zurecht „Leadership Development Laboratories“ – Führungs-Lernlabore – und „,Being‘ Courses“ nennen.

Peter Gräser
39. Erleben – Erfahren – Erkennen – Umsetzen

Wirksame Ausbildung ist erlebnisorientiert. Das unmittelbare Erleben einer herausfordernden Situation ist jedoch nicht aus sich selbst heraus wirksam. Das Erlebnis muss in eine individuelle Erfahrung transformiert, das wesentliche Muster erfolgreichen Handelns erkannt und schließlich im Kontext der realen Arbeitssituation umgesetzt werden. Und dies nicht nur einmal: Es muss als neues Wahrnehmungs- und Handlungsmuster vielfach und kontinuierlich eingeübt werden, bis die angestrebte Handlungskompetenz virtuos beherrscht wird.

Peter Gräser
40. Die vier Lernlabore in der Natur

Draußen („Outdoor“) ist nicht gleich draußen. In unserer biologischen und kulturellen Evolution haben wir Menschen sehr verschiedene, unseren jeweiligen Umwelt- und Lebensbedingungen angepasste, Zivilisations- und Organisationsformen entwickelt. Ein ebenso tiefes wie breites Führungs(-Selbst)-Verständnis kann umso effektiver entwickelt, werden, wenn wir die unterschiedlichen Lernräume der Natur – Berg, Wald, Fluss und Meer – mit ihren je unterschiedlichen Führungsanforderungen in der Ausbildung nutzen.

Peter Gräser
41. Ad Infinitum

Wir leben in einer Welt, in der Wandel keine Ausnahme, sondern das auf immer herrschende Grundprinzip ist. Die Hoffnung auf einen ruhigen, stabilen Ort, ein bequemes Plätzchen der Beständigkeit und Stabilität ist unerfüllbar, dasNähren einer solchen Illusion unsinnig.

Führen ist Suchen, mutige, ausdauernde Suche nach neuem Land und neuen Wegen – auch in sich selbst. Früher oder später haben sich die Orte, die wir kennen, erschöpft, führen die bekanntenWege nirgendwo mehr hin. Dann heißt es für unsMenschen aufs Neue: Aufbrechen. Ob es uns gefällt oder nicht, das ist die Bestimmung unserer menschlichen Existenz im Universum: Es gibt keinen eingehegten Ort, keinen vordefinierten Platz, an dem wir jemals bleiben könnten. Denn das Universum wandelt sich – immer, dauernd.

Peter Gräser
Backmatter
Metadaten
Titel
Führen lernen
verfasst von
Peter Gräser
Copyright-Jahr
2013
Verlag
Gabler Verlag
Electronic ISBN
978-3-8349-7135-7
Print ISBN
978-3-8349-3263-1
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-8349-7135-7

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