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13.06.2022 | Verkehrspolitik | Kommentar | Online-Artikel

Pro und Contra zur EU-Entscheidung zum Verbrenner-Aus

verfasst von: Thomas Siebel, Alexander Heintzel

30 Sek. Lesedauer

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Die Entscheidung des Europäischen Parlaments zu einem faktischen Verbot von Verbrennungsmotoren in PKW ab 2035 sorgt für angeregte Diskussionen. Auch in den Technik-Redaktionen der Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH gehen die Meinungen durchaus nicht nur in eine Richtung. Um den wichtigen Diskurs weiter anzuregen, kommentieren ATZ/MTZ-Chefredakteur Dr. Alexander Heintzel und springerprofessional.de-Redakteur Dipl.-Ing. Thomas Siebel contra und pro Parlamentsentscheidung. 

Alexander Heintzel

13.06.2022 | Verkehrspolitik | Kommentar | Online-Artikel

Contra: Setzen, Sechs!

verfasst von: Alexander Heintzel

Das Europaparlament hat das faktische Aus für Verbrennungsmotoren in Europa ab 2035 beschlossen. Das ist falsch und wird die Verfehlung der Klimaziele zur Folge haben.


Auch wenn die Sprachregelung in der EU-Parlamentsentscheidung, dass "keine Fahrzeuge, die klimaschädliche Treibhausgase ausstoßen" ab 2035 neu zugelassen werden sollen, noch eine Hintertür Richtung Technologieoffenheit offenlässt, werden hierdurch Entwicklungsaktivitäten und Produktionskapazitäten aus Europa abgezogen und dorthin transferiert, wo E-Mobilität, nachhaltige Kraftstoffe und H2 gemeinsam an den Start gehen. Die Botschaft, damit sei eine Technologieführerschaft bei E-Antrieb und Batterieentwicklung verbunden, ist als reine Propaganda zu werten. Europa begibt sich gerade in eine Sackgasse und wird in Kürze leider feststellen, dass die Klimaziele so nicht erreicht werden können. Warum?

Mehr als 30 Mio. t CO2 fallen unter den Tisch

Deutschland hat heute einen Bestand von 48 Millionen Pkw. In den letzten zehn Jahren ist dieser um 0,6 Mio. pro Jahr gewachsen, bei jährlich rund 3 Mio. Neufahrzeugen. Ein Großteil der Fahrzeuge bleibt also im Bestand. Nun wird davon ausgegangen, dass dieser bis 2030 auf 42 Mio. Pkw sinkt und 15 Mio. E-Pkw im Markt sind. Selbst wenn das einträte, wären immer noch ca. 65 % der Pkw mit Verbrennungskraftmaschinen im Markt. Laut Fit for 55 muss Deutschland ca. 165 Mio t CO2 pro Jahr einsparen, davon ca. 54 Mio. t aus dem Pkw-Bereich. 15 Mio E-Autos im Markt 2030 bedeuteten eine Einsparung von ca. 20-24 Mio. t CO2, je nach Strommix. Bleiben 30-34 Mio. t, die unter den Tisch fallen. Allein der Einsatz von E20-Ottokraftstoff würde 15-20 Mio. t heben, ein flächendeckender Einsatz von synthetischen Kraftstoffen und R33-Diesel diese Lücke komplett schließen. 


Rechnete man noch die rund 11 Mio. Nutzfahrzeuge hinzu, dann wäre Deutschland bei einem großflächigen Elektrifizierungsansatz noch weiter von seinen Klimazielen entfernt. Zusätzlich stellte sich dann noch drängender die Frage nach der Verfügbarkeit und Speicherung nachhaltig gewonnenen Stroms sowie der sicheren Bereitstellung der notwendigen Peakleistung – alles Themen, die aktuell nicht geklärt sind. Hinzu kommt noch der höchst klimarelevante ökologische Fußabdruck elektrisch angetriebener Fahrzeuge, der politisch gewollt einfach ausgeblendet wird. 

Technisch-mathematisches Grundverständnis fehlt

Das Problem sind also nicht fehlende effiziente Ansätze eines nachhaltigen Klimaschutzes in der Mobilität, sondern die Tatsache, dass Entscheiderinnen und Entscheidern auf politischer Ebene ganz offensichtlich ein technisch-mathematisches Grundverständnis fehlt und dieses durch Glauben ersetzt wird. Mit Religion aber, kann keine erfolgreiche Klimapolitik betrieben werden.


Was ist der Unterschied zwischen Wissenschaft und Religion? Wenn ich sage "Bier ist im Kühlschrank" und gehe hin und überprüfe das, dann ist das eine Vorform von Wissenschaft, weil ich verifiziere. Sage ich dasselbe und überprüfe nicht, sondern glaube daran, dann ist das Religion. Und wenn ich sage "Bier ist im Kühlschrank", stelle beim Überprüfen fest, dass dem nicht so ist und behaupte es dennoch weiter, dann ist das Esoterik.


Die politisch Handelnden bewegen sich derzeit irgendwo zwischen Religion und Esoterik. Es mangelt Ihnen an grundlegendem Verständnis der Naturwissenschaften. Dieses Verständnis ist aber notwendig, um nachhaltig Klimaschutz und Entwicklung voranzutreiben – und das geht nur mit allen zur Verfügung stehenden Antrieben und Energiespeichern. Wenn es nicht bald gelingt, dies im politischen Verständnis zu verankern, dann werden die Fit-for-55-Ziele klar verfehlt werden. Den Preis zahlen dann das Klima und zukünftige Generationen. 

Dipl.-Ing. Thomas Siebel

13.06.2022 | Verkehrspolitik | Kommentar | Online-Artikel

Pro: Scheuklappen ab, Autoindustrie!

verfasst von: Thomas Siebel

Das EU-Parlament hat sich gegen die Nutzung von synthetischen Kraftstoffen in Pkw und Lieferwagen ausgesprochen. Das erschwert den Weg hin zur klimaneutralen Pkw-Mobilität. Trotzdem ist die Entscheidung richtig.


Neue Pkw und leichte Nutzfahrzeuge dürfen ab 2035 keine Treibhausgase mehr ausstoßen. So will es die Mehrheit des EU-Parlaments, und es präzisiert: Auch synthetische Kraftstoffe bleiben diesen Fahrzeugklassen verwehrt. Damit stirbt der Verbrennungsmotor im Pkw ab Mitte des nächsten Jahrzehnts aus.


Während sich die deutsche Automobilindustrie nach Jahren des Widerstands mittlerweile auf den batterieelektrischen Antrieb eingelassen hat und beträchtliche Investitionen tätigt, laufen Interessensverbände wie der VDA oder der ADAC gegen die Entscheidung contra E-Fuels Sturm. Damit tun sie das, was man von Verbänden erwartet: Sie setzen sich für ihre Mitglieder, ihre Industrie ein. Autofahrer wollen nicht als Umweltsünder stigmatisiert werden, Mitgliedsunternehmen wollen möglichst lange am Verbrennungsmotoren verdienen und der Industrie muss es gelingen, die Verkehrsemissionen innerhalb dieser Dekade um 40 % zu senken. Zur Erinnerung: Zwischen 1995 und 2019 sind die absoluten Emissionen im Pkw-Verkehr um 5 % gestiegen.

Geschickt oder unsolidarisch – oder beides?

Da wäre der Weg über klimaneutrale synthetische Kraftstoffe nur folgerichtig. Hergestellt werden sie aus Wasserstoff, der bekanntlich baldmöglichst in großen Mengen mithilfe von erneuerbaren Energien erzeugt werden soll, und Kohlenstoff, der beispielsweise aus unvermeidbaren Industrieemissionen gewonnen werden könnte. Synthetische Kraftstoffe wären ein wirksamer Hebel, um auch den im Jahr 2035 noch großen Bestand an Verbrennern weniger umweltschädlich zu machen. Diese Argumentation ist schlüssig, sie ist richtig – und sie ist geschickt! Denn bei genauerem Hinsehen entlarvt sie, was die Interessensvertretung dieser wichtigsten Industrie in Deutschland tatsächlich ist: unsolidarisch.


Dass für den Wandel hin zur klimaneutralen Wirtschaft innerhalb kürzester Zeit gewaltige Mengen an Wasserstoff gebraucht werden, weiß man selbstverständlich auch in der Automobilindustrie. Ebenso, dass die Nachfrage nach grünem Wasserstoff das Angebot über Jahre übersteigen dürfte.

Vorrang für Stahl und Schwerlastverkehr

Priorität hat deswegen der Einsatz von Wasserstoff und seinen Syntheseprodukten im Flug- und Schiffsverkehr, im Lkw-Schwerlastverkehr, in der Stahl- und in der chemischen Grundstoffindustrie. Warum? Weil diese treibhausgasintensiven Sektoren keine Alternative auf dem Weg zur Klimaneutralität haben. Die Stahlindustrie, die ein Drittel der Industrie-Treibhausgase in Deutschland verursacht, rechnet damit, dass 1 t eingesetzter Wasserstoff bis zu 28 t CO2-Ausstoß vermeidet. Und sie stellt sich darauf ein, dass sie ihre neuen Anlagen ab 2030 zunächst teilweise mit Erdgas wird betreiben müssen, da zu wenig grüner Wasserstoff verfügbar sein wird.


Der Ausbau der Wasserstoffproduktion stellt die Branche vor die größte Herausforderung. Allein in Deutschland brauchen wir bis 2030 eine Erzeugerkapazität von 5 GW, dazu Importe aus dem Ausland. Die stärksten Elektrolyseure haben heute aber Kapazitäten von gerade einmal 24 MW. Aus einer Branche von Manufakturbetrieben muss innerhalb kürzester Zeit eine Gigawattindustrie erwachsen. Welchen Anspruch hat hier eine Automobilindustrie, die über einen batterieelektrischen Antrieb verfügt, der Wind- und Sonnenenergie fünf Mal effizienter in Fahrleistung umsetzt als ein E-Fuel-Verbrenner?

Ohne Umwege zum E-Antrieb

Spinnen wir einmal weiter, was passieren würde, wenn sich das EU-Parlament nicht gegen synthetische Kraftstoffe für Pkw und Lieferwagen ausgesprochen hätte. Der Druck auf die Hersteller bei der Umstellung auf E-Antriebe würde sinken, die Menge an Verbrennungsmotoren im Straßenverkehr bliebe im Jahr 2035 entsprechend hoch, aber: Die absoluten Pkw-Emissionen wären gegenüber heute möglicherweise deutlich geringer. Ein Erfolg für die Automobilindustrie wäre das. Ein teuer erkaufter Erfolg, denn gleichzeitig müssten Stahlerzeugung oder die Luftfahrt länger fossile Brennstoff einsetzen, während E-Fuel-Verbrenner kostbare erneuerbare Energie mit einem Gesamtwirkungsgrad von 13 % verfeuern.


Der Automobilindustrie bleibt nichts anderes übrig, als den steinigen Pfad zu gehen. Sie muss ihre Scheuklappen ablegen und ihre Argumente für einen klimaneutralen Pkw-Verkehr in eine gesamtwirtschaftliche Betrachtung einbetten. Dann bliebe ihr nur ein einziger Schluss: Schnellstmöglich die Pkw-Produktion auf E-Antriebe umstellen.

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