Finanzinstitute müssen zukünftig Umwelt-, Sozial- und Governance-Risiken in ihren Kalkulationen berücksichtigen. Aber lassen sich Dinge quantifizieren, die in dieser Form noch nie vorkamen? Ein Scoring-Modell für die Bankpraxis.
Die Erde heizt sich auf, soviel ist klar. Aber wie hoch ist die tatsächliche Erwärmung, gerechnet auf eine bestimmte Menge CO2? Das lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen, unterschiedliche Modelle kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Das liegt an der jeweiligen Gewichtung der verschiedenen Einflussfaktoren sowie den nicht restlos geklärten Wirkmechanismen des Weltklimas. Die Wissenschaftler stehen dabei vor dem Problem, dass ihnen Vergleichsmöglichkeiten mit verifizierten Echtdaten fehlen, ist der Klimawandel doch ein in der Menschheitsgeschichte singulärer Vorgang.
Genaue Klimaprognosen kaum möglich
Da die Klimaforscher nicht zweifellos sagen können, wie schnell und wie weit die Veränderungen gehen, sind genaue Prognosen über die Folgen kaum möglich. Diese spärliche Datenlage ist für Finanzinstitute problematisch, schließlich müssen sie zukünftig Nachhaltigkeitsaspekte in ihre Risikokalkulation mit aufnehmen. Aber Marktstandards zur Quantifizierung von Risiken aus den Bereichen Umwelt (Environment), Soziales und Governance (zusammen: ESG) fehlen bisher.
Wie kann vor diesem Hintergrund eine belastbare Kalkulation hinsichtlich etwaiger Auswirkungen auf Kapital, Ertrag und Liquidität aussehen?
Der erste Schritt immerhin ist bekannt und geübt, nämlich die Klassifizierung möglicher Risiken in "unvermeidbar", "bewusst in Kauf zu nehmen", "tolerierbar" und "inakzeptabel". Für eine sachgerechte Betrachtung ist neben der aufsichtlich vorgegebenen Unterscheidung zwischen physischen und transitorischen Risiken auch die Einteilung nach Intensität und Zeitpunkt, respektive Zeitraum einer eventuellen Risikomanifestation notwendig.
Institutsweit gültige Grundlage
Am Beginn des Quantifizierungsprozesses steht die Schaffung eines einheitlichen Rasters für das gesamte Institut. Dieser ESG-Masterkatalog dient allen Abteilungen als Template für die weitere Berechnung. Die EU-Taxonomie-Verordnung oder die mittlerweile im Fondsgeschäft verbreiteten ESG-Ratings namhafter Anbieter können hier durchaus Blaupausen für den Masterkatalog sein.
Es ist allerdings wenig zweckdienlich, mit diesem Template gleich den ESG-Score für die ganze Bank berechnen zu wollen. Denn die identifizierten Indikatoren innerhalb der E-, S- und G-Risiken sind für die einzelnen Kundengruppen und Produkte unterschiedlich relevant. So spielen Governance-Faktoren bei einem Unternehmenskredit eine erhebliche Rolle, sind bei einem privaten Immobilienkredit aber nicht existent.
Beispiele für Indikatoren | |
bei Environment-Risiken: |
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bei Social-Risiken: |
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bei Governance-Risiken: |
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Quelle: PPI AG
Für die tatsächliche Bewertung der Einzelindikatoren können die Institute zunächst öffentlich verfügbare Daten heranziehen. Dies wird aber in vielen Fällen nicht ausreichen. Dann sind separat bereitgestellte Informationen nötig. Diese lassen sich im Privatkunden- und KMU-Bereich gegebenenfalls über obligatorisch in den Kreditprozess eingebundene Fragenkataloge beschaffen. Weitere Fakten können das Internet oder Social-Media-Accounts liefern. In diesem Zusammenhang macht der Einsatz von Künstlicher Intelligenz absolut Sinn, was immer häufiger auch geschieht.
Aussagekraft nur in Konjunktion mit der Risikostrategie
Sind die einzelnen Indikatoren für jede Teilmenge des Portfolios bestimmt und bewertet, ergeben sich daraus die einzelnen Subscores und in der Folge der ESG-Gesamt-Score für ein bestimmtes Segment. Im nächsten Schritt folgt dann die Berechnung des institutsweiten ESG-Scores. Handlungsempfehlungen lassen sich daraus allerdings erst im Kontext der Vorgaben aus der Risikostrategie ableiten.
Idealerweise stehen am Ende Leitplanken in Form von Ziel-ESG-Scores für die jeweiligen Einzelportfolios respektive die einzelnen Produkte. Die formelle Einrichtung eines ESG-Boards beziehungsweise -Beauftragten kann sinnvoll sein, hängt aber von den Gegebenheiten ab.
Szenariorechnungen ersetzen historische Vergleichsdaten
Da Vergleichsmöglichkeiten fehlen, bleibt den Instituten bei den tatsächlichen Berechnungen nur der Rückgriff auf Szenarioanalysen und Stresstests. Es gilt, die Annahmen möglichst konsistent und nachvollziehbar zu halten. Ratsam ist auch eine Übertragung der für eine Risikoart entwickelten Szenarien auf andere, einschließlich einer entsprechenden Prüfung der Effekte. Gerade bei den transitorischen Risiken wird es aufgrund der langfristigen Auswirkungen ohnehin kaum anders gehen, soll am Ende eine valide Aussage zur Risikosituation für Kapital und Liquidität stehen. Nur so ist eine rechtzeitige Justierung der Geschäftsstrategie für Management und Organe möglich.