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2002 | Buch | 2. Auflage

Handwörterbuch zur politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland

herausgegeben von: Martin Greiffenhagen, Prof. Dr., Sylvia Greiffenhagen, Prof. Dr., Katja Neller, M.A.

Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften

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Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
Anomie/Entfremdung

Herkunft und Entwicklungsgeschichte beider Begriffe sind unterschiedlich. Sie haben sich jedoch im Zuge ihrer sozialwissenschaftlichen Verwendung einander angenähert und weisen heute zentrale gemeinsame Dimensionen auf, so daß es gerechtfertigt erscheint, sie im Rahmen eines Stichworts gemeinsam zu behandeln. Grob gesagt bezieht sich der Begriff Anomie (A.) auf Zustände gesellschaftlicher Normenlosigkeit und mangelnder sozialer Ordnung, wie auch auf die — als problematisch vorausgesetzte — subjektive Befindlichkeit von Individuen unter solchen Bedingungen. Der Begriff Entfremdung (E.) zielt demgegenüber auf Diskrepanzen zwischen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und individuellen Wünschen, Werten, Bedürfnissen, oder Erwartungen, sowie auf hiermit zusammenhängende subjektive Befindlichkeitsfolgen. Die Überschneidungszone der beiden Begriffe ist dementsprechend in der Beschreibung negativer subjektiver Erlebnis- und Erfahrungssachverhalte, wie auch pathogener psychischer Problemlagen zu suchen, deren Kausalität in gesellschaftlichen Verursachungsfeldern verortbar ist. Innerhalb dieser Überschneidungszone erscheint eine Trennung der beiden Begriffe wenig sinnvoll, da die Phänomene, um die es geht (Angst, Isolation, Deprivation, Streß, Depression, Gefühle der Ohnmacht und Sinnlosigkeit, Orientierungslosigkeit, Frustration, Aggressivität, abweichendes Verhalten, Kriminalität) in der Literatur der beteiligten Disziplinen (Soziologie, Politische Wissenschaft, Sozialpsychologie) meist ohne deutlich erkennbare Schwerpunktbildung wahlweise den beiden Begriffen zugeordnet werden.

Helmut Klages
Arbeit

In der ursprünglichen Bedeutung und in der christlichen Tradition ist Arbeit (A.) Mühsal, und zwar als Dienst an Gott und der Gemeinschaft. Dies hat insbesondere Luther in seiner Theologie herausgearbeitet. Im Zuge gesellschaftlicher Säkularisierung und im Sinne einer eng ökonomischen Betrachtungsweise bezeichnet heute der Begriff A. ein zweckgerichtetes Tätigsein des Menschen zu seiner Existenzsicherung. Dadurch unterscheidet sich die A. vom Spiel, das zwar auch Tätigsein beinhaltet, aber nicht auf äußere Zwecke im Sinne einer Erwerbs-A. gerichtet ist. Die Reduzierung des A.-Begriffes auf entgeltliche Erwerbs-A. stellt jedoch eine unzulässige Verengung des A.-Begriffes dar, weil in dieser Sicht der größte Teil der Gesellschaft nicht arbeiten würde! In der Tat ist z.B. Frauen-A. (→ Frauen/Männer) in der Form der Familien-A. (→ Familie) als „nicht eigentliche“A. ökonomisch und gesellschaftlich immer wieder diskriminiert worden. Das Tätigsein für ein Entgelt ist aber kein zwingendes Attribut für einen modernen A.-Begriff. Der Mensch kann auch in der → Freizeit arbeiten und damit sein geistig-seelisches und körperliches Potential nutzen und im Sinne seiner Persönlichkeitsentwicklung fördern. Damit ist neben der ökonomischen die pädagogische Funktion der A. angesprochen. In diesem Sinne heißt arbeiten nicht nur nutzen und freisetzen, sondern auch entwickeln von Kräften.

Joachim Münch
Arbeitslosigkeit

Seit mehr als einem Vierteljahrhundert hat die Bundesrepublik — wie eine Reihe anderer Industrieländer auch — mit gravierenden Arbeitsmarktproblemen zu kämpfen. EU-weit waren im April 2001 ca. 13 Millionen Menschen als arbeitslos (al.) registriert. Die Frage allerdings, wer als „al.“, „erwerbslos“oder „langzeital.“gilt, wird in der Arbeitsmarktstatistik allerdings nicht einheitlich beantwortet. Allgemein kann man jedoch all jene Personen als al. betrachten, die aktuell keiner bezahlten, den Lebensunterhalt sichernden Arbeit nachgehen, aber dies gern möchten. Mit Blick auf die pK eines Landes sind drei Größen der Arbeitslosigkeit (A.) von besonderem Interesse: Umfang und Dauer einer Beschäftigungskrise und der Anteil der Langzeitarbeitslosen (→ Armut, Soziale Ungleichheit). So ist z.B. in Deutschland eine Verfestigung der A. (Langzeit-A.) bei gering qualifizierten, älteren und gesundheitlich beeinträchtigten Arbeitnehmern zu beobachten. Seit der Zeit der Weltwirtschaftskrise in den 30er Jahren sind eine Reihe sozialwissenschaftlicher Untersuchungen zu den individuellen und gesellschaftlichen Auswirkungen von Massen-A. durchgeführt worden, von denen die Marienthaistudie (Erstveröffentlichung: 1933) international wohl die bekannteste ist. Zwei Hauptfragen der Forschung lassen sich unterscheiden: Verändert die Erfahrung von A. die Persönlichkeit der mittelbar und unmittelbar Betroffenen (z.B. Arbeitsmotivation, verringertes Selbstgefühl)? Hat A. Auswirkungen auf das politische Klima in einem Lande (z.B. politische → Anomie oder Radikalisierung (→ Extremismus))?

Alois Wacker
Armut

Die wissenschaftliche und politische Beschäftigung mit dem Problem der Armut (A.) ist durch Konjunkturen gekennzeichnet. Sie spiegelt den jeweiligen historischen Stand der ökonomischen und sozialen Lebensbedingungen der Bevölkerung wieder. So war zwar in den ersten Jahren nach dem 2. Weltkrieg die A. der Bevölkerung ein vielbeachtetes Problem in Westdeutschland, mit der Überwindung der unmittelbaren Nachkriegsnot ebbte das Interesse aber rasch wieder ab. Zwischen Ende der 50er und Mitte der 70er Jahren war in der sozialwissenschaftlichen und sozialpolitischen Debatte A. kein Thema. Vorherrschend war die Überzeugung, daß durch die „immerwährende ökonomische Prosperität“(Lutz) in Verbindung mit einem Ausbau des „Sozialstaatsmodells Deutschland“eine dauerhafte Überwindung materieller Not gelungen sei. Erst im Verlauf der 70er Jahre erwachte erneut das Interesse an der A. Ausgehend von der Auseinandersetzung mit der Randgruppenproblematik entstanden erste theoretische und empirische Studien, im Rahmen derer unterschiedliche Dimensionen von Unterversorgung und Benachteiligung thematisiert wurden, ergänzt durch Studien zur A. im Sinne von Sozialhilfebedürftigkeit. Größere wissenschaftliche und politische Resonanz fand erst die politische Kampfschrift von Geißler (1974) zur „Neuen Sozialen Frage“, in der die Entstehung von A. nichtorganisierter gesellschaftlicher Gruppen aus der Lösung der „alten Sozialen Frage“— insbesondere aus dem Wirken von Sozialstaat und → Gewerkschaften — hergeleitet wurde.

Walter Hanesch
Außenbeziehungen: Selbstbild/Fremdbild

Die aktiv-gestaltende Anpassung an die Hauptlinien der internationalen Politik charakterisiert die deutsche Außenpolitik seit 1949. Nur die solidarische Einbindung der Deutschen in eine europäische Gemeinschaft konnte nach 1949 das Vertrauen gegenüber den Deutschen zurückgewinnen. Wirtschaftliche Prosperität, Sicherung des Friedens, internationale Achtung und Anerkennung, Einbindung der Deutschen und Verpflichtung der Partner auf das Ziel der Wiedervereinigung waren die zentralen Interessen der Bundesregierungen am europäischen Integrationsprozeß (→ Europa). Der Primat der verflochtenen Interessen definierte deutsche Interessen in engem Bezug auf die Interessen der wichtigsten Partner. Die Reziprozität der Perspektiven gehörte für die deutsche Außenpolitik zum zentralen Bestandteil. Indem sich die deutsche Außenpolitik bei jeder Aktion ihre eingehegte Position klarmachte und stets vorauseilend antizipierte, was als Konsequenzen aus dem eigenen Handeln erwuchs, fiel sie nicht weiter auf. Die Strategie der Selbsteinbindung ermöglichte die Kultur der Zurückhaltung. Die alliierten Vorbehaltsrechte förderten zudem dieses Fremdbild-Regime. Die breite Akzeptanz der eingeschränkten Souveränität innerhalb der Bevölkerung war ein Aktivposten der pK und häufig eine kostengünstige Variante nationaler Interessenpolitik. Auch das wiedervereinigte Deutschland ist trotz veränderter Rahmenbedingungen auf die Kontinuität der Außenbeziehungen (A.) in einem penetrierten System festgelegt.

Karl-Rudolf Korte
Autoritarismus

Unter der autoritären Persönlichkeit (aP) wird in den Sozialwissenschaften ein Menschentypus verstanden, der sich freiwillig Autorität unterwirft. Darüber hinaus wird die aP als rigide, dogmatisch, feindselig und kognitiv eingeschränkt beschrieben. Erst sekundär werden ihr Eigenschaften zugewiesen, die der alltags sprachliche Begriff „autoritär“suggeriert, nämlich dominant und aggressiv zu sein. Das Konzept der aP wurde in den 30er Jahren entwickelt. Es versuchte, die Erfolge des Faschismus in der Zeit der Weltwirtschaftskrise in Deutschland in einem sozialpsychologischen Rahmen zu erklären (→ Nationalsozialismus). Die Pioniere der Autoritarismusforschung — Reich (1933), Fromm, Horkheimer und Marcuse (1936) sowie später Adorno, Frenkel-Brunswik, Sanford und Levinson (1950) — waren davon überzeugt, daß dem Faschismus zuneigende Menschen zur Unterwerfung unter Autorität erzogen worden seien. Sie seien von daher prädisponiert, sich an den Versprechungen des Faschismus von Führung, Stärke und Macht zu orientieren. Mit diesem Ansatz wurde eine alte Frage der Philosophie der Aufklärung, die sich von Kant über Marx, Le Bon und Freud bis in dieses Jhdt. verfolgen läßt, wieder aufgenommen: Warum unterwerfen sich Menschen freiwillig autoritärer Herrschaft?

Detlef Oesterreich
Bildung

1. Der Begriff Bildung (B.) ist in der Tradition europäischer Erziehungsphilosophie seit der Antike mit dem Begriff Pädagogik eng verknüpft. Einerseits erzieht (= bildet) die ältere Generation nachwachsende Generationen zu ihrer Lebensform, ihren Überzeugungen und Sitten. Andererseits ist Paideia ein Programm zur Formung des Menschen „nach der Idee seines Selbst“(Herwig Blankertz). Damit ist jeder Erziehung und B. eine Spannung zwischen Herrschaft und Freiheit, Kollektivgeist und Individualität, Tradition und sozialem Wandel immanent.

Sylvia Greiffenhagen
Bündnis 90/Die Grünen

Der Erfolg der westdeutschen Grünen beendete die Phase des hyperstabilen westdeutschen → Parteiensystems, das seinen Kulminationspunkt 1976 erreicht hatte, als 99,1% der Wähler den drei im Bundestag vertretenen Parteien ihre Stimme gaben. Zu diesem Zeitpunkt hatte jedoch der außerparlamentarische Protest gegen den Ausbau der Kernenergie bereits einen ersten Höhepunkt erreicht. Die gewaltsamen Auseinandersetzungen in Brokdorf und Grohnde sowie die Entscheidung der niedersächsischen Landesregierung, ein überregionales Entsorgungszentrum zu bauen, verschärften die Proteste im Frühjahr 1977. Spätestens als sich die Regierungsparteien der sozial-liberalen Koalition im Herbst des gleichen Jahres für den Ausbau der Kernenergie aussprachen, war dies für viele Aktivisten der Anti-AKW-Bewegung Anlaß, die Erfolgschancen des außerparlamentarischen Protestes in Frage zu stellen und den Schritt in die Parteipolitik zu wagen. In verschiedenen Bundesländern traten ab 1977 grüne oder bunte Listen zu Kommunal- und Landtagswahlen an und erreichten Ergebnisse, die ein Überspringen der Fünf-Prozent-Hürde möglich erscheinen ließen. Voraussetzung hierfür war allerdings, auch dies zeigten die Ergebnisse deutlich, daß sich die verschiedenen, weltanschaulich teils sehr unterschiedlichen Gruppierungen in einer Partei vereinten. Ein komplizierter Prozeß des Zusammenwachsens verschiedener teils landesweiter, teils regionaler ökologisch und/oder alternativ orientierter Listen und Bürgerinitiativen führte schließlich zur ersten bundesweiten Wahlteilnahme anläßlich der Europawahl von 1979.

Thomas Poguntke
Bürgertum

Bürgertum (B.) läßt sich definieren als die idealtypische Verbindung unterschiedlicher Eigenschaftsmerkmale. Mit den Begriffspaaren von Besitz und → Bildung, sowie Eigeninteresse und Gemeinwohlorientierung, und (zweckfreier) Kreativität und Nützlichkeit lassen sich die grundsätzlichen Charakteristika eines Bürgers beschreiben. Der Begriff B. ist in seinem Verheißungspotential für den einzelnen wie in seiner Zumutung an individuelle Erfordernisse gleichermaßen der idealtypischen Einheit dieser unterschiedlichen und zum Teil gegensätzlichen Strukturmerkmale verpflichtet. Bürger zu sein bedeutete seit dem 18. Jhdt. immer auch, zum Bürger erst zu werden — diesem Ideal nachzustreben. Die vielfältigen Differenzierungen der Bürgersemantik in Bildungsbürger, Wirtschaftsbürger, Kleinbürger etc. beschreiben jeweils unterschiedliche Abweichungen von diesem Idealtypus. Die erstrebte Kombination dieser Eigenschaften prägte im 19. Jhdt. für lange Zeit das bürgerliche Selbstverständnis. Als individuelle Verheißung versprach das Bürgerideal Selbstständigkeit und persönliche Selbstvervollkommnung, als politische Zielutopie die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft unter liberalen Vorzeichen. Privates Eigentum, rechtsstaatliche Ordnung (→ Rechtsstaat), politische Freiheit, nationalstaatliche Einheit und Unabhängigkeit kennzeichneten die Grundpfeiler dieses Weltbildes.

Manfred Hettling
CDU/CSU

Seit der Reformation gehört der Gegensatz zwischen Protestanten und Katholiken zu den wichtigsten gesellschaftlichen Spaltungslinien in Deutschland. Mit der Gründung politischer Parteien im 19. Jhdt. nahm dieser Gegensatz eine parteipolitische Dimension an. Während das protestantische Lager sich nicht zu einer einheitlichen politischen Bewegung formierte, sondern den zahlreichen, beständig fluktuierenden liberalen und konservativen Gruppierungen zuneigte, war der katholische Bevölkerungsteil bereits im Paulskirchenparlament durch eine einheitliche Fraktion politisch repräsentiert. Diese fungierte als Keimzelle der 1871 auf der Reichsebene gebildeten Zentrumspartei. Bereits vor der Reichsgründung hatte die Minderheitenposition der Katholiken in Preußen die parteipolitische Formierung des Katholizismus beeinflußt, nach 1871 verstärkte der von Bismarck initiierte Kulturkampf gegen die katholische Kirche den Integrationsdruck. Der Versuch, den konfessionellen Konflikt durch Repression zu lösen, erwies sich als kontraproduktiv. Das Zentrum ging aus dem Kulturkampf konsolidiert hervor und arrangierte sich seit der Jahrhundertwende zunehmend mit dem preußisch-protestantisch geprägten Staat (→ Geschichtliche Phasen der BRD).

Oscar W. Gabriel
DDR

Der weltpolitische Rahmen seit 1945 von „Kaltem Krieg“und Entspannungspolitik bildete den historischen Hintergrund für die Versuche der DDR, auf die inneren Verhältnisse der Bundesrepublik Einfluß zu nehmen. Dabei oszillierten die DDR-Bemühungen zwischen dem weitgefaßten Ziel der frühen 50er Jahre, die DDR als Modell eines zukünftigen Gesamtdeutschland zu etablieren, und dem schmalen Grat von gleichzeitiger Entspannungs- und Abgrenzungspolitik zur Bundesrepublik in der Honecker-Ära. Nicht erst der offene Ausbruch des „Kalten Krieges“hatte zwei Jahre vor Gründung des ostdeutschen Staates die Chancen minimiert, im Westen Anhänger, Resonanz und Mobilisierungsfähigkeit für die Politik der SED zu gewinnen. Schon die zwangsweise Gründung dieser Partei im April 1946, die sich schnell zur hegemonialen Staats- und zugleich zu einer von stalinistischen Strukturen geprägten Apparatpartei wandelte, polarisierte letztlich unüberbrückbar das sich wieder formierende politische Spektrum ganz Deutschlands. Eine Verständigung zwischen der SED und den von ihr abhängigen „Bündnispartnern“auf der einen und den nichtkommunistischen Kreisen des Westens auf der anderen Seite war nach 1946 auch in Grundfragen deutscher Politik nicht mehr möglich.

Werner Müller
Demokratie

Demokratie (D.) bedeutet wörtlich übersetzt aus dem Griechischen Volksherrschaft. Das ist zwar ein klarer Gegensatz zur Alleinherrschaft eines Monarchen oder Tyrannen und auch zur Herrschaft einer Adelsgruppe (Aristokratie) oder einer Clique (Oligarchie). Aber die Begriffe „Volk“und „Herrschaft“bleiben äußerst vieldeutig. Wer ist das Volk? Nur die männlichen Vollbürger wie bis in das 20. Jhdt.? Oder alle, auch die Kinder? Wie herrscht es? Direkt in der Voll(Volks-)versammlung? Mittels Plebiszit oder Referendum (als Volksabstimmung)? Oder durch gewählte Repräsentanten (Volksvertretung, Parlament (→ Parlamentarismus))? In der berühmten Gettysburg-Rede hat der amerikanische Präsident Abraham Lincoln 1863 die Formel geprägt, D. sei „government of the people, by the people, and for the people“. Man kann daraus die drei Grundprinzipien der D. ableiten: Erstens die Verankerung in der Volks Souveränität (Herrschaft des Volkes), zweitens das Verfahren weitgehender politischer Teilhabe der Bevölkerung (Herrschaft durch das Volk) und drittens das Ziel einer sozialen Verantwortung der Politik (Herrschaft für das Volk).

Ulrich von Alemann
Demokratische Persönlichkeit

Die Vorstellung, daß es zwischen der seelischen Verfassung von Staatsbürgern und der politischen Verfassung eines Gemeinwesens bestimmte Entsprechungen gibt, gehört zu den zentralen Annahmen bereits der klassischen politischen Philosophie, insbesondere Piatons. In der Neuzeit wurde dieser Gedanke von unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Richtungen wiederaufgenommen, so der „Völkerpsychologie“(u.a. Wundt, Hellpach) und der „Nationalcharakterforschung“(z.B. Benedict, Gorer). Viele dieser Arbeiten waren von nationalistischen und z.T. rassistischen Vorurteilen geprägt und verallgemeinerten einige wenige zentrale Aspekte, z.B. frühkindliche Erfahrungen im psychoanalytischen Sinne, für ganze Gesellschaften. Erst zu einem späteren Zeitpunkt (z.B. bei Inkeles und Levinson) wurde die gesamte Reichweite möglicher Sozialisationserfahrungen (→ pS) für die → politische Bildung in Betracht gezogen und versucht, mehrere im statistischen Sinne „modale“, also jeweils mit besonderer Häufigkeit auftretende Persönlichkeitsmuster in ihrer gesamtgesellschaftlichen Verteilung zu erfassen.

Dirk Berg-Schlosser
Demoskopie

Demoskopie (D.) ist ein auf griechischen Wurzeln basierendes Kunstwort. Als Fachterminus hat es sich international nicht durchsetzen können, im Deutschen wird es vorwiegend als Synonym für die (kommerzielle) Meinungsforschung (public opinion research) benutzt. Einige Autoren (insbes. Noelle-Neumann) verstehen unter D. auch umfassender den gesamten Bereich der Umfrageforschung (survey research). D. soll hier als Erforschung von politischen Einstellungen und Meinungen mit Hilfe standardisierter Befragungen von repräsentativen Stichproben der Bevölkerung verstanden werden (→ Politisches Bewußtsein). Beispiele für diese Art der Sozialforschung sind Fragen nach der Wahlabsicht, der Popularität von Parteien bzw. → Politikern oder nach der Einstellung zu bestimmten Sachfragen (issues) wie etwa Arbeitslosigkeit, Währungsstabilität oder doppelte Staatsangehörigkeit.

Manfred Kuechler
Eliten

In den Sozialwissenschaften werden Eliten (E.) als Personen definiert, die sich innerhalb eines Sozialsystems (Organisation, Gemeinde, Gesamtgesellschaft) durch ihren herausgehobenen Einfluß auf strategische Entscheidungen auszeichnen. Dieser Einfluß kann auf formaler Entscheidungskompetenz oder aber auf persönlichem Prestige beruhen. Da in modernen Gesellschaften alle gesamtgesellschaftlich bedeutsamen Entscheidungen politische Implikationen haben, selbst wenn es sich dabei nicht um politische Entscheidungen im engeren Sinne handelt, kann man die Zugehörigkeit zu den E. auch über die Relevanz einer Person für den politischen Willensbildungsprozeß definieren. Die differenzierte Struktur solcher Gesellschaften bedingt darüber hinaus, daß E.-Status sich in aller Regel auf die Einnahme formaler Führungspositionen gründet, auch wenn Positionshöhe und tatsächlicher Einfluß nicht immer völlig deckungsgleich sind.

Ursula Hoffmann-Lange
Endogenität/Exogenität

Unter modelltheoretischer Perspektive versteht man unter Endogenität/Exogenität die Lokalisierung von Bestimmungsfaktoren und Gestaltungspotentialen einer Gesellschaft im Prozeß gesellschaftlichen Wandels. Während Endogenität (En.) als Erklärungsmodell darauf abstellt, daß Veränderungsprozesse im weitesten Sinne primär aus dem Inneren einer Gesellschaft selbst entstehen, hervorgebracht, gestaltet und orientiert werden, bezeichnet Exogenität (Ex.) diejenigen Faktoren, die Veränderungsprozesse in einer Gesellschaft überwiegend von außen induzieren, bestimmen und steuern. Innerhalb der sozialwissenschaftlichen Forschung hat das Begriffspaar En./Ex. durch den Prozeß der deutschen Vereinigung neue Prominenz erfahren. Die unter den Termini → Transition/Transformation gefaßten Übergänge einer Gesellschaft sowjetischen Typs zu einer demokratischen, marktwirtschaftlich und sozialstaatlich verfaßten Gesellschaft veranlaßten die Transformations- bzw. Transitionsforschung danach zu fragen, wodurch diese Übergänge und Veränderungen seit dem Fall der Berliner Mauer bedingt sind und hauptsächlich beeinflußt und gestaltet werden, und zu welchen Konfigurationen dieser Wandel insgesamt und im einzelnen geführt hat. En./Ex. sind vor diesem Hintergrund Aufmerksamkeitsfoki sozialwissenschaftlicher Forschung und in eine theoretische Struktur eingelassen, die empirische Forschung und Materialauswertung ausrichtet und anleitet.

Alexander Thumfart
Europa

Bemühungen zur (west-)europäischen Einigung fanden bereits in den ersten Nachkriegsjahren ein hohes Maß an Unterstützung. Für diese positive Grundeinstellung waren eine Reihe von Faktoren verantwortlich. Es fehlte die ungebrochene Tradition des Nationalstaates; dieser galt vielmehr als diskreditiert. In Widerstand und Untergrund erarbeitete Neuordnungskonzepte, die auf Kooperation und europäische Einigung setzten, hatten dazu beigetragen, eine integrationsbejahende Grundstimmung vorzubereiten. Mit der föderalen Tradition in Deutschland war die Erfahrung verbunden, daß die Eingliederung kleinerer Einheiten in ein größeres Ganzes ihre Identitäten nicht beseitigt. Die Beteiligung an der (west-)europäischen Einigung galt sodann als förderlich für die Erreichung wichtiger Ziele der BRD: Erlangung politischer Gleichberechtigung und Rückkehr in die Staatengemeinschaft; wirtschaftlicher Wiederaufbau; Sicherheit vor der als akut empfundenen Bedrohung durch die UdSSR, womit die westeuropäische Orientierung eine antikommunistische Komponente erhielt; schließlich auch die Wiedervereinigung Deutschlands. Mit Europa (E.) wurde Zukunft assoziiert.

Rudolf Hrbek
Externe politische Effektivität

Der Souverän einer → Demokratie ist das Volk. Dieses nimmt mehr oder weniger direkt an der politischen Entscheidungsfindung teil. In repräsentativen Demokratien erfolgt die Teilnahme in der Regel über die Auswahl von Repräsentanten aus einem breiten Personalangebot. Obwohl die Abgeordneten in modernen Demokratien nicht mehr über imperative Mandate an die Interessen der Wähler (→ Wahlen/Wähler) gebunden sind, wird von ihnen, den Parteien und dem politischen System als solchem aus normativer Perspektive eine Berücksichtigung der Bürgerinteressen im politischen Entscheidungsprozeß erwartet. Diese hat nicht allein die Wiederwahl zu sichern. Vielmehr kann sie als Verkörperung des demokratischen Elements dieser Regierungsform verstanden werden. Gleichzeitig dient sie zur Sicherung der dauerhaften → politischen Unterstützung von Seiten der Bevölkerung. Die Rücksichtnahme der → Politiker auf die Interessen der Bürger bzw. deren Chance, auf politische Entscheidungen Einfluß nehmen zu können, sollte sich als Aspekt der pK einer Demokratie in entsprechenden Einstellungen der Bevölkerung widerspiegeln. In der pKf werden diese Einstellungen u.a. als externe politische Effektivität (epE) oder External Efficacy bezeichnet. Sie stehen für die Wahrnehmung der Offenheit des politischen Systems für eigene Anliegen bzw. das Vertrauen in die Rücksichtnahme der Politiker und Parteien und geben Auskunft über den Grad der Verbundenheit zwischen Bürgern und politischem System. Außerdem wird vermutet, sie förderten die → politische Beteiligung der Bürger, indem sie die Erfolgschancen ihrer Partizipation erhöhen.

Angelika Vetter
Extremismus

Der Begriff Extremismus (E.) kommt im politischen und (politik-)-wissenschaftlichen Sprachgebrauch meist mit dem Richtungs-Zusatz Links- bzw. Rechts-E. vor, seltener als „E. der Mitte“. Als Adjektiva finden sich „links“- bzw. „rechtsextrem“oder „-extremistisch“, übrigens nie als Eigen-, immer als Fremdbezeichnung. Die Begriffe beziehen sich dabei auf Einstellungen oder Handlungen von Personen, auf Gruppen, Organisationen, Parteien, Medien und/oder → Ideologien bzw. Symbole. Jemanden/etwas als extrem zu bezeichnen, setzt eine Grenzziehung zu einem „Normal“-Bereich voraus, jenseits dessen der negativ besetzte Rand beginnt. Für die staatsrechtlich orientierte Diskussion gilt dabei als Abgrenzungsmerkmal die „Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates und seiner fundamentalen Werte und Spielregeln“(Backes/Jesse 1996: 45). Schon zu Beginn der Bundesrepublik hatte das BVerfG durch die Verbotsurteile gegen die SRP (1952) und KPD (1956) die juristische Grenzziehung vorgenommen und gleichzeitig die Mindestbestimmungen dafür definiert, was „freiheitliche demokratische Grundordnung“i.S. des Art. 21 GG heißen soll, nämlich eine Ordnung, „die unter Ausschluß jeglicher Gewalt- und Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche (→ Rechtsstaat) Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt.

Wolfgang Gessenharter
Familie

Lange Zeit glaubte man, daß in früheren Jahrhunderten Kinder, Eltern, Großeltern und Verwandte als Großfamilie (Familie = F.) unter einem Dach lebten, während heute nur noch Eltern mit Kindern in der modernen Kleinf. zusammenleben. Demgegenüber hat die historische F.-Forschung gezeigt, daß es auch schon in früheren Jahrhunderten in verschiedenen Regionen Europas Kernfamilienhaushalte gab (Ehmer u. a. 1997). Familiäre Lebensformen folgten niemals einfach den ökonomischen Entwicklungen, wie es die Vorstellung der zusammenlebenden und zusammenwirtschaftenden Bauern- und Handwerkerf. nahelegt, sondern waren immer auch Ausdruck politischer und sozialer Ordnungsvorstellungen von Gesellschaften. Die F. der Industriegesellschaft mit der funktionalen Arbeitsteilung zwischen dem Mann als Haupternährer und der Frau als Hauswirtschafterin und Erzieherin der Kinder, der räumlichen Trennung von Wohnung am Stadtrand und Arbeitsplätzen in bestimmten Bezirken der Stadt hat sich in dieser Form erst nach dem Zweiten Weltkrieg in Westeuropa und Nordamerika voll entfaltet.

Hans Bertram
FDP

Die Freie Demokratische Partei (FDP) wurde länderübergreifend im Dezember 1948 gegründet; nach Versuchen organisierter Zusammenarbeit mit der Liberaldemokratischen Partei Deutschlands (LDPD) in der SBZ dokumentierte die Begrenzung der FDP auf die Westzonen zugleich den Prozeß der deutschen Teilung, der 1949 durch die doppelte Staatsgründung seinen Abschluß fand. Den Spaltungen und Differenzierungen in der Geschichte des deutschen Liberalismus war damit eine Ost-West-Spaltung hinzugefügt. Bis dahin waren die (sich tendenziell überlagerten) → Konfliktlinien zwischen dem National- und dem Fortschrittsliberalismus und zwischen dem norddeutschen (preußischen) und dem süddeutschen Liberalismus charakteristisch gewesen (1867 Abspaltung der Nationalliberalen Partei von der Fortschrittspartei (später Freisinnige P.); 1919 blieben Teile der Nationalliberalen in der Deutschen Volkspartei (DVP) Stresemanns rechts von der Deutschen Demokratischen P. (DDP) — und rechts von der Weimarer Verfassung. In der FDP fanden sich erstmals beide vor 1933 auf insgesamt wenige Prozent Wähleranteil geschrumpften Strömungen zusammen, auf Honoratiorenbasis lose organisiert und mit Repräsentanten aus der Weimarer Zeit. Diese an heterogene Traditionen anknüpfende Partei, die sich nicht „liberal“nennen mochte, blieb in dem neuen, durchaus traditionell von Christlich-Konservativen und Sozialdemokraten dominierten → Parteiensystem der BRD die kleinste der stabilen Gruppierungen, getragen von meist weniger als 10%, oft nur von um die 5%, der Wählerschaft.

Theo Schiller
Feminismus

Der Begriff Feminismus (F.) von lat. „femina“= Weib/Frau, geht in der politischen Philosophie vermutlich auf den französischen Frühsozialisten Charles Fourier zurück und bezeichnet seit Mitte des 19. Jhdts. alle Bestrebungen, die die Freiheit und Gleichheit von Frauen einfordern. Um die Jahrhundertwende hießen Feministinnen in Deutschland vor allem die Vertreterinnen des radikalen und kämpferischen Flügels der bürgerlichen Frauenbewegung (Schenk 1980, Gerhard 1991). Diese sahen die Gründe für die Unterdrückung des weiblichen Geschlechts nicht nur in den fehlenden staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten oder in den Ausbildungs- und Berufsbeschränkungen, sondern sie problematisierten „die Aneignung der weiblichen Sexualität zum Zweck der Ausbeutung ihrer Reproduktionsfahigkeit durch den einzelnen Mann und/oder patriarchalische Institutionen“(Schenk 1980) als Prinzip einer patriarchalisch geprägten pK. Gemäßigtere bürgerliche Frauen distanzierten sich von diesen radikalen Positionen. In den 20er Jahren wurde der Begriff F. zunehmend pejorativ gebraucht und geriet ab dem → Nationalsozialismus gänzlich in Vergessenheit. Bis in die 80er Jahre hinein bezeichnet F. in Wörterbüchern ein „weibisches Wesen“oder „die Verweiblichung bei Männern“(Duden 1973, Meyers Enzyklopädisches Lexikon 1980).

Birgit Meyer
Föderalismus

Mit Föderalismus (F.) (lat. foedus = Bund) wird eine bündische Organisation des Staates bezeichnet. Damit soll insbesondere die kulturelle (ethnische, sprachliche, religiöse etc.) Autonomie der Gliedstaaten gesichert werden („Vielfalt in der Einheit“). Heute steht jedoch die „horizontale Gewaltenteilung“im Vordergrund, durch die ein direkter Durchgriff von der Zentrale auf den Einzelnen verhindert werden soll. Neben Deutschland sind auch Australien, Belgien, Indien, Kanada, Schweiz und USA Bundesstaaten. Zumeist schließen sich bislang selbständige Staaten zu einem Bundesstaat zusammen, indem sie einen Teil ihrer Souveränität auf den Bund übertragen. Im Staatenbund steht diese Übertragung unter Widerrufsvorbehalt, die Gliedstaaten können aus dem Bund austreten. Im Bundesstaat wird die Souveränität unwiderruflich übertragen, die Mitglieder können den Gesamtstaat nur im gegenseitigen Einvernehmen verlassen (z. B Tschechoslowakei). Andernfalls kommt es u.U. zum Krieg zwischen dem abtrünnigen Gliedstaat und dem Bund (z. B Jugoslawien). Im Gegensatz dazu enthält der Einheitsstaat keine föderalen Elemente, kann aber dezentralisiert sein. In der Praxis kommen auch Kombinationen von F. und Unitarismus vor.

Rüdiger Voigt
Frauen/Männer

Wenn von Frauen (F.) und Männern (M.) die Rede ist, glauben die meisten zu wissen, was gemeint ist. Diese Alltagsnähe und die scheinbare Selbstverständlichkeit der von der Natur vorgegebenen Polarisierung zwischen denjenigen, die Kinder gebären und denjenigen, die sie zeugen können, bergen die größten Miß-Verständnisse — im wissenschaftlichen, politischen wie privaten Kontext. Persönliche Meinungen, familiäre und kulturelle Wertvorstellungen sowie sozio-ökonomische Rahmenbedingungen und Interessen bringen im Zusammenhang mit den Kategorien „F.“, „M.“und „Geschlecht“ein ideologielastiges und anachronistisches Orientierungsmuster hervor: Vormoderne und biologisch begründete Annahmen vom Wesen der Differenz zwischen M. und F. und von der Natürlichkeit einer geschlechtsspezifischen gesellschaftlichen Arbeitsteilung bestimmen nach wie vor die pK moderner Industrienationen und zugleich die entsprechenden Richtungen der Politik- und Sozialwissenschaften. Den Diskurs um die Ordnung der Geschlechter aus dem Nebel unreflektierter Deutungen und nicht hinterfragter Machtverhältnisse herauszulösen, und um die Unterscheidung zwischen biologischem (sex) und sozialem Geschlecht (gender), darum geht es seit den 70er Jahren in der feministischen Theoriedebatte (→ Feminismus) und in ihrer Kritik an der herkömmlichen pKf. Die Zugehörigkeit zu einer der beiden Genus-Gruppen birgt in jeder Kultur unterschiedliche soziale Konsequenzen, Chancen und Risiken.

Birgit Meyer
Freizeit

Begrifflich ist Freizeit (F.) entweder als Restkategorie nach Abzug aller für die physische, psychische und soziale Reproduktion notwendigen Erfordernisse vom Zeitbudget (negative Definition) oder als Zeit für Muße, Befriedigung persönlicher Bedürfnisse oder Erholung (positive Definition) zu fassen (bzw. F. als subjektive Größe; als Zeit der Selbstverwirklichung, persönlichen Entfaltung, Zeit für sich). Begrifflich kann auch „Halb-F.“für Tätigkeiten wie Arbeitsessen oder „freie Zeit“als nicht mit zentralen Rollenpflichten ausgelastete Zeitmenge unterschieden werden. Historisch knüpft der Begriff, der 1881 erstmals in einem deutschen Lexikon erscheint und nicht mit der mittelalterlichen „freyzeyt“(Marktfriedenszeit) identisch ist, an die Muße-Ideale der griechisch-römischen Antike an, die eine positive Entwicklung aller menschlichen Möglichkeiten zum Ziel hatte. Erst seit 50 Jahren wird von einer „F.-Gesellschaft“gesprochen. F. wird als Charakteristik moderner und zukünftiger Gesellschaften betrachtet, weil die zwischen 1850 und 1950 extrem hohe Erwerbsarbeit rückläufig und die arbeitsfreie Zeit ansteigend ist. Arbeitspolare Definitionen werden neuerdings immer mehr durch Konzepte verdrängt, die F. als eigene Sphäre mit speziellen Dynamiken und Codierungen betrachten. Wenn der Arbeitsgesellschaft die → Arbeit auszugehen scheint, rücken andere Lebensbereiche in der Vordergrund. So können Konzepte wie Erlebnis-, Spaß-, Medien- oder eben F.-Gesellschaft einen prominenten Rang einnehmen.

Hans-Werner Prahl
Fremdenfeindlichkeit

F. bezeichnet in einem weit gefaßten Sinn die unterschiedlichsten Formen der Ablehnung und Abwehr nicht vertrauter oder unbekannter Personen und Personengruppen. Sowohl im alltäglichen als auch im wissenschaftlichen Sprachgebrauch wird der Begriff jedoch in der Regel in einem engeren Sinn verwendet und auf Personengruppen bezogen, die von „Einheimischen“ aufgrund oft nur vage definierter Merkmale als „fremd“ wahrgenommen und beurteilt werden. Im Unterschied zu anderen Merkmalen wie Schicht- oder Klassenzugehörigkeit orientieren sich diese Merkmale hauptsächlich an ethnischen Differenzierungen und damit an Charakteristika, die vermeintlich oder tatsächlich an Umstände der Geburt und Herkunft gebunden sind. Dazu können Besonderheiten der Hautfarbe, der → Sprache, der Kleidungsgewohnheiten oder der Wohn- und Lebensweise zählen, insofern diese als Ergebnis der Abstammung und kulturellen Prägung verstanden werden und sich von den zumeist ebenfalls kaum eindeutig benennbaren Eigenschaften der „Einheimischen“ unterscheiden (Banton 1997). Die dabei maßgeblichen Grenzziehungen beruhen somit auf Selbst- und/oder Fremdzuschreibungen kollektiver Eigenschaften und Zugehörigkeiten von Fremdgruppe und Eigen- bzw. „Wir“-Gruppe, deren konkrete Form sich ändern kann.

Stephan Ganter
Generationen

Mit dem Ausdruck Generationen (G.) werden sowohl Trägergruppen wie Prägungstypen einer pK bezeichnet. So spricht man etwa von der G. Adenauers im Sinne von Trägergruppen der pK der Nachkriegszeit, die durch gemeinsame Erfahrungen aus der Weimarer Republik und der Herrschaft des → Nationalsozialismus verbunden waren. Man spricht aber auch von der Adenauer-G. im Sinne eines Prägungstyps der Jugend in der Nachkriegszeit, die durch die Erfahrung des wirtschaftlichen Aufstiegs, der innenpolitischen Konsolidierung der Bundesrepublik und die pK der Adenauerzeit in ihren politischen Wertorientierungen beeinflußt wurde.

M. Rainer Lepsius
Geschichtliche Phasen der Bundesrepublik Deutschland

Der Begriff geschichtliche Phasen (Ph.) der Bundesrepublik Deutschland (gPhB) vermittelt die Vorstellung von einem historischem Prozeß, dessen Abschnitte unterscheidbar und zugleich kohärent sind. Sie mögen sich als Stufenfolge, sie mögen sich dialektisch aufeinander beziehen, etwa nach dem Hegeischen Bild Knospe-Blüte-Frucht. Die Geschichte der BRD ist durchaus als Folge von konträr sich aufeinander beziehenden Ph. interpretierbar. Auf krisenhafte Situationen folgen demnach Ph., in denen gesellschaftlich-soziale oder gesamtpolitische Veränderungen sowie kulturell-politische Neuorientierungen vorübergehend neue Stabilität erzeugen.

Hans Karl Rupp
Geschichtsbewußtsein

Geschichtsbewußtsein (G.) ist das Ensemble derjenigen mentalen Formen, Inhalte, Operationen und Prozeduren, in denen die Vergangenheit deutend vergegenwärtigt wird. Mit dieser Vergegenwärtigung gewinnt sie den Charakter von „Geschichte“. Sie macht gegenwärtige Lebensverhältnisse verständlich und ermöglicht die Entwicklung von Zukunftserwartungen als Handlungsperspektiven. Es handelt sich um eine Erinnerungs- und Gedächtnisleistung, die die Menschen um ihrer Verständigung über ihre Weltordnung und über sich selbst und um der Abgrenzung von Anderen willen erbringen müssen. Sie deuten die zeitlichen Veränderungen ihrer Welt im Medium der Erinnerung so, daß Kontingenz bewältigt wird. Eine für das menschliche Leben grundsätzlich bedeutsame Divergenz zwischen Handlungsabsichten und Handlungsergebnissen wird am Material der Erfahrung der Vergangenheit in die Vorstellung eines sinnvollen Zeitverlaufs hinein überwunden, der seinerseits wieder Handeln orientieren kann.

Ursula A. J. Becher, Katja Fausser, Jörn Rüsen
Gewalt/Politische Gewalt

Im Kern des Gewaltbegriffs stehen physischer Zwang und Verletzung, die anderen Menschen zugefügt werden. Darüber hinaus werden gelegentlich psychische Beeinträchtigung oder strukturelle (z.B. ökonomische) Benachteiligungen subsumiert. Ein enger physischer Gewaltbegriff ist wünschenswert, gerade um den Zusammenhang mit psychischen und strukturellen Phänomenen thematisieren zu können. Zwang und Verletzung sind seit jeher als Probleme angesehen worden, die massive Sanktionen zur Folge haben sollten oder aber explizite Legitimationen erforderten. Dies beruht nicht nur darauf, daß Menschen Freiheit, Unversehrtheit und Leben für sich selbst schätzen, sondern auch darauf, daß die Androhung physischer Gewalt als Basis von Macht überaus effizient ist und dadurch eine Fülle anderer Lebensbedingungen bestimmen kann. Damit steht sie in einem engen Zusammenhang mit Politik: Nicht jede Gewalt (G.) ist politisch, aber Politik hat immer auch etwas mit G. und G.-Begrenzung zu tun. Zur Durchsetzung oder Verhinderung politischer (d.h. für einen sozialen Verband verbindlicher) Entscheidungen ist G. ein zwar relativ sicheres, aber gleichzeitig kostspieliges Mittel, weil sie als Drohung auf Dauer gestellt sein muß und dadurch Ressourcen bindet. Eine politische Ordnung, die über friedliche Prozeduren der Entscheidungsfindung Alternativen zum gewalttätigen Machtkampf anbietet, erzeugt darum einen Abrüstungsvorteil (Vanberg 1978 im Anschluß an Buchanan 1975).

Roland Eckert
Gewerkschaften

Gewerkschaften (G.) sind formal organisierte Zusammenschlüsse von abhängig Beschäftigten mit dem Ziel, deren ökonomische und soziale Lage zu sichern und zu verbessern. Sie agieren auf der betrieblichen, der branchenspezifischen und der gesamtwirtschaftlichen Ebene sowie in Bezug auf das politische System. Zu den Instrumenten, die zur Durchsetzung der Interessen eingesetzt werden können, zählen vor allem der Streik, aber auch öffentlicher Druck, Informationspolitik (durch Stellungnahmen, Anhörungen, Expertisen), personelle Verflechtungen und Spenden (→ Verbände).

Josef Schmid
Globalisierung

Der Begriff Globalisierung (G). hat mit der zunehmenden Häufigkeit seiner Verwendung in Öffentlichkeit und → Massenmedien inzwischen den Charakter einer umgangssprachlichen Allerweltsfloskel angenommen. Diesem Sog haben sich erkennbar auch die einschlägigen, vor allem sozialwissenschaftlichen Fachdisziplinen nicht entziehen können; es fehlt bisher weitgehend, mit Ausnahme der Wirtschaftswissenschaften, an überzeugenden Versuchen, das Konzept in einen präzisen Theorie- und Analysekontext einzubetten. Ganz allgemein werden mit G. Prozesse der Entgrenzung bezeichnet: die Welt als globales, technologisch vernetztes Dorf, in dem jeder mit jedem kommunizieren kann — jedenfalls im Prinzip. Eine Besonderheit des gesellschaftlichen G.-Diskurses zumindest in der Bundesrepublik ist, daß die Vielfalt der mit dem Begriff verbundenen Konzepte nach Meinung zahlreicher Beobachter bei den Bürgern diffuse Gefühle von Unsicherheit und Angst auslöst. Als Grund hierfür wird aufgeführt, daß G. pauschal als eine unabweisbare und kaum steuerbare, weil definierten Akteuren nicht zurechenbare Entwicklung mit überwiegend negativen Folgen perzipiert werde. Diese Wahrnehmung, so das Argument, entstehe nicht zuletzt aus den politischen Instrumentalisierungen des Begriffs, mit denen z.B. die als notwendig geforderte Rücknahme gewohnter sozialstaatlicher Arrangements begründet wird. Es kann allerdings nicht überraschen, daß insbesondere in ökonomischer Sichtweise demgegenüber die mit der G. verbundenen Chancen hervorgehoben werden (Berg 1999).

Max Kaase
Grundgesetz

Die Gründung des westdeutschen Teilstaates wurde oktroiert; aber das GG entstand als zweiter Versuch, in Deutschland einen demokratischen Verfassungsstaat zu errichten. Dabei wurden demokratische, rechtsstaatliche und föderative Elemente mit dem Sozialstaat verknüpft. Das GG ist nicht erkämpft oder ertrotzt worden, aber es manifestiert eine Absage an die Vergangenheit. Es soll eine Wiederholung dessen unmöglich machen, was in Deutschland am Ende der Weimarer Republik und nach 1933 geschehen war. Das GG hat die ihm gestellte Aufgabe erfüllt und wesentlich dazu beigetragen, in Deutschland demokratisches Verhalten und das Bewußtsein der Bedeutung der Menschenrechte zur Entfaltung zu bringen.

Jürgen Seifert
Identität

Das politikwissenschaftliche Verständnis von Identität (I.) erfaßt in demokratietheoretischer Hinsicht die vollkommene Übereinstimmung oder Gleichheit von Herrschern und Beherrschten zur Gewährleistung direkt ausgeübter Volkssouveränität. Diese ideengeschichtlich geprägte Auffassung wird mittlerweile ergänzt und zunehmend ersetzt durch die sozialpsychologisch orientierte Bedeutung des Begriffs, die zwischen den beiden Dimensionen personaler und kollektiver I. unterscheidet sowie auf das Selbstverständnis eines Individuums, einer Gruppe oder einer Gesellschaft zielt, dessen Stabilität und Kontinuität auf Integration, Kohäsion und Konsens basieren, dessen Dynamik und Pluralität hingegen von Konflikten, Widersprüchen und Dissens motiviert werden. Die I. von Großgruppen entwickelt sich in Prozessen sozialer Interaktion und Kommunikation als Selbstverortung im Zeichenraum sowie in der Spannung zwischen Bestätigung und Aktualisierung von Wissen, Normen und Beurteilungen. Als Selbstdefinition verarbeitet diese Identifikation auch Fremdzuschreibungen von Eigenschaften und bezieht sich auf die Vergangenheit in Form eines kollektiven Gedächtnisses, das die Erinnerungen an gemeinsam erlebte bzw. erlittene Ereignisse speichert, auf die Gegenwart in Form eines Orientierungsrahmens bei der aktuellen Wahrnehmung und Ordnung von Informationen zur Konstruktion von Sinn sowie auf die Zukunft in Form antizipierender Projektion möglicher Entwicklungen.

Wolfgang Bergem
Ideologie

Im allgemeinen Sprachgebrauch wird der Begriff der (politischen) Ideologie (I.) (aus frz. idée: Idee, Vorstellung) im Sinne von Weltanschauung oder politischem Überzeugungssystem gebraucht. Weitere Einengungen knüpfen sich an den Begriff, wenn der Aspekt des Doktrinären oder Dogmatischen betont wird. In dieser Akzentuierung lassen sich I. auf politische Lehrgebäude eingrenzen, die (1) umfassende Gesellschaftsdeutungen propagieren, (2) mit einem imperativen Gestaltungsanspruch auftreten, (3) demzufolge eine Programmatik für politisches Handeln proklamieren und die sich (4) in Form von Parteien oder anderen Organisationen institutionalisieren (Shils 1968). Auch die wissenschaftliche Begriffsverwendung variiert zwischen dem engen Verständnis im Sinne von Dogma und dem weiten Verständnis im Sinne von Überzeugungssystem. Dem weiteren Verständnis zufolge ist jede Untersuchung von politischen Überzeugungen zugleich eine Untersuchung von I. Damit erfolgt eine Gleichsetzung von I.-Forschung mit pKf. Der Ursprung der heutigen Begriffsverwendung liegt in der Pariser Schule der „Ideologen“, die A. Destutt de Tracy (1754–1836) in den Nachwehen der Französischen Revolution begründete. Von aufklärerischen Motiven geleitet, war das Anliegen dieser Schule eine Vorurteilslehre, die nachweisen sollte, wie sehr die damals geltenden Moralvorstellungen auf empirischen Unwahrheiten basierten. Napoleon ging der gesellschaftskritische Impetus zu weit, so daß er die „Ideologen“1812 desavouierte.

Hans-Dieter Klingemann, Christian Welzel
Individualisierung

Fachbegriffe, die nahe an der Alltagssprache sind, haben es schwer und leicht zugleich: Sie müssen nicht erklärt werden, weil ja jeder vermeint, ihn zu kennen, aber genau dadurch schleppen sie einen uneindeutig-vagen Bedeutungshof mit sich herum. Die einfachen Begriffe im alltagssprachlichen Gebrauch erweisen sich bei genauerer Analyse als höchst voraussetzungsvoll und komplex. Die Gefahr der mangelnden begrifflichen Eindeutigkeit resultiert bei der Individualisierung (I.) allein schon aus der Verwandtschaft mit sehr ähnlichen Begriffen. Wer wüßte nicht sofort, was gemeint ist, wenn vom „Individuum“die Rede ist: Eine einzelne Person in ihrer von anderen Personen unterscheidbaren Verknüpfung spezifischer Merkmale. Vom lateinischen Wortstamm her soll mit dem Individuumsbegriff etwas „Unteilbares“erfaßt sein. In der griechischen und mittelalterlichen Philosophie ist er für das Atom verwendet werden, also für eine nicht weiter aufspaltbare Grundeinheit der Welt. Aber so wie inzwischen die Spaltbarkeit des Atoms möglich ist, so ist auch die Vorstellung, das Individuum sei etwas Letztes und nicht mehr hintergehbares, längst dekonstruiert. Bereits Litt sieht im Zusammenhang mit dem Individuumsbegriff die „Gefahr vielfacher Begriffsverwirrung“(1926: 163). Das habe damit zu tun, daß er ungenügend von solchen Begriffen wie „Individualität“, „Individualismus“, „Individuation“oder „I.“abgegrenzt sei, die ihn ja alle im Wortstamm aufbewahren.

Heiner Keupp
Innere Sicherheit

In deskriptiver Hinsicht kann innere Sicherheit (iS) definiert werden als ein System von staatlichen Institutionen und Einrichtungen, die durch Verfassung und Organe der demokratischen Willensbildung legitimiert sind, das öffentliche Gewaltmonopol im Rahmen kodifizierter Regeln exekutiv unter Anwendung auch von unmittelbaremZwang auszuüben. IS ist in diesem Sinne weiterführend als ein Politikfeld zu verstehen. IS als Politikfeld weist darauf hin, daß an der zugrunde liegenden Politikproduktion neben den exekutiven Institutionen und Einrichtungen (vor allem Polizei und Staatsanwaltschaften) weitere Akteure beteiligt sind; zu nennen sind die Innenministerien, parlamentarische Institutionen (Ausschüsse), des weiteren Parteien und → Verbände (Polizeigewerkschaften) sowie föderale Verhandlungsgremien (Innenministerkonferenz, Ausschüsse des Bundesrates; Lange 1999). IS in normativer Hinsicht zu definieren, hieße, materiell zu bestimmen, welche Form und welches Maß ein von den beauftragten Behörden exekutiertes Konzept „innerer“Sicherheit gesellschaftlich und politisch wünschbar wäre. Die verschiedenen nationalen und politischen Systeme geben hierauf sehr gegensätzliche Antworten, die auf unterschiedliche, historisch vermittelte Einstellungs- und Wertemuster zurückzuführen sind. Für den Zusammenhang von pK und iS ist von Interesse, welcher systematische Zusammenhang zwischen dieser politisch-kulturellen Konfiguration eines politischen Systems und der Legitimation, Struktur und Funktionsweise des jeweiligen staatlich-institutionellen Sicherheitssystems besteht.

Hans-Jürgen Lange
Intellektuelle

Die Stellung der Intellektuellen (I.) hängt in Deutschland eng mit der Geschichte des → Bürgertums zusammen. Seine demokratiegeschichtliche Verspätung (→ Politische Traditionen) hat auch das Verhältnis von Geist und Macht beeinflußt. Während die ersten parlamentarischen Staaten Europas ihren I. schon früh politische und publizistische Wirksamkeit boten, waren die deutschen I. bis ins 20. Jhdt. weithin zur Rolle des applaudierenden oder heimlich kritisierenden Zuschauers der Politik verurteilt. Ihre ökonomische Lage war meist miserabel (Hauslehrer), und immer neue Wellen von Zensur zwangen viele von ihnen entweder in die Emigration (Heine, Marx), zur Aufgabe ihres Amtes (die „Göttinger Sieben“) oder zur Anpassung an die Politik der alten Mächte (Fontane). Feudale Anschauungen (monarchisches Prinzip) verbanden sich mit bürgerlichem Selbsthaß, Vernunftfeindschaft, Kulturkritik und Antiparlamentarismus. Die Ereignisse von 1848 unterbrachen für kurze Zeit die sich in der I.-Kultur des deutschen Bürgertums spiegelnden feudalen Tendenzen. Das Paulskirchenparlament versammelte eine große Zahl liberaler Geister. Durch die nachfolgende Reaktion verloren die deutschen I. den Anschluß an die Entwicklung in den westeuropäischen Staaten. Das antidemokratische Denken entwickelte eine spezifisch deutsche Tradition, die durch Unterscheidungen von Kultur und Politik, Moral und Politik und die Flucht in mancherlei Innerlichkeiten (die „Reiche“der Natur, der → Familie, der Kunst und Musik, der Philosophie) gekennzeichnet war.

Martin Greiffenhagen
Interpersonale Kommunikation

Neben der Massenkommunikation (→ Massenmedien) stellt die interpersonale Kommunikation (iK), also das Gespräch mit anderen Menschen bzw. die politische Diskussion, eine Verbindung zwischen dem einzelnen und seiner politischen Umwelt her. Sie erfüllt vor allem Sozialisations- und Integrationsfunktionen (→ pS). „Im persönlichen Austausch über politische Themen mit Personen des sozialen Umfeldes findet die Koorientierung mit den Meinungen anderer statt. Dadurch entsteht subjektiv geteilter Sinn und damit die Möglichkeit sozialverankerter Meinungsbildung“(Voltmer u. a. 1995: 231). IK leistet somit einen wichtigen Beitrag für die Verständigung der Mitglieder einer Gesellschaft über allgemeine Werte und Normen sowie über Einstellungen zu politischen Sachfragen (→ Öffentliche Meinung). Nicht zuletzt aus diesem Grund gilt die Teilnahme an politischen Diskussionen in normativen wie in empirischen Demokratietheorien als Merkmal eines Aktivbürgers bzw. einer Bürgergesellschaft. Sie stellt eine Vorstufe zur → politischen Beteiligung dar, indem sie eine Brücke zwischen passiver Information und aktiver Beteiligung schlägt. Mit ihr erfolgt der Übergang von den „Zuschauer-“zu den „Gladiatorenaktivitäten“(Milbrath 1965).

Frank Brettschneider
Kindheit/Jugend

Kindheit und Jugend waren im Industriezeitalter eindeutig definiert: Solange die Kinder bei den Eltern zu Hause lebten und die Schule besuchten, das heißt bis zum Eintritt in die Lehre, dauerte die Kindheit. Die Jugendphase endete mit dem Auszug aus dem Elternhaus, der ökonomischen Selbständigkeit und der Begründung einer eigenen → Familie. In den 50er und 60er Jahren dieses Jhdts. markierte in der Regel die frühe Heirat zwischen dem 22. und 24. Lebensjahr das Ende der Jugendphase. Die Regulierung von Kindheit und Jugend bezog sich aber nicht nur auf die Verantwortlichkeiten von Eltern, Schule und Lehrherrn, sondern umfaßte weite Bereiche kindlicher und jugendlicher Handlungsmöglichkeiten, von der Erlaubnis, bestimmte Veranstaltungen bis zu einer bestimmten Uhrzeit besuchen zu dürfen, bis zur Regulierung von Jugendsexualität. Hinter diesen vielfältigen Regulierungen stand die Vorstellung der Dreiteilung des Lebenslaufs von Menschen, dem Modell der Lebenstreppe folgend: Kindheit und Jugend wurden als Vorbereitungszeit für das Erwachsenenalter angesehen, um die sozialen, kognitiven und persönlichen Fähigkeiten zu entwickeln als notwendige Voraussetzung für eine aktives und erfolgreiches Erwachsenenalter, das seinerseits wiederum Voraussetzung für den verdienten Ruhestand war.

Hans Bertram
Kirchen

Wie das Verhältnis der Kirche (K.) als Repräsentation religiösen Glaubens zur verfaßten K., ihrer Sozialgestalt der verheißenen „Gemeinschaft der Heiligen“zu bestimmen ist, diese Frage ist von alters her das zentrale Problem der theologischen Reflexion über die K. Um die Spannung zwischen der geglaubten und der empirischen K. zu bewältigen, versucht man in der Theologie gewöhnlich, biblische Begriffe und Kriterien wie „Volk Gottes“oder „Leib Christi“mit der heutigen Realität zu konfrontieren oder zu verbinden. Mit besonderer Stringenz hat dies die „Barmer Theologische Erklärung“von 1934 getan, wenn es dort in der dritten These heißt: „Die christliche Kirche ist die Gemeinde von Brüdern (und Schwestern), in der Jesus Christus in Wort und Sakrament durch den Heiligen Geist als der Herr gegenwärtig handelt. Sie hat mit ihrem Glauben wie mit ihrem Gehorsam, mit ihrer Botschaft wie mit ihrer Ordnung mitten in der Welt der Sünde zu bezeugen, daß sie allein sein Eigentum ist, allein von seinem Trost und von seiner Weisung in Erwartung seiner Erscheinung lebt und leben möchte.“Hier wird der Konnex zwischen der geglaubten und der erfahrenen K. so stark hervorgehoben, daß sich das Mißverständnis aufdrängen kann, als sei die gesellschaftliche mit der geglaubten Realität deckungsgleich. Beide Aspekte sollten zwar nicht voneinander getrennt werden, dennoch sind sie zu unterscheiden.

Hans Norbert Janowski
Kommunen

Die Kommunen (K.) (Gemeinden) in Deutschland sind faktisch, wenn auch nicht staatsrechtlich, eine eigenständige politische Ebene, nicht nur von ihren Aufgaben und der politischen Willensbildung her, sondern auch in politisch-kultureller Hinsicht. Wenn unter pK (u.a.) die Einstellungen der Bürger zu den Institutionen verstanden werden, dann gilt das auch für die kommunale Ebene. Für die Ebene der Gemeinde charakteristisch sind die Dominanz konkordanzdemokratischer Politikmuster, die geringere Rolle von Parteipolitk und — auch als erklärender Faktor — die mangelnde Ausdifferenzierung des politischen Systems gegenüber dem sozialen System. Diese Charakteristika schwächen sich mit zunehmender Ortgröße ab, ohne jedoch selbst in den Großstädten ganz zu verschwinden. Zu beachten ist allerdings, daß von den 14.561 Gemeinden in Deutschland nur 40 über 200.000 Einwohner aufweisen, also echte Großstädte sind, davon allein 16 in NRW. In diesen Großstädten leben gerade einmal 24,4% der Menschen, während 42,4% in Gemeinden bis zu 20.000 Einwohner wohnen. Nur Berlin, Hamburg und München sind Millionenstädte.

Hans-Georg Wehling
Konflikt/Konsens

Konflikte (K.) sind ein konstitutives Element demokratischer Gesellschaften, sie sind ihnen funktional. In diesem Sinne läßt sich die Demokratie auch als ein umfassendes System der K-Regelung bezeichnen. K. sind die treibende Kraft des → sozialen Wandels, ohne sie würde eine Gesellschaft im politischen und sozialen Status quo erstarren. Ein entwickeltes K.-Bewußtsein der Bürger ist ein Indiz für ihre politische Reife. Das Ziel einer konfliktfreien Gesellschaft ist eine Fiktion. Auch die vorgetäuschte K.-Losigkeit totalitärer Regime wird nur durch die Unterdrückung von K. erreicht.

Klaus Wasmund
Konfliktlinien

Eine ausdifferenzierte Gesellschaft ist eine konflikthafte Gesellschaft, in der sich soziale und politische Strukturen entlang dauerhafter Konfliktlinien (K.) organisieren. K. oder englisch „cleavages“trennen bestimmte, meist sozialstrukturell (→ Sozialstruktur) voneinander unterscheidbare Bevölkerungsgruppen anhand politischer Überzeugungen und Werthaltungen. Sie haben prägenden Einfluß auf das Wertesystem einer pK, indem sie seine Basis bilden sowie es zugleich differenzieren und fragmentieren. Alle westlichen Industriegesellschaften werden von K. geprägt, wobei sich nur einige wenige als dauerhaft erwiesen haben. Dazu zählen die K. zwischen dominanter und unterworfener Kultur (Zentrum-Peripherie-Konflikt) und der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit.

Rainer-Olaf Schultze, Tanja Zinterer
Lebenszufriedenheit/Lebensqualität

Lebenszufriedenheit (Lz) ist eine individuelle Zielvorstellung, Lebensqualität (Lq) ist eine moderne Leitidee für die gesellschaftliche Gestaltung der Lebensverhältnisse. Beide Konzepte stehen in engem Zusammenhang. Während Lz eine Kategorie des subjektiven Wohlbefindens darstellt, ist Lq breiter und beinhaltet subjektiv wahrgenommene Lq und objektiv vorhandene Lebensbedingungen. Das Konzept Lq ist sinngemäß bereits bei antiken Philosophen vorhanden und taucht in wörtlicher Form („quality of life“) erstmals in der Wohlfahrtsökonomie der 20er Jahre bei Pigou auf. Eine herausragende gesellschaftspolitische Bedeutung gewinnt das Konzept der Lq aber erst in den 60er und 70er Jahren: Es entwickelt sich zur zentralen Zielvorstellung, die dem in der Wohlstandsgesellschaft weit verbreiteten wirtschaftlichen Wachstumsdenken entgegengesetzt wird. Seitdem besteht in dem Konzept der Lq ein moderner Maßstab für die Bewertung gesellschaftlichen Fortschritts. Es stellt einen mehrdimensionalen Wohlfahrtsbegriff dar, der im emphatischen Sinn gute „objektive“Lebensbedingungen und hohes „subjektives“Wohlbefinden beinhaltet und neben der individuellen Bedürfnisbefriedigung auch die kollektive Wohlfahrt mit einbezieht. Lq wird quer zu den herkömmlichen politischen → Konfliktlinien befürwortet und auch abgelehnt. Sozialwissenschafder haben in Deutschland (Glatzer/Zapf 1984, Zapf/Habich 1996) und vielen anderen Ländern begonnen, „Lq“zu messen und ihre Entwicklung in verschiedenen Dimensionen zu beobachten; internationale Organisationen wie die UN, die OECD und insbesondere die EU (Eurobarometer) haben sich ebenfalls dieser Aufgabe angenommen.

Wolfgang Glatzer
Massenmedien

Die Massenmedien (M.) — Presse und Rundfunk (Hörfunk und Fernsehen) — sind für die pK eines demokratischen Landes in vielerlei Hinsicht von Bedeutung. Sie dienen der → pS, indem sie die Bürger mit den Spielregeln für die Austragung politischer Konflikte sowie mit den relevanten politischen Akteuren vertraut machen (→ pS: Massenmedien). Darüber hinaus beziehen die meisten Menschen in westlichen Demokratien ihre politischen Informationen fast ausschließlich aus den M. Sie sind als Informationsquelle über das politische Geschehen sogar wichtiger als Gespräche mit anderen Menschen (→ Interpersonale Kommunikation). Es liegt daher auf der Hand, daß Art und Umfang der Medienberichterstattung und ihre Nutzung eng mit dem → politischen Interesse, der → politischen Informiertheit, der → politischen Kompetenz und der → politischen Beteiligung der Menschen verknüpft sind. Diese Aspekte beziehen sich in erster Linie auf die Bedeutung der M. für die individuelle Anteilnahme an Politik. So gesehen ist eine umfassende und pluralistische Berichterstattung über Politik eine Voraussetzung für eine Bürgeroder partizipatorische Kultur.

Frank Brettschneider
Milieus/Lebensstile

Der Begriff des Milieus (M.) als soziologische Analysekategorie hat eine lange Tradition und diente zunächst dazu, die Gesamtheit der durch die soziale und räumliche Umwelt gegebenen Einflüsse auf das Individuum zu erfassen. Der erste soziologische Klassiker, bei dem der Begriff des M. explizit als zentraler theoretischer Bestandteil auftaucht, ist Durkheim (1980), der zwischen einem äußeren sozialen M. unterschied, das sich auf die Gesellschaft im nationalstaatlichen Rahmen bezog und einem inneren M., das den Einfluß der lokalen und personalen Umwelt konzeptualisierte. In den 20er Jahren des letzten Jhdts. nahm Scheler den M.-Begriff wieder auf und gab ihm, in Abgrenzung zur objektivistischen Begrifflichkeit der Naturwissenschaften, eine Wendung, welche die Symbolisierungsleistungen des Subjekts und die vorbewußte, routinisierte Ordnungsfunktion m.-typischer Wissensbestände in den Vordergrund stellte. Sein Schüler Gurwitsch faßte unter diesem Begriff alle Formen des Zusammensein mit anderen, wobei er sich insbesondere auf die Partnerschaft, die Zugehörigkeit und die Verschmelzung als typische Dimensionen der M.-Bildung bezog. Während des Faschismus und der durch eine Dominanz modernisierungstheoretischer Ansätze charakterisierten Nachkriegsperiode wurde auf den M.-Begriff nur in geringem Umfang bezuggenommen, ein Tatbestand, der sich erst zu Beginn der 70er Jahre änderte. Mit der Konjunktur qualitativ-sinnrekonstruierender Ansätze gewannen kleinräumige M.-Analysen, etwa auf der Ebene der Beschreibung von Jugendkulturen, eine zunehmende Bedeutung.

Werner Georg
Militär

Das Militär (M.) oder „Militärisches“bildet in der deutschen Geschichte einen beherrschenden Bestandteil der pK. Noch heute gelten im Ausland klassische militärische Tugenden wie Disziplin, Ordnung oder Pflichtbewußtsein als charakteristische Merkmale für die Bevölkerung der BRD (→ Selbstbild/Fremdbild). Entgegen dem nationalen Stereotyp hat sich in der BRD Entscheidendes gegenüber etwa dem Kaiserreich gewandelt, als es einem Unteroffizier noch dienstlich verboten war, die Tochter eines Sozialdemokraten zu heiraten (→ Politische Traditionen, SPD). Unter dem Gesichtspunkt der militärischen Vergangenheit Deutschlands sind einige Entwicklungen, vor allem in den 50er Jahren, besonders erwähnenswert, welche einmal das Verhältnis der Bevölkerung zu Streitkräften und zu militärischen Auseinandersetzungen und zum anderen den Aufbau und die politischgesellschaftliche Position der Bundeswehr nachhaltig beeinflußten.

Ralf Zoll
Minderheiten/Randgruppen

Als Minderheiten (M.) bezeichnet man ethnische Teilpopulationen (Volksgruppen) in einer nationalen Gesellschaft, die sich aufgrund tatsächlicher oder vermeintlicher Merkmale (wie → Sprache, Rasse, nationale Herkunft, Religion) von einer dominanten Bevölkerungsmehrheit (dem Staatsvolk) unterscheiden.

Manfred Markefka
Multikulturelle Gesellschaft

Multikulturelle Gesellschaft (mG) ist ein Entwurf zur Ordnung des Miteinanders von Angehörigen verschiedener → Nationen/Ethnien in der BRD. MG zielt auf einen → Wertewandel und normative bzw. appellative Verhaltenssteuerung. Es handelt sich nicht um einen beschreibenden oder analytischen Begriff — nahezu alle, die daraus Handlungsanleitungen pro oder contra ableiten, betonen, daß die mG (noch) nicht erreicht ist. Die empirische Multikulturalität bleibt damit im Hintergrund. Daß es demographisch, regional, sozial, religiös usw. und eben ggf. auch ethnisch unterscheidbare Kulturen (z.B. als Jugendkultur) der Gesellschaft der BRD wie in allen Gesellschaften gibt, ist eine Selbstverständlichkeit, die den Stellenwert der mG in der politischen Semantik nicht erklärt. Gleiches gilt für die Tatsache, daß — jedenfalls in Mitteleuropa — alle Kulturen geschichtlich betrachtet Mischkulturen sind.

Arnulf von Heyl
Nation

Die Frage der Genese und damit verbunden die der Definition von Nation (N.) ist in der Forschung nach wie vor sehr kontrovers. Die Positionen hierzu lassen sich entlang eines Spektrums von Primordialismus vs. Konstruktivismus ordnen. Den primordialistischen Pol dieses Spektrums bildet die Vorstellung, bei der N. handele es sich um eine gott- oder naturgegebene, vom menschlichen Willen unabhängige, objektive und organische Einheit. Über historische Prozesse der Entwicklung von biologischen Abstammungsgemeinschaften zu Kulturgemeinschaften würde sie aus einem latenten in einen ihrer selbst bewußten Zustand übergehen und einen transzendental begründeten Anspruch auf politische Selbstbestimmung stellen. Der konstruktivistische Gegenpol versteht N. als soziale Erfindung des menschlichen Geistes, die keinerlei festschreibbare objektive Determinanten habe, sondern auf völlig unterschiedlichen Grundlagen beruhen könne. Die für die primordiale Sichtweise zentrale Ethnie wird dabei als Ergebnis einer zumeist interesse- und elitengesteuerten Bewußtseinsbildung angesehen.

Bettina Westle
Nationalsozialismus

Im Rahmen der öffentlichen Debatte der BRD wird mit dem Begriff „Nationalsozialismus“(N.) sowohl ein Herrschaftssystem eigener Art als auch jener Abschnitt der deutschen Geschichte, die wesentlich von diesem Herrschaftssystem geprägt wurde, bezeichnet. Als Herrschaftssystem läßt sich der N. grob unter antiparlamentarische, antigewerkschaftliche, von einer Massenbewegung an die Macht gebrachte und von charismatischen Führern regulierte bürgerliche Diktaturen, kurz unter die Faschismen zählen. Im Unterschied zu allen Faschismen sticht der N. jedoch durch eine konsequent exekutierte, rassistische → Ideologie mit den Versatzstücken Antisemitismus, Rassenanthropologie und -hygiene hervor, die zur historisch beispiellosen, grausamen Ermordung von zehntausenden von Geisteskranken, hunderttausenden von Sinti und Roma, sechs Millionen europäischer Juden sowie Millionen sowjetischer Kriegsgefangener führte. Nach innen ein po-lykratischer Maßnahmen- und Polizeistaat ohne Gewaltenteilung, geregelte Zuständigkeiten und Rechtssicherheit, mit bescheidenen sozialstaatlichen Vergünstigungen für willkürlich bestimmte Gruppen von „Volksgenossen“, trat der nationalsozialistische Staat spätestens seit 1939 als expansionistischer Kriegsstaat auf, der den Zweiten Weltkrieg verursachte, insgesamt zweiundfünfzig Millionen Menschen das Leben kostete, den Verlust der deutschen Ostgebiete, die Vertreibung ihrer Bewohner sowie die mehr als vierzig Jahre währende Teilung des restlichen Deutschland zur Folge hatte.

Micha Brumlik
Neue Bundesländer

Die neuen Bundesländer (nB) sind die 1990 wiedergegründeten deutschen Länder auf dem Gebiet der → DDR, deren späteres Territorium durch die Siegermächte des zweiten Weltkrieges der sowjetischen Besatzungszone zugeschlagen wurde. Die Länder Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Thüringen und Sachsen wurden 1945 durch die Besatzungsmacht gegründet, jedoch durch die DDR 1952 wieder abgeschafft. Eine Ausnahme stellt Ostberlin dar. Nachdem es Hauptstadt der DDR war, konstituiert es seit 1990 nach dem Ende der Verantwortlichkeit der vier Besatzungsmächte für Gesamt-Berlin zusammen mit Westberlin das nunmehr „normale“Bundesland Berlin. Berlin wurde mit knapper Mehrheit des Bundestages wieder zur deutschen Hauptstadt bestimmt, der Regierungsumzug ist vollzogen. Die Fusion von Berlin und Brandenburg zu einem gemeinsamen Bundesland scheiterte 1996 bei einer Volksabstimmung am Widerstand der Brandenburger und auch der Ostberliner, obwohl der populäre brandenburgische Ministerpräsident Manfred Stolpe vehement für die Fusion geworben hatte.

Thomas Gensicke
Neue Soziale Bewegungen

Soziale Bewegungen sind auf eine gewisse Dauer gestellte und durch eine kollektive → Identität abgestützte Versuche von Gruppen, Organisationen und Netzwerken, grundlegende gesellschaftliche Veränderungen überwiegend mit Mitteln des öffentlichen Protests herbeizuführen oder zu verhindern. Von spontanen und einmaligen Protesten unterscheiden sich soziale Bewegungen durch ein höheres Maß an Kontinuität, das durch die Ausbildung eigener Organisationsformen ermöglicht wird. Dabei ist zentral, daß Bewegungen durchaus Organisationen unterschiedlichster Art hervorbringen (→ Vereine, Parteien, → Verbände etc.), aber nicht in ihnen aufgehen, solange sie soziale Bewegung bleiben wollen. Je nach Orientierung und Radikalität kann z.B. zwischen revolutionären und reformerischen, zwischen progressiven und reaktionären, zwischen auf politische Strukturen oder individuelle Verhaltensänderungen gerichteten Bewegungen unterschieden werden.

Roland Roth, Dieter Rucht
Öffentliche Meinung

So häufig, wie der Begriff „Öffentliche Meinung“(öM) in Politik, Wissenschaft und Journalismus verwendet wird, so unterschiedlich und vielfältig sind die Vorstellungen, die sich mit ihm verbinden. Das Integrationskonzept öM läßt sich bis in die Antike zurück verfolgen. Demzufolge regelt öM das Verhältnis der einzelnen Gesellschaftsmitglieder zur Gesamtgesellschaft. Sie trägt zur Selbstverständigung einer Gesellschaft über allgemein akzeptiertes Verhalten und allgemein akzeptierte Auffassungen bei und sichert so den Zusammenhalt und die Handlungsfähigkeit des Gemeinwesens. ÖM drückt sich beispielsweise in den Sitten und Gebräuchen aus, die in einer Gesellschaft vorherrschen — etwa in der Mode. Eine solche Vorstellung lag auch dem Verständnis des französischen Philosophen Michel de Montaigne zugrunde, der als einer der ersten den Begriff „öM“— „l’opinion publique“-verwendet hat. Auch für ihn bestand öM aus den Regeln, die das einzelne Gesellschaftsmitglied einhalten muß, um seinen „guten Ruf“, seine Reputation zu wahren. Über die Einhaltung dieser Regeln wachen nicht staatliche Institutionen, sondern ihre Verbindlichkeit erhalten sie aus dem gesellschaftlichen Konformitätsdruck. Sokrates bezeichnete sie daher als „ungeschriebene Gesetze“, John Locke sprach im 17. Jhdt. vom „law of opinion“. Im 20. Jhdt. wurden diese Gedanken unter der Überschrift „soziale Kontrolle“wieder aufgegriffen. In Deutschland wirbt die Meinungsforscherin Noelle-Neumann mit dem Konzept der Schweigespirale (→ Schweige spirale/öM) für eine Rückbesinnung auf diese ursprüngliche Bedeutung.

Frank Brettschneider
Öffentlicher Dienst/Sektor

Der öffentliche Dienst (öD) und der öffentliche Sektor (öS) gelten in der politischen Gegenwartsdiskussion gemeinsam als eine innovations- und wachstumshemmende Altlast des deutschen politischen Systems. Durch die gemeinsame Etikettierung werden aber bedeutsame Differenzierungen unterschlagen. Während ein relativ hoher Staatsanteil am Sozialprodukt und entsprechende Steuer- und Abgabenlasten tatsächlich nachweisbar sind, kann dies nicht auf eine übermäßige Beschäftigung im öD zurückgeführt werden: 1994 arbeiteten von 100 deutschen Erwerbstätigen 16 im öD, deutlich weniger als beispielsweise in Schweden (33) oder auch in Frankreich (24). Der öD steht zudem im Verdacht, eine der ärgsten Beharrungskräfte im Lande zu sein, was sich nicht mit den z.T. dramatischen Wandlungen verträgt, denen er in den letzten Jahrzehnten unterworfen war. Zum einen hat sich langfristig das Gewicht der Beschäftigung von hoheitlichen Verwaltungstätigkeiten weg und hin zu Diensdeistungen im Sozial-, Bildungs- und Gesundheitssektor verschoben, zum anderen wandern erst jüngst bedeutsame ältere Diensdeistungen und Infrastrukturfunktionen durch die Umwandlung von Bahn und Post in Aktiengesellschaften aus dem öD ab. Ähnliches ist auf der lokalen Ebene durch die Privatisierung kommunaler Leistungsanbieter zu verzeichnen.

Rainer Prätorius
Parlamentarismus

Die pK der BRD wurde noch 1969, zwanzig Jahre nach dem zweiten Anlauf eines parlamentarischen Regierungssystems in Deutschland also, als „parlamentarismus-indifferent“(Euchner) charakterisiert. Dieses Urteil wird — bezogen u.a. auf → Regierung, Abgeordnete, das Parlament als Ganzes (→ Politiker/Politische Klasse), die → öffentliche Meinung — von der politischen Wissenschaft auch weitere dreißig Jahre später in unterschiedlichen Versionen noch wiederholt. Die Kriterien der Einschätzung sind jedoch zumeist unklar, manchmal offenkundig unzutreffend, jedenfalls nur selten inhaltlich und methodisch abgesichert. Gerade im Blick auf die historische Entwicklung einer möglichen spezifisch deutschen Parlamentarismus-Kultur (→ Politische Traditionen) ist zudem vorab zu warnen vor idealistischer Überschätzung der Möglichkeiten, Parlamentarismus (P.) von geistesgeschichtlichen bzw. kulturellen Prinzipien her zu begründen oder gar alltäglich zu praktizieren. Am angelsächsischen Beispiel läßt sich vorzüglich die Entwicklung der verschiedensten ideellen und verfassungsrechtlichen Prinzipien des P. (Petition, Repräsentation, Steuerbewilligung, Mehrheitsherrschaft und Minderheitenschutz (→ Minderheiten/Randgruppen), Gesetzgebung und Wahl, institutionalisierte Opposition und Regierungswechsel (→ Regierung/Regierungsmehrheit/Opposition)) aus ökonomischen Interessen- und gesellschaftlichen Stärkepositionen erklären. No taxation without representation!

Uwe Thaysen
Parteiensystem

Parteiensysteme (P.) lassen sich anhand folgender Kriterien beschreiben und unterscheiden: 1. Zahl und Größenverhältnisse relevanter Parteien (Fragmentierung), 2. Ideologische Distanz und Koalitionsfahigkeit der Parteien zueinander (Polarisierung), 3. im P. ausgedrückte Konfliktdimensionen (Cleavages) und gesellschaftliche Verankerung der Parteien. Politikwissenschaftlich ordnet man P. die Aufgaben der politischen Mobilisierung der Bürger (pS-Funktion), des Personalangebots für politische Ämter (Rekrutierungsfunktion), der Entwicklung politischer Ziele (Programmfunktion) sowie der Artikulation und Bündelung von Interessen bzw. Meinungen (Représentations- und Aggregierungsfunktion) zu (von Beyme). Unter Aspekten der pK haben jedoch nicht alle Eigenschaften und Funktionen des P.s gleiche Bedeutung.

Wolfgang Rudzio
Parteiidentifikation

Der Begriff der Parteiidentifikation (P., synonym oft: „Parteibindung“) und die damit zusammenhängenden theoretischen Aussagen wurden von der Forschergruppe um Campbell, Converse, Miller und Stokes eingeführt, die an der University of Michigan in Ann Arbor umfangreiche Studien zu den Präsidentschaftswahlen von 1948 bis 1956 betrieben. Diese führten zu wichtigen Publikationen (z.B. Campbell u. a. 1960) und begründeten die bis heute einflußreichste Forschungsrichtung der empirischen Wahlforschung. P. wird definiert als „…a psychological identification, which can persist without legal recognition or evidence of formal membership and even without a consistent record of party support“. Neuartig an dieser Definition ist, daß politische Parteien damit als affektive Bezugsgruppen für Individuen betrachtet werden. Neuartig ist ferner, daß der Begriff der (damals noch überraschenden) Erkenntnis Rechnung trägt, daß Wähler nicht etwa grundsätzlich für Wechsel zwischen den politischen Angeboten zur Verfügung stehen, sondern sehr viele bereits (lange) vor Beginn eines Wahlkampfs festgelegt sind. Während dies bei Lazarsfeld („The People’s Choice“) noch sozialstrukturell abgeleitet wurde („Index of Political Predisposition“), liefert der Begriff der P. eine sozialpsychologische Begründung für Wählerkonstanz, die kausal zwischen der sozialen Lage von Individuen und ihrem Wahlverhalten angeordnet ist (→ Wahlen/Wähler).

Hans Rattinger
PDS

Die PDS ist die Nachfolgerin der 1946 durch die Zwangsvereinigung von → SPD und KPD entstandenen Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Schon vor der Gründung der → DDR im Oktober 1949 hatte die von Moskau protegierte SED für sich die politische Führungsrolle in der damaligen sowjetischen Besatzungszone beansprucht. Obwohl in der DDR nominell ein Mehrparteiensystem existierte, avancierte die SED nach dem Vorbild der KPdSU rasch zur Staatspartei, deren Führungsanspruch in der Verfassung festgeschrieben war. Parallel zur staatlichen Verwaltung entstand ein umfangreicher Parteiapparat, mit dessen Hilfe es der SED gelang, alle staatlichen und die meisten gesellschaftlichen Institutionen zu kontrollieren. Damit entschied das Wohlwollen der Partei über die Zuteilung von Lebenschancen. Legitimiert wurde diese Praxis durch das von Lenin formulierte Avantgarde-Prinzip, nach dem die kommunistischen Parteien den „am weitesten fortgeschrittenen“Teil der Arbeiterklasse repräsentieren und deshalb an deren Stelle die „Diktatur des Proletariats“ausüben sollen. Innerhalb der SED erfolgte die Willensbildung nach dem ebenfalls von Lenin propagierten Muster des „Demokratischen Zentralismus“von oben nach unten.

Kai Arzheimer
Politikberatung

Politikberatung (P.) bezeichnet ein Beziehungsverhältnis zwischen dem politischadministrativen System (PAS) als Adressaten (auch einzelne → Politiker) und dem wissenschaftlichen System (Experten, inkl. fachliche Praxis) als Träger der Beratung, mit dem eine Rationalisierung der Entscheidungsfindung im PAS (Regierung, Parlament, Parteien) verfolgt wird.

Götz Konzendorf
Politiker/Politische Klasse

Während es natürlich schon immer und überall Menschen gab, die sich — mehr oder weniger kontinuierlich, mehr oder weniger uneigennützig — mit den öffentlichen Fragen ihrer größeren Gemeinschaft (polis) befaßten, tritt der Politiker (P.) als gesellschaftliche Figur erst in neuerer Zeit auf die historische Bühne. Mit dem Entstehen der modernen Parlamente, der Demokratisierung des Wahlrechts und der Entwicklung der modernen Massenparteien im 19. Jhdt., bildete sich jene besondere Sozialgruppe der P., die nun das Geschäft des Machtgewinns und der öffentlichen Entscheidungen zu ihrer hauptsächlichen Aufgabe, zunehmend darüber hinaus auch zur Quelle ihres Lebensunterhalts machte. Neben anderen Sozialgruppen, die auf gemeinverbindliche Entscheidungen Einfluß nehmen, z.B. die Führungsgruppen der Verwaltung (→ Öffentlicher Dienst/Sektor), der Wirtschaft (Unternehmer), der → Verbände oder der → Gewerkschaften gehören die P. als eine spezielle „Funktionselite“(Stammer) zum Gegenstandsbereich der Elitenforschung (→ Eliten). Untersucht werden die Mitglieder leitender Parteigremien, von Parlamenten und Regierungen (→ Regierung/Regierungsmehrheit/Opposition) auf allen Ebenen des politischen Systems.

Dietrich Herzog
Politikverdrossenheit

Politikverdrossenheit (P.) ist ein Modewort der Massenkommunikation. Unter anderem aus diesem Grunde wird es auch von Wissenschafdern verwendet, die publikumswirksam agieren wollen. Es konnte sogar zum „Wort des Jahres 1992“avancieren. P. ist ein vieldeutiger und unscharfer Begriff und verdankt vermutlich gerade diesen Eigenschaften seine Prominenz. Mit diesem Begriff kann scheinbar ein breites Spektrum von Unzufriedenheiten, Kritiken, Enttäuschungen der Bürger mit den verschiedensten Akteuren und Institutionen des politischen Systems gebündelt werden und die intuitiv nachvollziehbare Interpretation bekommen, daß sich zwischen den Bürgern und der Politik eine tiefgreifende kognitive und affektive Distanz aufgebaut hat, die eben als „Verdrossenheit“bezeichnet wird. Die Gründe dafür sind in der Verdrossenheitsrhetorik auch schon ausgemacht: Sie bestehen in erster Linie in Leistungsdefiziten der Politiker und der Parteien und in zweiter Linie in institutionellen Funktionsdefiziten, die ein effizientes und respon-sives Handeln der politischen Akteure im Interesse der Bürger blockieren. Mit dieser Unterstellung einer tiefgreifenden Distanz zwischen Bürgern und Politik können vielfältigste Einzelphänomene (z.B. sinkende Wahlbeteiligung, Protestaktionen, in Umfragen geäußerte Unzufriedenheiten mit den politischen Parteien und dem Funktionieren der → Demokratie etc.) als empirische Belege einer wachsenden Entfremdung genommen werden, die auf die Dauer ein systemgefährdendes Potential darstellt.

Dieter Fuchs
Politikverflechtung

Die Entscheidungsprozesse im politischen System Deutschlands sind in ein komplexes Netzwerk stark differenzierter Entscheidungsstrukturen eingebunden. In diesem Rahmen dominiert vertikal die Kooperation von Bund, Ländern, Gemeinden und EU sowie horizontal die Kooperation der Länder und der Kommunen untereinander. Für diese Verschränkung der politisch-administrativen Entscheidungskompetenzen steht der von Scharpf geprägte Begriff der Politikverflechtung (P., Scharpf u. a. 1976). Er kennzeichnet das Ausmaß integrierter Verflechtungsmuster mit seinen materiellen und formalen Auswirkungen in den Bereichen Finanzen und Verwaltung sowie der Entscheidungsfindung im Prozeß des „policymaking“. P. wirkt damit zugleich als Filter, der darüber bestimmt, wie groß die politischen Handlungsspielräume auf den verschiedenen Ebenen des politischen Systems ausfallen.

Volker Kunz
Politische Beteiligung

Schon in den frühen Arbeiten der pKf hat politische Beteiligung (pB) einen hohen systematischen Stellenwert besessen. Am deutlichsten tritt dies in der Civic-Culture-Studie hervor, in der Partizipation als zentrales Element der Inputstruktur den „participant“-Typ der pK entscheidend mitbestimmt. Normativ gesehen gelangen die Autoren bekanntlich über die von ihnen auf der Makroebene herausgearbeitete Notwendigkeit der Balance von Input- und Outputelementen, von aktiven und von passiven Orientierungen, zum Typus der civic culture. Dabei ist jedoch zu beachten, daß sich nach ihrer Konzeptualisierung pK als Orientierungsmuster gegenüber politischen Objekten der Staatsbürger manifestiert, und das heißt als Einstellungen. Insofern ist es konsequent, daß die Inputebene in den Civic-Culture-Analysen durch Gefühle der Beteiligungspflicht, des wahrgenommenen Einflusses auf Politik der Bürger (→ Externe politische Effektivität) und durch Mikro-Elemente des aktuell gewordenen → Sozialkapital-Konzepts (van Deth u. a. 1999) wie interpersonales und → politisches Vertrauen erfaßt wird. Ein Nachteil der seinerzeit absolut innovativen Überlegungen zur pK war allerdings, daß durch die genannte Konzentration auf die Einstellungsdimension lange Zeit die Verbindung zur Wahl- und Partizipationsforschung (→ Wahlen/Wähler) im engeren Sinne nicht hergestellt worden ist.unter politischer Beteiligung werden in der Regel jene Verhaltensweisen von Bürgern verstanden, die sie alleine oder mit anderen freiwillig mit dem Ziel unternehmen, Einfluß auf politische Entscheidungen zu nehmen (Barnes u. a. 1979, Parry u. a. 1992, Verba u. a. 1995).

Max Kaase
Politische Bildung

Im üblichen Sprachgebrauch wird der Begriff politische Bildung (pB) auf die Aufgaben eines Systems pädagogischer Einrichtungen bezogen. Dies zeigt bereits an, daß die pB der „offiziellen“, von speziellen Einrichtungen getragenen und verbreiteten pK und nicht einer eingelebten und selbstverständlich tradierten „Bürgerkultur“zuzurechnen ist. Die Gründe hierfür liegen in der für Modernisierungsprozesse typischen Beschleunigung des sozialen Wandels, der damit zunehmenden Ausweitung und Ausdifferenzierung von Staatsfunktionen, der wachsenden Abhängigkeit der Bürger von staatlichen Leistungen und Regelungen, aber auch des Staates von der Loyalität und der → politischen Beteiligung der Bürger.

Günther C. Behrmann
Politische Informiertheit

Eine eindeutige Definition politischer Informiertheit (pI) existiert in der pKf nicht. Dies hängt vor allem damit zusammen, daß, wie z.B. Maier (2000) anmerkt, zunächst die normative Frage beantwortet werden muß, welches politische Wissen bzw. welches Maß an pI überhaupt bei einem Individuum vorhanden sein sollte. Als allgemeinste, grundlegende Stufe der pI wird häufig das Vorhandensein von Kenntnissen über wichtige politische Institutionen, Verfahren und Gesetze betrachtet. Daneben werden das Vorhandensein von Kenntnissen über aktuelle politische Geschehnisse und Entwicklungen, politische Programme der Parteien, Kandidaten bis hin zu deren politischen Positionen im Detail, historische Kenntnisse, Wissen über internationale politische Geschehnisse und Zusammenhänge usw. als Bestandteile der pI benannt (Überblick bei Maier 2000). PI kann auf der Grundlage dieser Überlegungen als „Skala“mit zunehmender Komplexität beschrieben werden, wobei steigende Skalenwerte mit steigenden Anforderungen an das politische Wissen der Bürger einhergehen. PI wird in zahlreichen Publikationen der pKf als wichtige Eigenschaft eines „zuverlässigen Demokraten“definiert (z.B. Greiffenhagen/Greiffenhagen 1993), sie wird benötigt, um „sich in der politischen Wirklichkeit zurechtzufinden“(Gabriel 1986: 180). In einer Civic Culture im Sinne des pK-Konzeptes von Almond/Verba sollte bei den Bürgern ein gewisses (von Almond/Verba nicht näher bestimmtes) Maß an pI vorhanden sein.

Katja Neller
Politische Inszenierung/Symbolische Politik

Politische Inszenierung (pI) und symbolische Politik (sP) sind Begriffe der politischen Kommunikationsforschung. Diese beschäftigt sich mit jeder Art von Kommunikation, die mit der Herstellung, Begründung und Durchsetzung allgemeinverbindlicher Entscheidungen (Easton) in Verbindung steht. Dabei geht es je nach Erkenntnisinteresse um die kommunikative Dimension des Politischen und/oder die politische Dimension des Kommunikativen. Im alltäglichen Sprachgebrauch wird politische Kommunikation fälschlicherweise auf pI und sP verkürzt.

Ulrich Sarcinelli
Politische Kompetenz

Durch die gleichberechtigte Zuweisung von Beteiligungsrechten und die Ermöglichung ihrer Ausübung unterscheiden sich Demokratien von nicht-demokratischen politischen Organisations formen. Damit diese Beteiligungsrechte genutzt werden, müssen auf Seiten der Bürger jedoch entsprechende Fähigkeiten vorliegen, die ihre Teilnahme am politischen Prozeß ermöglichen. Eine dieser Fähigkeiten stellt die politische Kompetenz (pKomp) der Bevölkerung dar. Mit dem Aufkommen des Behavioralismus in der Politikwissenschaft entwickelte sich ein verstärktes Interesse an der empirischen Erforschung des pKomp-Bewußtseins, wenngleich ihm von der Demokratietheorie schon lange eine zentrale Rolle zugeschrieben wird. Zwei Konzepte zur Erhebung des pKomp-Bewußtsein dominieren seit den 50er und 60er Jahren die empirische pKf: Das von Almond und Verba entwickelte Konzept der subjektiven pKomp, verstanden als das Gefühl, auf politische Entscheidungen Einfluß ausüben zu können (Almond/Verba 1965), sowie das von Campbell u. a. (1954, 1960) eingeführte Konzept „Political Efficacy“. Mittlerweile besteht Einigkeit darüber, daß „Political Efficacy“aus zwei inhaltlich voneinander zu unterscheidenden Teilkomponenten besteht: External Efficacy (→ Externe politische Effektivität) und Internal Efficacy (Balch 1974). Letzteres ist hier von Bedeutung und umfaßt die Beurteilung der eigenen Fähigkeiten, Politik verstehen und beeinflussen zu können.

Angelika Vetter
Politische Korruption

Politik sei ein „schmutziges Geschäft“, so will es der Volksmund. In dieses generalisierende Vorurteil ist die Erfahrung eingeschrieben, daß politische Herrschaft noch stets eine illegitime Schattenseite hatte. Öffentliche Ämter wurden und werden zum privaten Vorteil genutzt, hohe moralische Ansprüche, etwa dem Gemeinwohl zu dienen oder nur dem eigenen Gewissen verpflichtet zu sein, von Mandatsträgern nicht selten verfehlt. Stimmte der Satz zur Gänze, wären Politik und Korruption identisch. Erst wenn wir zwischen legitimen und illegitimen Formen der Politik unterscheiden können und wollen, macht die Beschäftigung mit politischer Korruption (pKor) Sinn. Gerade weil es keine korruptionsfreie pK geben kann, d.h. mit Machtmißbrauch stets gerechnet werden muß, ist es äußerst aufschlußreich, was in konkreten Gesellschaften als pKor gilt, welches Gewicht dieser Praxis im politischen Prozeß zukommt, welche Kontrollformen und Sanktionen eingesetzt werden und welche Folgen Korruptions falle und deren Skandalie-rung zeitigen. Unter den Bedingungen moderner Staatlichkeit und einer funktionalen Trennung von Politik und Ökonomie umfaßt pKor zwei unterschiedliche Sphären. Zum einen geht es um Amtsmißbrauch in der öffentlichen Verwaltung (→ öffentlicher Dienst/Sektor) und der Justiz, wobei gegen die gesetzlich flankierte bürokratische Rationalität (Rechtssicherheit, Gleichbehandlung, Gleichheit vor dem Gesetz etc.) verstoßen wird, wenn „sachfremde“Kriterien (z.B. Bestechungsgelder oder andere Varianten der Vorteilsnahme) Entscheidungen beeinflussen.

Roland Roth
Politische Kultur

Politische Kultur (pK) bezeichnet die subjektive Dimension der Politik im Sinne des Verteilungsmusters aller Orientierungen einer Bevölkerung gegenüber dem politischen System (→ Politisches Bewußtsein). Zur politischen Orientierung zählen Meinungen, Einstellungen und Werthaltungen. Während sich Meinungen rasch ändern können, sind Einstellungen (z.B. Parteipräferenzen) schon stabiler, und Werthaltungen (z.B. sittliche Grundüberzeugungen) werden noch weniger gewechselt (→ Wertewandel). Zum Bereich der pK zählen auch Felder, die zunächst als unpolitisch erscheinen (z.B. Einstellungen zu Arbeit und Freizeit, religiöse Vorstellungen, Erziehungsstile). Die Verbindung zwischen politischer Orientierung und politischem Handeln (→ Politische Beteiligung) ist unsicher und Gegenstand theoretischen und methodischen Disputs zwischen verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen. Einige Forscher meinen, das politische Handeln gehöre zur pK nicht hinzu, und beschränken sich in ihren Studien ausdrücklich nur auf die Untersuchung einer Bereitschaft zum Handeln.

Martin, Sylvia Greiffenhagen
Politische Moral

Im Rahmen der pKf hat der Begriff „politische Moral“(pM) zwei wesentliche Bedeutungen: 1. In einem allgemeinen Sinne ist damit die Gesamtheit der normativen Überzeugungen — d.h. der Prinzipien, Normen und Werte — bezeichnet, die in den Augen der Bürger als Bewertungs- und Legitimitätsgrundlage des politischen Systems dienen. Der Grad der Legitimität ist demzufolge um so höher, je mehr Konsens innerhalb einer Gesellschaft über die relevanten Grundsätze und Werte besteht und je mehr die politischen Institutionen diesen im Urteil der Bürger entsprechen. Bei der Analyse dieser Bedeutung von pM sind eine normative, eine historische und eine kulturelle Dimension zu unterscheiden. 2. In einem engeren Sinne bezieht sich der Begriff pM auf die moralischen Erwartungen an politisch Handelnde, und zwar insbesondere an → Politiker, aber auch an Bürger ganz allgemein.

Rainer Forst
Politische Sozialisation

Den Begriff politische Sozialisation (pS) verwendeten zuerst Easton (1957) und Hyman (1959), in der Folge setzte er sich in den USA innerhalb weniger Jahre durch, im Laufe der 60er und 70er Jahre auch in Deutschland. Die zahlreichen Definitionen von pS unterscheiden sich sowohl im Verständnis von „politisch“ wie von „Sozialisation“. Bringt man die verschiedenen politischen und theoretischmethodischen Positionen und Prämissen auf die beiden kürzesten, von allen Disziplinen und Richtungen akzeptierten Definitionen, so bezeichnet pS entweder den Lernprozeß, innerhalb dessen ein Individuum sich jene Persönlichkeitsmerkmale, Kenntnisse, Fähigkeiten und Werte aneignet, welche politisches Bewußtsein und politisches Verhalten strukturieren und lenken, also politisch relevant sind; oder den Lernprozeß, innerhalb dessen einem Individuum jene Persönlichkeitsmerkmale vermittelt werden (→ Demokratische Persönlichkeit, Politisches Bewußtsein). Ein in jüngerer Zeit erschienenes Handbuch spricht von pS als den „bewußten und unbewußten Prozesse(n) der Wechselwirkung zwischen Personen und ihrer direkt politischen oder zumindest politisch relevant sozialen, kulturellen, ökonomischen und zivilisatorischen Umgebung“ (Claußen/Geißler 1996: 9). Anstelle des eingeführten Begriffs pS wird dort auch der neue Begriff „Politisierung“ vorgeschlagen. Kriterien für „politisch relevant“ liefern so unterschiedliche Merkmale wie → Autoritarismus, Dogmatismus, Radikalismus, Fatalismus, Apathie, Loyalität zum politischen System (→ Politische Unterstützung), Bereitschaft zu → politischer Beteiligung, → Anomie/Entfremdung, Parteipräferenzen und → Parteiidentifikation, Wählerverhalten (→ Wahlen/Wähler) etc.

Sylvia Greiffenhagen
Politische Sozialisation: Beruf

→ Identität bildet sich auch im Prozeß und durch die Qualität der → Arbeit. In Industriegesellschaften ist sie als Kern der staatsbürgerlichen Persönlichkeit mitgeprägt durch die Spezifika der Erwerbstätigkeit im Rahmen herrschender Ökonomie. Orte der Vorbereitung, Ausübung und Modifikation des Berufslebens (Beruf = B.) sind zentrale Instanzen der pS und liefern als objektive Tatbestände der pK wichtige subjektive Elemente. Für die Beschaffenheit der pS durch b.-bezogene Lernerfahrungen sind für Industriegesellschaften zumal bei → Globalisierung schlechthin geltende Existenzmerkmale sowie historischem Wandel unterliegende nationale Besonderheiten der Wirtschaftsweise und deren Verknüpfung mit den Ausprägungen der Politik maßgeblich. So gibt es Austauschprozesse zwischen der b.-bedingten und der sonstigen pS durch andere Instanzen.

Bernhard Claußen
Politische Sozialisation: Familie

Das weitgespannte Thema dieses Beitrags soll auf „latente“pS-Prozesse in der → Familie (F.), vor allem in der Lebensphase der → Kindheit, eingegrenzt werden. Diese Fokussierung auf die Genese eher „nicht-politischer“(Greenstein 1965) oder „vor-politischer“(Hopf, Hopf 1997) Orientierungen und Dispositionen erfolgt zum einen deswegen, weil ihnen erhebliche Erklärungskraft für politisches Handeln in späteren Phasen des Lebenslaufs zugesprochen wird; zum anderen deshalb, weil f.-bezogene „manifeste“pSf häufig auf solche Aspekte wie die Entwicklung von Loyalität gegenüber dem politischen System (→ Politische Unterstützung) und seinen Repräsentanten, Parteipräferenzen, Identifikation mit nationalen Symbolen etc. ausgerichtet ist, die im Vergleich zu der hier zur Diskussion stehenden Grundlegung politischer Handlungsfähigkeit und -bereitschaft von eher randständiger Bedeutung sind.

Günther Steinkamp
Politische Sozialisation: Geschlecht/Geschlechterverhältnisse

Geschlecht (Geschlecht/Geschlechter: G.) und Geschlechterunterschiede (Gu) verweisen augenscheinlich auf sattsam bekannte Grundtatsachen, wobei alltägliche Erfahrungen bereits deutliche Irritationen auslösen. Diese beziehen sich vor allem auf G.-Rollen und Gu. Das wird besonders spürbar in Zeiten vehementen Wandels von sozialen Werten und Identifikationen sowie von Lebenspraxen und Handlungsformen. Die herkömmliche polare Klassifikation einer G.-Dualität männlich — weiblich ist brüchig geworden; dies gilt auch für die pS.

Christine Kulke
Politische Sozialisation: Gleichaltrigengruppe

Die Frage nach den Prozessen von pS, damit nach wesentlichen Konstitutionsbedingungen von pK, gehört im Kontext der Kindheits- und Jugendforschung (→ Kindheit/Jugend) zu jenen Bereichen, denen seit den Anfangen der pSf Bedeutung vor allem im Rahmen einer Verhältnisbestimmung des Einflusses von → Familie und peer goup zugeschrieben und zugestanden wurde. Um diese Verhältnisbestimmung drehen sich Auseinandersetzungen bis heute; einen wesentlichen Ausgangspunkt nahmen sie in dem Versuch einer Entmythologisierung vorliegender Forschungsergebnisse durch Connell (1972), der die These, daß die → Familie die Primärquelle der pS sei, grundsätzlich in Frage stellte. Indirekt antworten 20 Jahre später Niemi und Jennings (1991) auf diese These in ihrem Aufsatz „Issues and Inheritance in the Formation of Party Identification“, wenn sie mit Bezug auf politische Orientierungen von Kindern und Jugendlichen betonen, daß Eltern in diesem Kontext eine hohe Bedeutung ob ihrer Wirkungen zukomme.

Heinz Sünker
Politische Sozialisation: Massenmedien

Den → (Massen)Medien (M.) werden nicht nur Funktionen der Informationsverbreitung, Herrschaftskontrolle und der Interessenartikulation zugeschrieben, sondern sie werden auch als Instanz der pS benannt. Die pK eines Landes bestimmt die Rahmenbedingungen des M.-Systems und damit auch der Sozialisati-onsfunktion der M. Im Falle einer demokratischen pK bilden Meinungs- und Pressefreiheit diese Basis, gänzlich andere Grundlagen und Möglichkeiten für pS durch M. finden sich in totalitären Systemen. M. vermitteln uns von Kindheit an ein Bild der Politik, sie tragen zur Ausbildung individueller politischer Überzeugungssysteme bei und spielen z.B. durch die Lieferung von Informationen über das politische System und seine Akteure sowie das Aufgreifen politischer Themen eine Rolle bei der Mobilisierung der Bürger zur Mitwirkung am politischen Prozess. M. vermitteln darüber hinaus Beispiele für demokratische Verhaltensweisen, die auf diese Weise gelernt werden können (→ Konflikt/Konsens). Der Prozeß der medialen pS ist dabei als wechselseitig zu sehen: nicht nur die M. üben eine Wirkung auf das Individuum aus, sondern dieses bestimmt durch seine persönliche Auswahl und Verarbeitung der M.-Inhalte deren Effekt mit und wirkt darüber hinaus als Teil der Gesellschaft auf die M. ein (Schorb/Mohn/Theunert 1998). Wie und mit welchem relativen Gewicht zu anderen Sozialisationsagenturen M. diese Funktion der pS tatsächlich erfüllen, ist in der M.-Wirkungsforschung bis heute umstritten.

Katja Neller
Politische Sozialisation: Modernisierung

Tatsächlich gab es pS zu allen Zeiten als Zusammenhang kognitiver, emotionaler und operativer Lernprozesse zur Tradierung, Erschließung und Konstitution des Sinns veränderungsfähiger Herrschaftsordnungen und ihrer materiellen Basis. Besondere Bedeutung hat sie in komplexen arbeitsteiligen Gesellschaften und modernen Staaten. In deren Differenzierung und Wandel ist sie abhängige und bedingende Variable, weil ihre Ergebnisse teils als merklicher Reflex auf sozio-ökonomische und politisch-kulturelle Modernisierungen gedeutet und teils selbst zu einer Triebkraft dafür werden können. Jede Modernisierung (M.) von Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur ist auf geistige, affektive und handlungsbezogene Persönlichkeitsdispositionen in der Bevölkerung und somit auf kollektiv sich verdichtende subjektive Voraussetzungen zur Wahrnehmung gesellschaftlicher Verantwortung und öffentlicher Aufgaben angewiesen.

Bernhard Claußen
Politische Sozialisation: Ost-/Westdeutschland

PS bezeichnet die Vorbereitung der Gesellschaftsmitglieder auf die Wahrnehmung bestimmter sozialer Rollen, die für das Funktionieren einer Gesellschaft notwendig sind. Die Bedeutung der pS für die pK liegt in der Annahme, daß Einstellungen und Verhaltensweisen, die im Sozialisationsprozeß gelernt werden, die pK eines Landes weitgehend determinieren. Diese wiederum kann mit der politischen Struktur kongruent sein. Das politische System eines Landes ist in dem Maße stabil, in dem eine Kongruenz zwischen pK und politischer Struktur vorliegt. Nach der deutschen Vereinigung stellen sich vor allem zwei Fragen: 1. Wie wirkt sich die pS in unterschiedlichen politischen Systemen auf die demokratische pK im vereinigten Deutschland aus: Gibt es nennenswerte Unterschiede bei der Einstellung zur Demokratie? Und 2. Wenn ja, wie schnell wird eine Integration der Ostdeutschen in die pK der Bundesrepublik vollzogen? Die Bedeutung von Sozialisationsfaktoren konkurriert bei diesen Fragen in erster Linie mit modernisierungstheoretischen Überlegungen und Situationsfaktoren.

Carolin Schöbel
Politische Sozialisation: Schule

Der Beitrag der Schule (S.) zur pS ist relativ schwer festzustellen, da die schulischen politischen Lernprozesse auf mehreren Ebenen stattfinden. PS ist nicht nur Gegenstand des politischen Unterricht als institutionalisierter pS, sondern darüber hinaus benachbarter Fächer wie Geschichte, Geographie aber auch Deutsch. Neben den curricularen Angeboten sind für die pS das Verhalten und die Ausbildungsqualität der Lehrerinnen und Lehrern das soziale und politische Klima und die institutionellen Strukturen der S. mitentscheidend. Methodisch besteht einmal die Schwierigkeit, diese vielfältigen Unterrichts- und schulimmanenten Faktoren zu isolieren und deren Wirkungszusammenhang aufzuzeigen. Zum anderen kann man die S. und den Politikunterricht nur im Kontext anderer Sozialisationsinstanzen wie 2192 Familie, 2192 Massenmedien und Peer Groups (2192 pS: Familie/Gleichaltrigengruppe/Massenmedien) sehen.

Paul Ackermann
Politische Sozialisation: Soziale Schicht

Die Neufassung dieses Artikels nach fast 20 Jahren bringt einen paradoxen Tatbestand ans Licht: einerseits hat sich die Diskussion um Gegenstand und empirische Erfassung sozialer Ungleichheit erheblich weiterentwickelt, so daß zumindest Zweifel an der analytischen Fruchtbarkeit traditioneller Schichtkonzepte (Schicht: Sch.) zur Erfassung der Lage im System sozialer Ungleichheit aufkommen. Andererseits hat sich der von mir 1981 konstatierte relativ defizitäre Status einer Durchdringung des Zusammenhangs von → sozialer Ungleichheit und pS bis heute wenig verändert.

Günther Steinkamp
Politische Steuerung

Das Begriffspaar „Politische Steuerung“(pSt) wird alltags sprachlich nicht verwendet, auch wenn das Bild vom Staatenlenker als Steuermann, der das Staats schiff sicher über alle Klippen steuern soll, immer wieder ausgemalt wird. Dagegen findet dieses Begriffspaar in den unterschiedlichsten Forschungsbereichen der Politikwissenschaft Verwendung, beispielsweise in der Planungs-, Korporatismus-, Kulturoder Wertewandelforschung (→ Wertewandel). Als Minimalkonsens der Politikwissenschaft über die Begriffsverwendung läßt sich festhalten, daß damit der sach-logisch-technizistische Aspekt politischen Problemlösungsverhaltens gemeint ist, bei dem es um die Erfolgsbedingungen politischen Handelns geht. Synonyme sind deshalb „Regulative Politik“oder „Governance“. Werden die Begriffe zudem normativ dimensioniert, dann postuliert man als Problemlösungsintention eine Gemeinwohlorientierung.

Axel Görlitz
Politische Toleranz

Der Begriff Toleranz (T.) ist ursprünglich definiert als Duldung von Überzeugungen, Lebensweisen etc. und deren Träger, die nicht mit den eigenen Auffassungen übereinstimmen. Der wesentliche Wertebezug der T. ist somit die Freiheit anderer. Historisch hat sich die Idee der T. in Europa zunächst als Konzession der Herrschenden an die Beherrschten, zumeist gegenüber religiösen Minderheiten (→ Minderheiten/Randgruppen), dargestellt. In den antiken griechischen Stadtstaaten herrschte infolge der religiösen Definition des politischen Gemeinwesens innere Unduldsamkeit. Trotz der Identität von Staat und Religion auch im römischen Imperium wurden regional begrenzte Religionen unterworfener Völker zugelassen, um deren Integration zu erleichtern. Dies änderte sich mit dem aufkommenden Christentum, das durch seinen Anspruch auf Alleingültigkeit die Stabilität des Staates bedrohte. Mit dem Aufstieg des Christentums zur Staatsreligion wurde anderen Religionen zunehmend die Existenzberechtigung versagt.

Bettina Westle
Politische Traditionen

Kein Volk der Erde hat seine Vergangenheit als politische Tradition (pT) präsent. Phasen und Ereignisse, die nicht geschichtsmächtig waren, werden leicht vergessen. Ein Raster für das, was als pT im kollektiven Gedächtnis einer → Nation bewahrt wird, liefern auch gegenwärtige Identitätsbedürfnisse (→ Geschichtsbewußtsein). Auf der Suche nach Identitätsangeboten (→ Identität) aus der Politikgeschichte begegnet die BRD großen Schwierigkeiten. Worauf Ausdrücke wie „Geschichtslo-sigkeit“, „brüchige Tradition“, „Herkunftsschwäche“, „verspätete Nation“verweisen, sind im wesentlichen zwei Schwierigkeiten: die Kurzatmigkeit deutscher Geschichte und ihr einseitig autoritärer Charakter. Keines der drei Regime, die einander seit 1871 ablösten, liefert dem heutigen Bundesbürger Identifikation, auch die Weimarer Republik nicht, die in Umfragen am schlechtesten abschneidet. Jedes politische System war der Feind des anderen und zog wesentliche Kräfte aus dem Kampf gegen das vorhergehende, an dem es sich abarbeitete (→ Geschichtliche Phasen der BRD). Auch andere Nationen sind durch politikgeschichtliche Wechselbäder gegangen, z.B. Frankreich. Der rasche Regimewechsel hat dort aber die Ausbildung und Fortführung zweier großer Traditionen nicht verhindert: Die pT von Autorität und Majorität erlauben den Franzosen rechts wie links gegenwärtige politische Orientierung. Die Umbrüche und Verwerfungen der deutschen pT weisen zwar in der pK der BRD immer weniger Spuren auf.

Martin Greiffenhagen
Politische Unterstützung

„The perspectives of a systems analysis of political life impel us to address ourselves to the following kind of question. How can any political system ever persist whether the world be one of stability or of change?… Or… what processes must be maintained if any life is to persist, especially under conditions where the environment may at times be extremely hostile“(Easton 1979: 14f.). Seit dem Beginn der 50er Jahre gehört die Beschäftigung mit den Stabilitätsbedingungen politischer Systeme zu den wichtigsten Forschungsproblemen der Politikwissenschaft. Hierfür sind zwei Sachverhalte maßgeblich: Erstens löste der Zusammenbruch der → Demokratie in mehreren europäischen Staaten in der Zeit zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg in der Politikwissenschaft das Interesse an der Frage aus, wie man derartige Entwicklungen künftig vermeiden könne. Die Beantwortung dieser Frage setzt die Kenntnis der Bedingungen politischer Stabilität voraus. Zweitens fand in den frühen 50er Jahren eine theoretische und methodische Neuorientierung der Politikwissenschaft statt. Mit der Kritik des Behavioralismus an der unbestreitbaren Verengung des Faches auf politische Ideengeschichte und Institutionenlehre ging der Anspruch einer Neubestimmung des Gegenstandes, der Ziele und der Methoden der Politikwissenschaft einher. Die Konzepte des politischen Verhaltens (auf der Mikroebene) und des politischen Systems (auf der Makroebene) wurden als Grundeinheiten der politikwissenschaftlichen Analyse propagiert.

Oscar W. Gabriel
Politisches Bewußtsein

Durchforstet man die einschlägigen deutschen politikwissenschaftlichen Lexika, Handwörterbücher usw. nach dem Begriff des politischen Bewußtseins (pB), so wird man in der Regel nicht fündig. Das deutet bereits darauf hin, daß es sich dabei nicht um ein wohldefiniertes, in spezifische Theoriezusammenhänge eingebettetes Konzept handelt. Man ist folgerichtig gezwungen, auf Ähnlichkeiten und funktionale Äquivalente zurückzugreifen, um den Begriff mit einem analytisch fruchtbaren Sinn zu erfüllen. Prinzipiell ist insbesondere auf dem Hintergrund von Fragestellungen der pKf zunächst einmal festzuhalten, daß es sich um ein mikroanalytisches, d.h. bei Individuen zu verortendes und zu messendes Konzept handelt. Davon unbeschadet ist die Frage, inwieweit die so, üblicherweise durch Befragungen, gewonnenen Informationen aggregiert über Gruppen und/oder nationale Bevölkerungen einen neuen Sinn erhalten, etwa als → öffentliche Meinung. Auch die These, daß aggregierte Bevölkerungsäußerungen eine andere Bedeutung als die individuellen Angaben eines einzelnen Bürgers besitzen und über solche Zusammenfassungen bestimmte methodische Probleme der Umfrageforschung vermieden werden können (Page/Shapiro 1992), ist zunächst ohne Belang; darauf wird aber später zurückgekommen werden.

Max Kaase
Politisches Interesse

Politisches Interesse (pI) taucht in der Politikwissenschaft unter verschiedenen Begriffen und in verschiedenen Kontexten auf, z.B. als Bestandteil der „cognitive map“der Bürger, also des Systems der kognitiven Orientierungen, dessen Funktion das Erkennen und Verstehen politischer Wirklichkeit und die Vorbereitung zielgerichteten politischen Handelns ist; als „Politische Involvierung“, d.h. als „Aufmerksamkeit“gegenüber politischen Geschehnissen; ähnlich: „Political Awareness“, d.h. als Ausmaß an bewußter Beschäftigung mit Politik (s. auch 2192 politische Informiertheit, politisches Bewußtsein); als „Political Saliency“, d.h. als individuelle Einschätzung der Bedeutung von Politik (in Relation zu anderen Lebensbereichen; Priorität von Politik); als „degree to which politics arouses a citizen‘s curiosity“(van Deth 1990: 278), d.h. als „Neugier“(siehe zu diesen Verortungen den umfassenden Überblick bei van Deth 2000); als „Political Sophistication“, d.h. als Fähigkeit zur strukturierten Aufnahme und Verarbeitung politischer Informationen (z.B. Luskin 1987). Die in Studien zur pK und der politikwissenschaftlichen Einstellungs- und Verhaltensforschung insgesamt am häufigsten verwendete Form von pI ist das subjektive pI, bei dem die Befragten die Stärke ihres pI einschätzen sollen.

Katja Neller
Politisches Vertrauen

Seit das politische Vertrauen (pV) in der amerikanischen Wahlstudie 1958 erstmals empirisch gemessen wurde, entwickelte sich die Untersuchung der Vertrauensbeziehungen zwischen Regierenden und Regiertem zu einem wichtigen Gegenstand der pKf. Das pV gilt als Spezialfall sozialen Vertrauens (→ Sozialkapital/Soziales Vertrauen) und bezeichnet wie dieses die Disposition von Akteuren, anderen Akteuren auf Dauer bestimmte Handlungsressourcen wie Macht, Geld, Zeit, Information zur Verfügung zu stellen. Dies geschieht in der Annahme, daß der Adressat den ihm eingeräumten Kredit nicht ausschließlich zu seinem Vorteil nutzen, sondern bei seinem Handeln die Belange seines Interaktionspartners berücksichtigen wird. Da politische Interaktionen in einem beträchtlichen Maße mit der Entstehung, Verteilung und Ausübung politischer Macht zu tun haben, impliziert pV vor allem die Bereitschaft eines Akteurs A, einem politischen Akteur B Macht zu übertragen. In repräsentativen → Demokratien, in denen eine klare funktionale Differenzierung zwischen Regierenden und Regierten vorliegt, wird pV zu einer außerordentlich bedeutsamen Größe.

Oscar W. Gabriel
Professionen

In der älteren, durch den Funktionalismus und angelsächsische Erfahrungen geprägten, soziologischen Literatur sind Professionen (P.) Berufe, die ein auf Expertise gegründeter Macht- und Vertrauensvorsprung gegenüber den Klienten auszeichnet. Daraus folgt eine Selbstorganisation am Markt, die einerseits durch Kartellierung und Zugangsbeschränkung Privilegien sichert, andererseits durch Lizenzierung und Selbstkontrolle (z.B. Ethik) die Basis der Vertrauensbeziehung pflegt. Gemessen an diesem Idealbild galten die kontinaleuropäische, besonders die deutsche, Entwicklung als Abweichung, da hier Professionalisierungsprozesse nicht durch organisierte Marktmacht, sondern staatszentriert erfolgten. Darin wird aber das späte Phänomen der binnengerichteten Selbstpflege durch Ethik, Ranking, Qualitätssicherung usw. überschätzt, außerdem die deutsche Vorreiterrolle bei der wichtigsten Machtbasis unterschätzt: der Durchsetzung von rechtlich gesicherten Lizenzen und Zertifikaten (Abbott 1988). In dieser Leistung waren die deutschen Universitäten zentral, die früher als andere auf die staatliche Sanktionierung (→ Politische Traditionen) berufsspezifischer Abschlüsse hin ausbildeten und dabei schon im 19. Jhdt. das meiste Prestige jenen P. verliehen, deren Zulassung am meisten staatlich reglementiert war: Ärzten und Juristen.

Rainer Prätorius
Rechtskultur

Der Begriff „Rechtskultur“(R.) wird auf mehreren Ebenen komplementär zur juristischen Begrifflichkeit gebraucht (Nelken 1997). Entsprechend den Erkenntnisinteressen bedienen sich Autoren dabei normativer, beschreibender oder auch erklärender Definitionskriterien und Konnotationen.

Erhard Blankenburg
Rechtsstaat

Wenn neuerdings über den bundesrepublikanischen Rechtsstaat (R.), seine Wirklichkeit und seine Legenden, verbissener denn je gestritten wird, dann kann man die polarisierende Entzweiung, die den öffentlichen Diskurs über dieses Thema prägt, am ehesten daran festmachen, daß gegen die Behauptung der einen, der R. sei am Ende — was immer das im einzelnen heißen mag —, sofort eine Gegenpartei die ebenso polemisch verkürzte Forderung glaubt erheben zu müssen, dann sei wohl erst recht eine Rundumerneuerung seiner Strukturen oder zumindest eine Reanimation seiner Leistungsfähigkeit angesagt, weil überfällig.

Otwin Massing
Regierung/Regierungsmehrheit/Opposition

Mit Regierung (R.) im weiteren Sinne werden die Verfassungsorgane eines Staates, die an seiner Leitung beteiligt sind, insbesondere die Institutionen der Legislative und Exekutive, bezeichnet. Dieses umfassende Verständnis kommt besonders im englischen Begriff government zum Ausdruck. Im engeren Sinne versteht man unter R. das mit politischen und administrativen Funktionen ausgestattete Lenkungsorgan, in demokratischen Verfassungsstaaten also den R.-Chef, das Kabinett und die Ministerien. Abhängig von der Ausprägung des R.-Systems als parlamentarisches oder präsidentielles geht die R. aus dem Parlament hervor und ist von diesem abberufbar oder ist direkt vom Volk gewählt und bedarf nicht des Vertrauens der Legislative. Die R. im engeren Sinne kann aus einer Person bestehen (wie in den USA, wo nach der Verfassung nur der Präsident die Exekutive bildet), ein Kollegialorgan sein (wie in der Schweiz, wo der Bundespräsident lediglich primus inter pares in der siebenköpfigen R., dem sog. Bundesrat, ist) oder von Premierminister- (Beispiel Großbritannien) bzw. Kanzlerdominanz (Beispiel Deutschland, mit der Einschränkung des grundgesetzlich festgelegten Ressort- und Kabinettsprinzips) geprägt werden. Neben den verfassungsrechtilichen Festlegungen bestimmen politischstrukturelle, politisch-kulturelle und ökonomische Kontextfaktoren Macht und Einfluß einer R.

Suzanne S. Schüttemeyer
Regionale/Lokale politische Kultur

PK ist ein Gruppenphänomen. Gruppen müssen identifizierbar sein, von daher grenzen sie ein und grenzen aus. Gruppe, → Identität und Grenze sind somit zentrale Kategorien der pK. Grenzen stellen den Bezugspunkt für Zugehörigkeitsbe-wußtsein, Wir-Gefühl, Identität dar, „definieren“eine konkrete pK. Nur innerhalb gegebener Grenzen wirkt die prägende Macht der jeweiligen Sozialisationsagentu-ren und Sozialisationsprozesse (→ pS), können Institutionen den Bezugspunkt von pK abgeben und staatliche Vorgaben Anspruch auf Befolgung erheben. Die für pK so wichtigen Symbole, die sie sinnenfällig werden läßt, bauen sich innerhalb vorgegebener Grenzen auf, von Fahne und Wappen angefangen, über repräsentative Gebäude und eigene Baustile, Kleidungs- und Eßgewohnheiten bis hin zu → Sprache und Informationsaufnahme. Auch in Zeiten, in denen Grenzen immer leichter passierbar werden und scheinbar ihre Bedeutung verlieren, der Einfluß von → Massenmedien scheinbar ein „globales Dorf schafft, begrenzen sie nach wie vor den Interaktions- und Kommunikationszusammenhang. Heiraten hinüber und herüber sind auch im Zeitalter des europäischen Einigungsprozesses (→ Europa) selten, von Köln ist es leichter, nach Hamburg zu kommen als nach Amsterdam, und auch wenn Kehl ein Vorort von Straßburg zu sein scheint, ist die Grenze unübersehbar, in nahezu jeder Beziehung. An Grenzen entscheidet sich nach wie vor insbesondere auch, was an Ideen und Informationen durchgelassen wird.

Hans-Georg Wehling
Religiosität

Die religiöse Situation in Deutschland hat sich mit der Wiedervereinigung 1990 und durch die Migration wesentlich verändert. Das Statistische Jahrbuch 1999 weist für das Jahr 1997 rund 27,4 Mio. Mitglieder der evangelischen Kirche aus und ebenfalls rund 27,4 Mio. Katholiken. Die Zahl der Mitglieder jüdischer Gemeinden betrug im Jahre 1998 74.300. Deren Zahl ist den 90er Jahren ständig gewachsen. Über die große Zahl von Moslems in Deutschland (etwa 1,7 Mio., Stand 1987, die Zahl dürfte durch Flüchtlinge aus Bosnien und weitere türkische Zuwanderung erheblich gestiegen sein), deren Moscheen und Koranschulen gibt es keine verläßli-chen Informationen. Das, und die Tatsache, daß die amtliche Statistik ihre Daten von den Glaubensgemeinschaften selbst bezieht, deckt auf, in welche Misere die einst berühmte deutsche Konfessionsstatistik durch den Datenschutz geraten ist. Ein großer Teil der modernen Soziologie hat sich an der deutschen Konfessions-statistik entwickeln können, s. M. Weber, Durkheim, Halbwachs. Repräsentativumfragen weisen ersatzweise die Zahl der Kirchlichen und Unkirchlichen in West-und Ostdeutschland aus. Daraus ergibt sich, daß 87% der jungen Leute, also zwischen 15 und 30, konfessionell gebunden sind, wenn sie im Westen aufwuchsen. Die ostdeutschen Jugendlichen sind es nur, oder immerhin, zu 21%. Solche Mitgliedschaft heißt nicht, daß ein aktives Verhältnis zur Kirche, ein motiviertes Verhältnis zur christlichen Überlieferung besteht. Im Jahr 1995 sagten 32% der Jugendlichen im Westen, die Kirche sei ihnen gleichgültig, sie bedeute ihnen nichts.

Gerhard Schmidtchen
Republikaner/DVU

Die Republikaner (R.) wurden 1983 als nationalkonservative Abspaltung der CSU gegründet, gerieten aber schnell unter den Einfluß des rechtspopulistischen ehemaligen Journalisten Franz Schönhuber. In ihrem Parteiprogramm eng an Formulierungen des → GG ausgerichtet, waren sie in der bis Ende 1994 andauernden Schönhuber-Ara zwar „von ihrer innerparteilichen Struktur her formal demokratisch, aber nicht hinsichtlich der realen Entscheidungsprozesse“(Pfahl-Traughber 1993: 45). Kennzeichnend war vielmehr der autoritäre Führungsstil Schönhubers. Dieser steuerte die Partei gegen den Widerstand seiner beiden Mitbegründer, der CSU-Abgeordneten Franz Handlos und Eckhard Voigt, mit Hilfe nationalistischer und, wenn es opportun erschien, auch explizit ausländerfeindlicher Rhetorik auf einen ultrakonservativen Kurs. Begünstigt wurde dieser Kurswechsel, dem noch die eine oder andere programmatische Wendung folgen sollte, durch die Aufnahme pronociert rechtsextremer ehemaliger NPD-Mitglieder, von denen sich Schönhu-ber später, nach den ersten Wahlerfolgen der Partei, teilweise wieder zu trennen versuchte. Mittlerweile wird die Partei von dem Stuttgarter Arzt und Juristen Rolf Schlierer geführt, der „darauf bedacht (ist), die REP als seriöse rechtskonservative Partei darzustellen“(Verfassungsschutzbericht 1997: 97).

Jürgen W. Falter
Responsivität

Von Responsivität (R.) der politischen → Elite kann gesprochen werden, wenn sich deren Handeln im Einklang mit den Wünschen der Bevölkerung befindet. In modernen Theorien der repräsentativen → Demokratie hat sich R. als Standard zur Beurteilung des Demokratiegehaltes eines politischen Systems etabliert. In den direkt-demokratischen antiken Stadt-Staaten regierte sich der Demos durch unmittelbare Teilhabe an der Politik selbst, die Ekklesia stellte die zentrale politische Institution dar, die Freiheit der Rede in den Versammlungen das zentrale politische Recht. Als demokratischer Standard läßt sich die größtmögliche Übereinstimmung zwischen Regierenden und Regierten ansehen. In demokratischen National-Staaten der Neuzeit hingegen regiert sich der Demos durch von ihm gewählte Repräsentanten. Das Parlament (→ Parlamentarismus) ist die zentrale politische Institution, die Freiheit des Wählens in periodischen Wahlen das zentrale politische Recht. Dementsprechend kann die größtmögliche Steuerung der Regierenden durch die Regierten als demokratischer Standard angesehen werden (Fuchs 1998). An die Stelle des „government by the people“tritt „government for the people“, d.h. Regie-rung in Übereinstimmung mit den Präferenzen der Regierten (Lijphart 1984).

Frank Brettschneider
Schweigespirale/Öffentliche Meinung

1965 veröffentlichte der prominente amerikanische Politikwissenschaftler Har-wood Childs sein Buch „Public Opinion“, dessen zweites Kapitel „The Nature and History of Public Opinion“fast 50 verschiedene Definitionen des Begriffs öffentliche Meinung (öM) aufzählt. Wie war es zu einer so verwirrenden Fülle von Bedeutungen des Begriffs öM gekommen? Seit der Antike wurden öM und die Synonyme dafür im Sinn von sozialer Kontrolle gebraucht. Diese soziale Kontrolle bezieht sich auf die Sphäre des alltäglichen Lebens genauso wie auf die politische. ÖM ist ein breiter Konsensus in der Bevölkerung, dem sowohl die Regierung wie auch die einzelnen Glieder einer Gesellschaft folgen müssen. Aristoteles erklärt: Der König, der die Zustimmung des Volkes verliert, ist kein König mehr. So drücken es in wechselnder Formulierung Machiavelli und Erasmus von Rotterdam aus und besonders bündig der englische Sozialphilosoph Hume 1739: „Regierung ist allein auf Meinung gegründet; und dies trifft zu für die despotischsten und militärischsten Regierungen ebenso wie für die freiesten und populärsten“. Aber mit dem 18. Jhdt., mit dem Beginn der Aufklärung setzte eine höchst eigentümliche Sinnverschiebung, ein Bedeutungswandel des Begriffs öM, ein. Der jetzt so hoch bewertete Verstand bildete nun auch den Inhalt der öM. Die öM wurde zur Meinung der urteilsfähigen, kritisch raisonnierenden, verantwortungsbewußt der Regierung gegenübertretenden Bürger.

Elisabeth Noelle-Neumann
Soziale Gerechtigkeit

Gerechtigkeit (G.) gilt als zentraler moralischer Maßstab des sozialen Lebens (Cohen 1986), weswegen insbesondere die Sozialwissenschaften sich des Themas annehmen. Selbstverständlich erheben auch andere Disziplinen — Philosophie, Theologie und Jurisprudenz — in jeweils langen, Jahrhunderte zurückreichenden Traditionen Anspruch auf die Klärung des Begriffs, aber erst in jüngerer Zeit — ausgelöst durch Rawls‘A Theory of Justice (1972) — kommt es zwischen den verschiedenen „G.-Wissenschaften“zu einem interdisziplinären Diskurs (Müller/Wegener 1995). Man unterscheidet üblicherweise zwischen formaler G. (vornehmlich bezogen auf das Recht) und materialer G. (in Moral und Politik), aber in neueren G.-Theorien wird argumentiert, daß beide Konzepte ineinander übergehen, da rechtliche Zuweisungen von Bestrafungen nicht weniger Fragen der Verteilungs-G. aufwerfen als die auf moralischer oder politischer Stufe. In beiden Fällen geht es 1. um die Zuweisung von knappen Gütern (oder Bürden), 2. um Unparteilichkeit und 3. die Angemessenheit von Verteilungsprinzipien. Der aristotelischen Begrifflichkeit folgend wird auch von retributiver im Gegensatz zur sozialen (oder distributiven) G. gesprochen, womit gemeint ist, daß derjenige, der sich vergeht, bestraft werden muß allein wegen der Verwerflichkeit der Tat, nicht weil Bestrafung abschreckend wirkt oder andere vorteilhafte soziale Konsequenzen hat.

Bernd Wegener
Soziale Marktwirtschaft

Soziale Marktwirtschaft (SM) ist ein gesellschafts- und wirtschaftspolitisches Leitbild mit dem Ziel, „auf der Basis der Wettbewerbswirtschaft die freie Initiative mit einem gerade durch die wirtschaftliche Leistung gesicherten sozialen Fortschritt zu verbinden“(Müller-Armack 1976: 245). Vom Leitbild ist die reale Wirtschafts- und Sozialordnung zu unterscheiden, die auch in den Jahren, in denen das Leitbild zur Richtschnur der Regierungspolitik erhoben wurde — so 1949-1966 und wieder 1982 bis 1998 — den Prinzipien des Leitbildes nur annähernd entsprach (→ Geschichtliche Phasen der BRD). Auch für die reale Wirtschafts- und Sozialordnung wurde allerdings der Begriff SM üblich, anfangs vor allem bei Anhängern der Unionsparteien und der 2192 FDP, später nahezu allgemein.

Dieter Grosser
Soziale Sicherheit

Soziale Sicherheit (sS) bezeichnet den Schutz von Individuen und Gruppen durch Sozialpolitik vor wirtschaftlichem und sozialem Statusverlust in der Folge von Krankheit, Behinderung, Alter, 2192 Arbeitslosigkeit und anderen persönlichen oder kollektiven Risiken. Der Begriff ist stark normativ, weil jede konkrete Definition von Sicherheit oder Statusverlust von den jeweils zugrundeliegenden politischen Ordnungsvorstellungen, Ideologien und der pK der Verwender geprägt ist. Nur wenige andere Politikfelder werden gegenwärtig in den westlichen Demokratien so kontrovers diskutiert wie die Sozialpolitik. Vor allem die Frage, ob sS und Sozialpolitik notwendig kompensatorisch und emanzipatorisch angelegt seien (also neben dem Schutz vor Risiken immer auch die Verbesserung der Lebenssituationen von schwachen Gesellschaftsmitgliedern und/oder eine Demokratisierung der ganzen Gesellschaft anstreben müßten), ist umstritten. Ein Grund für die hohe Interpre-tierbarkeit des Begriffs besonders in Deutschland liegt in der sog. Offenen Sozialstaatsbestimmung des 2192 GG, d.h. in der Tatsache, daß das GG auf eine konkrete Auslegung des Sozialstaatsgebotes in Art. 20 und 28 verzichtet.

Sylvia Greiffenhagen
Soziale Ungleichheit/Lebenslagen

Soziale Ungleichheit (sU) existiert in allen bekannten Gesellschaften und erscheint deshalb als quasi naturgegebene Tatsache. Obwohl sie in verschiedenen Gesellschaften unterschiedliche Formen annehmen kann — beispielsweise im fast unentrinnbaren Schicksal der Kastenmitgliedschaft in der indischen Gesellschaft, der durch feste Kleidungs- und Verhaltensvorschriften gekennzeichneten Ständegesellschaft des Mittelalters oder der durch Mobilitätsvorgänge charakterisierten postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft der Gegenwart — ist sie jedoch immer eine sozial erzeugte Tatsache. Mit sU wird die für spezifische Gruppen unterschiedliche Zugangschance zu erstrebenswerten Gütern und sozialen Positionen innerhalb einer Gesellschaft beschrieben, wobei man zwischen mehreren Dimensionen sU unterscheiden kann. In der traditionellen Sozialstrukturanalyse (→ Sozialstruktur) werden neben materiellem Wohlstand und Berufsstatus vor allem Macht, Prestige und neuerdings auch → Bildung als zentrale Dimensionen sU angesehen (Hradil 1999, Kreckel 1992). Nehmen Individuen auf jeder dieser Statusdimensionen eine ähnliche Position ein, wie etwa der leitende Angestellte mit Hochschulabschluß und einem entsprechend hohen Einkommen, so spricht man von Statuskonsistenz. Immer häufiger jedoch lassen sich verschiedene Status-Kombinationen auf den unterschiedlichen Ungleichheitsdimensionen antreffen, wie beispielsweise der bekannte Taxifahrer Dr. phil. oder der Neureiche mit niedriger Bildung; in diesem Fall ist eine Statusinkonsistenz vorhanden.

Werner Georg
Sozialer Wandel/Modernisierung

Der Begriff des sozialen Wandels (sW) wurde von Ogburn (1922) in die Soziologie eingeführt, um Begriffe wie Fortschritt, Entwicklung oder Evolution abzulösen, die nicht immer als neutral anzusehen sind. SW bezieht sich dabei auf die Veränderung sozialer Strukturen und/oder sozialen Verhaltens. Die genauere Bestimmung, auf welchen Inhalt sich sW beziehen soll, legt bereits in je spezifischer Weise Ansatz, Perspektive und das mögliche Ergebnis der Analyse fest. Für jede einzelne Festle-gung ist es dann notwendig, geeignete Indikatoren zu finden, die zweifelsfrei messen, ob und in welchem Ausmaß sich die Teile einer 2192 Sozialstruktur (z.B. Schichtungsstruktur, Bevölkerungsstruktur) oder eines bestimmten Sozialverhaltens (z.B. soziale Mentalität, Wertorientierungen) gewandelt haben (2192 Wertewandel). Da sich in komplexen Gesellschaften verschiedene Lebensbereiche in unterschiedlichem Rhythmus verändern, bestehen zwischen den einzelnen Teilsystemen Spannungen (Diskontinuitäten), die eine wichtige Erklärungsgrundlage für den Ablauf sozialer Wandlungsprozesse darstellen.

Günter Wiswede
Sozialkapital/Soziales Vertrauen

Drohung oder Gewalt können Mittel sein, um bestimmte Ziele zu erreichen. Doch sind derartige Mittel meistens nicht sehr effizient, weil die gleichen Ergebnisse auch mit weniger Aufwand erreichbar wären, wenn sich die Beteiligten freiwillig einigen würden. Wenn Akteure einander vertrauen und vielseitige Kontakte miteinander unterhalten, sind Ziele mit weniger Aufwand — und zumeist auch mit weniger Ärger und Ängsten — zu erreichen als in Situationen, in denen solche Voraussetzungen fehlen. Betrachtungen dieser Art haben im Laufe der 90er Jahre starke Verbreitung gefunden, wobei die sozialen Beziehungen und das soziale Vertrauen mit dem Terminus „Sozialkapital“(social capital, S.) bezeichnet werden. Dadurch, daß die Erfüllung von Vereinbarungen nicht erzwungen werden muß, verringern sich die Informations- und Transaktionskosten. In einer Gesellschaft, in der S. vorhanden ist, werden sich die Bürger deshalb eher sozial und politisch engagieren. S. ist auf diese Weise sowohl als eine individuelle Ressource als auch als ein Kollektivgut zu betrachten. Es fördert die soziale Integration und Kohäsion der Gesellschaft und bietet auf diese Weise eine Lösung für manche Probleme: „… social capital makes us smarter, helthier, safer, richer and better able to govern a just and stable democracy“(Putnam 2000: 290).

Jan W. van Deth
Sozialstruktur

Der Begriff der Sozialstruktur (S.) gehört zu den Schlüsselbegriffen der Gesellschaftsanalyse, allerdings wird darunter sehr Unterschiedliches verstanden. Unterschiedliche Erkenntnisinteressen und Theorietraditionen haben verschiedene Konzepte der S. und verschiedene Ansätze der S.-Analyse hervorgebracht, die unterschiedliche Kernbereiche der Gesellschaft in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit rücken. Bei der Analyse moderner Gesellschaften lassen sich mindestens die fünf folgenden Konzepte und Ansätze auseinanderhalten: Vertreter der struktur-funktionalistischen Theorie sehen das Gefüge sozialer Rollen und Institutionen als den Kern der S. an. Sozialstatistisch orientierte Analysen verstehen darunter die Grundgliederung der Bevölkerung nach sozialstatistischen Merkmalen wie z.B. Einkommen, Beruf, Bildung, Geschlecht oder Alter. Schichtungs- und Klassentheoretiker sowie Ungleichheitsforscher setzen S.-Analyse mit der Untersuchung von Schichten und Klassen bzw. der weitergefaßten Struktur der → sozialen Ungleichheit gleich; ungleiche Lebensbedingungen und damit zusammenhängende ungleiche Lebenschancen stehen im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit (Hradil 1987; Kreckel 1992; Geißler 1994). Die neuere kulturalistische Vielfaltsforschung (Milieu-und Lebensstilanalysen; → Milieus/Lebensstile) richtet ihr Hauptaugenmerk auf die Pluralität im kulturellen Bereich, auf die Vielfalt der Lebensziele, Werte, Geschmacksrichtungen, Lebensäußerungen und Verhaltensweisen.

Rainer Geißler
SPD

Die SPD leitet ihren Ursprung vom Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein, 1863 von Ferdinand Lassalle gegründet, und der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, von Bebel und Liebknecht 1869 errichtet, her, die sich 1875 zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands zusammenschlossen. Prägend für die Partei war die traumatische Erfahrung staatlicher Verfolgung und gesellschaftlicher Ausgrenzung sowie Diffamierung unter dem Sozialistengesetz (1878–1890). Diese Jahre hinterließen tiefe Spuren in der Sozialdemokratie, sie prägten ihr Selbstverständnis und ihre Praxis: 1.Der Staat wurde als „Klassenfeind“, als feindliche Macht gegenüber der Arbeiterschaft erfahren. Die positive Einschätzung des Staates und seiner Rolle bei der Emanzipation des Proletariats, wie sie von den Lassalleanern vertreten worden war, wich der Theorie einer negativen Interpretation, ein vereinfachter Marxismus hielt als Integrationsideologie Einzug. Durch den Klassenkampf von oben und von Staats wegen wurde das, was in der marxistischen Theorie an Erklärung angeboten wurde, als Realität erfahren. Unter dem Sozialistengesetz wurde die Sozialdemokratie in ihrem Selbstverständnis erst richtig (vulgär)marxistisch, revolutionär, internationalistisch, antiklerikal, antimonarchistisch und antipreußisch.2.Parteiorganisationen und freie → Gewerkschaften, offiziell verboten, wichen in private Vereine aus, verbargen sich hinter dem unpolitischen Etikett von Gesang-, Rauch- oder Sportvereinen. Hier wurde das Fundament für das Organisationsnetzwerk gelegt, das die spätere Solidargemeinschaft ausmachte.3.Da man weiter an Wahlen teilnehmen und im Parlament mitarbeiten konnte, richtete in der politischen Praxis die Sozialdemokratie ihren Fokus auf Wahlkampf und parlamentarische Tätigkeit, was genau der Lassalleanischen Tradition entsprach und theoretisch im Gegensatz zum Vulgärmarxismus gesehen werden muß. Trotz oder vielleicht auch wegen der Verfolgung gewannen die Sozialdemokraten Anhänger, die Stimmen bei den Reichstagswahlen stiegen kontinuierlich: 1881 312.000, 1887 763.000 und 1890 fast 1,5 Millionen.4.Unter dem Sozialistengesetz wurde die Sozialdemokratie überhaupt erst zu einer Partei, die reichsweit Industriearbeiter organisierte und repräsentierte.

Peter Lösche
Sprache

Es gehört zur Eigenart von Politik, daß politisches Handeln zumeist sprachliches Handeln ist: informieren, kommunizieren, konstruieren, instruieren, deliberieren, protestieren, legitimieren. Selbst gewaltsame Politik legitimiert sich oft noch mit großen Worten. Es gehört zur Eigenart von Sprache (S.), daß das Gesagte auch ganz anders gesagt werden kann, denn S. läßt strukturell die Freiheit, Zeichen und Bezeichnetes, Worte und Bedeutungen unterschiedlich zuzuordnen. Beides zusammen führt zu der verbreiteten Vermutung, daß wer die S. beherrscht, auch die Menschen beherrscht (Schelsky), aber auch zu dem Generalverdacht, daß S. nur als schöner Schein zur manipulativen Beeinflussung der Bürger diene. Dagegen ist die prinzipielle Ambivalenz von S. zu unterstreichen: die mögliche Wirkung von S. ist nicht nur beherrschend, täuschend und verletzend, sondern auch das Gegenteil: befreiend, aufklärend und versöhnend.

K. Peter Fritzsche
Transition/Transformation

Politischer Systemwandel im Sinne des Übergangs von einer demokratischen zu einer nichtdemokratischen bzw. von einer nichtdemokratischen zu einer demokratischen politischen Institutionenoption hat seit jeher das Interesse der Politikwissenschaft geweckt. Allerdings haben solche Übergänge nicht gerade häufig stattgefunden. Dies mag mit ein Grund dafür sein, daß sich die politikwissenschaftliche Forschung mit dem Versuch, in solchen Transitionen (T.) gemeinsame Gesetzmäßigkeiten zu identifizieren, bislang nicht gerade leicht getan hat.

Max Kaase
Verbände

Ganz allgemein läßt sich feststellen, daß die Deutschen organisations freudig sind. Jeder zweite Erwachsene (57% d. Bevölkerung ab 18 Jahren) ist Mitglied in einem → Verein bzw. Verband (V.), wobei die → Freizeit-Interessen an erster Stelle stehen, während die politisch relevanten V. deutlich weniger Mitglieder zählen (Gewerkschaften: 16%; Berufs-V., Wirtschafts-V., Wohlfahrts-V. u. Geschädigten-V.: je 3%; Flüchtlings-V., Bürgerintitiativen: je 1%; zum Vergleich: 3% sind Mitglieder einer politischen Partei). Für Gesamtdeutschland wird die Zahl der Vereinsmitglieder (ohne Doppelmitgliedschaften) auf 38 Millionen geschätzt. Ein wesentlicher Einfluß der → Parteiidentifikation auf die Organisationsbereitschaft ist nicht zu erkennen, wenn gleich → FDP-Wähler und die Wähler der „Grünen“weniger Personen in ihren Reihen haben, die keinerlei Mitgliedschaft aufweisen (38% bzw. 39%) als Wähler der → SPD (41%) und der → CDU/CSU (43%). Der Anteil der → Frauen an den Nichtorganisierten ist mit 70% auffällig hoch, und wer keinen Beruf ausübt, ist auch überdurchschnittlich häufig (54%) nirgends organisiert (Nationaler Sozialer Survey 1980).

Jürgen Weber
Vereine

Laut deutschem GG ist die Vereinigungsfreiheit verbrieftes Grundrecht (GG Art 9, Abs.1). Aus juristischer Sicht umfasst das deutsche Vereinswesen wirtschaftliche, ideelle, nichtrechtsfähige und rechtsfähige (oder eingetragene) Vereine (V.). Der wirtschaftliche V. — zahlenmäßig allerdings eher zu vernachlässigen — richtet seinen „Zweck auf einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb“(BGB §§ 22). Wirtschaftliche V. sind unternehmerisch am Markt aktiv, um für sich und ihre Mitglieder finanzielle Vorteile zu erlangen. Die große Masse der V., vom Kegelclub, Männerge-sangs-V., Fußball-V. bis hin zur Bürgerinitiative und dem Wohltätigkeits-V. sind ideelle V., „deren Zweck nicht auf einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb gerichtet ist“(BGB §§ 21). Als ideell gilt eine große Auswahl unterschiedlichster Anliegen: Sport, Kultur, Wissenschaft, Kunst, Soziales, Wohlfahrt, Religion, Kirche und Politik. Ideelle V. als sogenannte Nonprofit-Organisationen können rechtsfähig oder nichtrechtsfähig sein. Mit dem Eintrag ins V.-Register (durch mindestens sieben Gründungsmitglieder) wird der V. zur „juristischen Person“. Der e.V. ist befugt, Verträge abzuschließen, Mitarbeiter anzustellen, Räumlichkeiten zu mieten oder zu kaufen. Es haftet der V. und nicht das einzelne Mitglied. V. sind prinzipiell steuerpflichtig. Ausgenommen sind nur V., die vom zuständigen Finanzamt als gemeinnützig anerkannt sind, da sie laut Satzung gemeinnützige, mildtätige oder kirchliche Zwecke verfolgen (Abgabenordnung §§ 52, 53; Zimmer 1996). Ähnliche Regelungen und Schutzbestimmungen sind in allen demokratischen Verfassungen zu finden.

Sigrid Roßteutscher
Verfassungsgerichtsbarkeit

Eine der historisch und strukturell folgenreichsten Ausdifferenzierungen des nach 1945 formell entnazifizierten, seither rechts staatlich-demokratisch legitimierten Rechtssystems der BRD stellt ohne Zweifel die Verfassungsgerichtsbarkeit (V.) (im Bund und in den Ländern) dar. Gemeinhin gilt sie sogar als die Vollendung des entwickelten, demokratisierten Verfassungsstaates (→ Rechtsstaat), der wesentlich darin zur Entfaltung kommt, daß in ihm der „gerichtliche Schutz“der Verfassung materiell gewährleistet und — infolge der dieser zugeschriebenen prinzipiellen Vor-und Überordnung — auch kompetenz- und verfahrensmäßig garantiert, d.h. auf Dauer gestellt ist. Insoweit hat die V. das der Verfassung gemäße Funktionieren staatlichen Handelns im Verfassungsrechtskreis, d.h. im konfliktträchtigen öffentlich-rechtlichen Beziehungsgeflecht zwischen politischen Akteuren und Machtadressaten, sicherzustellen (→ Demokratie, GG).

Otwin Massing
Verwaltungskultur

Verwaltungskultur (Vk) wird sozialwissenschaftlich in mindestens drei unterschiedlichen Perspektiven erforscht; diese können allerdings durchaus identische Gegenstände von verschiedenen Seiten beleuchten. 1Vk gilt als institutionenspezifischer Ausschnitt der pK, thematisiert also die Perzeption, Attitüden und Erwartungen, welche die Gesamtbevölkerung auf den Gegenstandsbereich Verwaltung (V.) richtet. Dieser Sicht widerspricht es nicht, wenn zugleich die Teilpopulation der in der V. Beschäftigten auf ihren Anteil an der pK eines Landes hin untersucht wird; damit wird nur eine ergänzende Binnen-perspektive geliefert.2Vk kann — ähnlich wie „policy style“— besonders in der vergleichenden Forschung zur Identifikation unterschiedlicher Politikverläufe in gleichen Politikfeldern verwendet werden. Hier wirkt die Unterstellung, daß unterschiedliche institutionelle Tradition (z.B. Verrechtlichung, aber auch Leitbilder des → öffentlichen Dienstes, Routinen der Problemlösung usw.) vorherbestimmen, wie in verschiedenen politischen Systemen mit vergleichbaren Aufgaben unterschiedlich verfahren wird. Die vergleichende Erforschung von → Rechtskultur ist eine verwandte Fragestellung.3In Abwendung von den beiden anderen Varianten kann das Thema von einer gesamtsystemischen Betrachtung auf eine soziologische Meso-Ebene verlagert werden. Vk erscheint dann als Organisationskultur, genauer: einzelne V.-Orga-nisationen werden als Kulturen gefaßt. Die Organisation ist dann das Ensemble der Deutungen und Perzeptionen der Mitglieder oder die Manifestation von kulturellen Praktiken, Symbolismen, Mythen usw. Diese Ansätze werden mit vielfältigen soziologischen Theorien unterlegt, die i.d.R. eine Präferenz für qualitative Forschungsmethoden eint (zu weiteren Differenzierungen: Römer-Hillebrecht 1998). Der letzte Ansatz eignet sich vor allem dafür, allzu schwungvollen Generalisierungen ein Gegengewicht durch Fallstudien zu setzen. Die beiden anderen Varianten können sich auf derselben Analyseebene ergänzen.

Rainer Prätorius
Wahlen/Wähler

Eine Wahl (W.) ist ein Verfahren zur Ermittlung eines Amtsinhabers aus den Stimmabgaben mehrerer W.-Berechtigter. Die an der W. teilnehmenden W.-Berechtigten sind die Wähler. In Demokratien werden politische Amtsinhaber dadurch zur Ausübung von Herrschaft legitimiert, daß/sie ihr Amt direkt oder indirekt auf eine W. durch das Volk zurückführen können. So wird in der Bundesrepublik der Bundespräsident durch die Bundesversammlung gewählt, deren Mitglieder entweder direkt durch das Volk gewählt wurden (dies sind die Bundestagsabgeordneten) oder indirekt (dies sind die Mitglieder der Bundesversammlung, die von den Landtagen gewählt wurden). In parlamentarischen Systemen (→ Parlamentarismus) ist die wichtigste W. diejenige zur Bestimmung der Mitglieder des Parlaments, in präsidentiellen und semipräsidentiellen Systemen tritt dazu die Volks-W. des Präsidenten als weitere, je nach Verfassung eventuell sogar wichtigere W.

Franz Urban Pappi
Wertewandel

Von einem „Wandel“der Werte (Wertewandel, Ww) zu sprechen, fiel angesichts der philosophischen Tradition, in welcher der Begriff „Wert“(Wert/Werte — W.) über Jahrtausende verortet war, nicht leicht. Von Plato („Höhlengleichnis“) bis zu Scheler wurde davon ausgegangen, daß W. etwas Feststehendes, ontologisch Überdauerndes seien und daß es möglich sei, mit philosophischen Mitteln den Durchbruch zu ihrer Erkenntnis zu vollziehen. Die Aufgabe, den Zugang zu den „ewigen W.“zu vermitteln, wurde verschiedentlich geradezu als eine Hauptaufgabe der Philosophie verstanden. Es war demgegenüber eine Revolution von großer Tragweite, als sich die Kulturanthropologie des 20Jhdts. dazu entschloß, den W.-Begriff dem „Kultur“-Begriff zuzuordnen und davon auszugehen, daß W. normative Grundelemente von Kulturen seien, die nach vorliegenden Forschungsergebnissen ganz offensichtlich grundsätzlich im Plural zu denken seien, weil sie sich typischerweise von Gesellschaft zu Gesellschaft unterscheiden. In diesem Sinne sprach z.B. Benedict von „Patterns of Culture“, wobei sie auf ethnologischen Erkenntnissen über Stammesgesellschaften aufbaute. Die in diesen Gesellschaften vorhandenen W.-Strukturen unterschieden sich, ihren Beobachtungen zufolge, dermaßen radikal, daß sich kein einziger W. auffinden ließ, der nicht in einer anderen Gesellschaft als Un-W. angesehen wurde.

Helmut Klages
Wohlfahrtsstaat

Der Wohlfahrtsstaat (W.) kann funktional definiert werden als diejenigen staatlichen Interventionen und Maßnahmen, die die Realisierung von sozio-ökonomi-scher Sicherheit und sozio-ökonomischer Gleichheit (→ Soziale Sicherheit, Soziale Ungleichheit/Lebenslagen) zum Ziel haben. Dabei lassen sich drei Komplexe unterscheiden: die Absicherung des Einkommens in Risikofallen wie Krankheit, Alter, Invalidität und → Arbeitslosigkeit; die Gewährleistung personenbezogener Dienstleistungen vor allem in den Bereichen Gesundheit, → Bildung und Sozialwesen sowie die Regulierung des Arbeitsmarktes über Schutzgesetze (z.B. Min-destlohn) und über wirtschafts- und finanzpolitische Maßnahmen (z.B. Arbeitsbeschaffungsprogramme). Der W. ist ein gemeinsames Strukturmerkmal aller entwickelten demokratischen Industriegesellschaften. In Abhängigkeit von nationalen → Ideologien, kollektiven Akteuren und Institutionen haben sich in diesen Ländern aber verschiedene wohlfahrtsstaatliche Regime herausgebildet. Drei wohlfahrtsstaatliche Regime-Typen können unterschieden werden (Esping-Andersen 1990): der liberale Typus (z.B. USA), der konservative Typus (z.B. Deutschland) und der sozialdemokratische Typus (z.B. Schweden). Der Begriff des W. (als Übersetzung des international gebräuchlichen angelsächsischen Begriffs „welfare state“) wird in der deutschen sozialwissenschaftlichen Literatur mehrheitlich synonym mit dem Begriff des Sozialstaats verwendet. Dagegen steht im Alltagsverständnis der Begriff des Sozialstaats eher für einen limitierten und der des W. eher für einen extensiven Umfang sozialpolitischer Interventionen und Maßnahmen.

Edeltraud Roller
Backmatter
Metadaten
Titel
Handwörterbuch zur politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland
herausgegeben von
Martin Greiffenhagen, Prof. Dr.
Sylvia Greiffenhagen, Prof. Dr.
Katja Neller, M.A.
Copyright-Jahr
2002
Verlag
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-322-80358-0
Print ISBN
978-3-322-80359-7
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-322-80358-0